Die nicht wahrgenommenen „Reichsbürger“
Die Aufhellung der Aktivitäten der freien extrem rechten Gruppen der 1970er- und 1980er-Jahre, die sich nach dem Bedeutungsverlust der NPD in Folge des missglückten Einzug in den Bundestag 1969 bildeten, ist dagegen noch an ihrem Anfang. Dabei werden Details erst nach und nach gesehen, analysiert und in das Bild der fragmentierten Szene eingebaut. So ein Beispiel ist Manfred Roeder. Über ihn ist bereits viel geschrieben worden: extrem rechter Jurist, „Anti-Porno-Anwalt“, Rechtsterrorist, Holocaustleugner. Weniger bekannt sind dagegen seine gedanklichen und organisatorischen Beiträge für die Formierung der „Reichsbürger“. Spätestens im Juni 1971 nannte er eine von ihm maßgeblich gegründete Gruppierung in „Deutsche Bürgerinitiative“ um und organisierte mit ihr zunächst Kampagnen gegen die Ostpolitik Willy Brandts. Er lernte spätestens 1972 Thies Christophersen kennen, einen pensionierten Bauern und ehemaligen SS-Wachmann. Christophersen schrieb 1973 die programmatische Broschüre „Die Auschwitz-Lüge“ und legte damit für Jahrzehnte die „Bibel“ für Holocaustleugner aller Couleur vor. Er galt als Kronzeuge für die vermeintliche Lüge, er behauptete steif und fest, in Auschwitz hätte es keine Massenvergasungen gegeben. Korrekterweise war er allerdings in einer Pflanzenversuchsanstalt weit außerhalb der Hauptlager Auschwitz und Birkenau im Dienst, in der bessere Haftbedingungen und dennoch Drill, Gewalt und Zwangsarbeit vorherrschten. Roeder und Christophersen organisierten für den 23. Mai 1975 einen „Reichstag zu Flensburg“, mit dem sie an die Verhaftung der von ihnen verehrten letzten deutschen Reichsregierung unter Admiral Karl Dönitz erinnern wollten. Gleichzeitig nahmen sie Kontakt zu dem nun greisen Dönitz auf und versuchten ihn zu überzeugen, öffentlich zu erklären, er wäre immer noch im Amt und das Deutsche Reich würde unter alliierter Besatzung weiterhin fortbestehen.
Der geplante Fackelzug und die Festveranstaltung im Deutschen Haus in Flensburg wurden bei Bekanntwerden verboten, die beiden Akteure bekamen für die damalige Zeit verhältnismäßig hohe Strafen für diese Aktion. Ein Indiz dafür, dass die zeitgenössisch eigentlich sehr gemäßigt mit extrem rechten Akteur:innen ins Gericht gehende Justiz diese Aktivitäten durchaus ernster nahm als die Öffentlichkeit. Roeder und Christophersen wichen mit ihrem „Reichstag“ nach Padborg aus, kurz hinter der deutsch-dänischen Grenze, und versuchten dort ihre Festveranstaltung in einem Gasthof durchzuführen. Vor ein paar Dutzend Getreuen hielt Roeder die Festansprache und sagte – dank eines damals wohl leider unveröffentlichten Mitschnitts zweier NDR-Journalisten wissen wir dies: „Und deshalb finden wir uns hier zusammen als freie deutsche Reichsbürger.“ Die Versammlung wurde wenige Minuten später vom dänischen Wirt gestoppt. Die Gruppe musste erneut ein Ausweichquartier beziehen, diesmal den Hof eines Getreuen im Kreis Schleswig-Flensburg, um dort ihre Versammlung zu beenden. In einer mit schwarz-weiß-roten Fahnen geschmückten Scheune wurde die „Freiheitsbewegung Deutsches Reich“ (FDR) gegründet, Roeder zu deren Sprecher ernannt und beschlossen, dass der „Reichstag“ nun jährlich stattfinden solle. Wie oft sich die Gruppe danach noch traf, ist bislang nicht abschließend geklärt. Die Aktivitäten der FDR kamen wohl zum Erliegen, als Röder am 1. September 1980 nach mehrtätiger Flucht infolge eines von ihm mitverübten Brandanschlags auf eine Hamburger Asylunterkunft von der Polizei festgenommen wurde.
Organisatorisch war der gescheiterte „Reichstag zu Flensburg“ zwar ein Desaster, ideologisch bereitete er jedoch das Feld für viele Gruppen, die nach ihm kamen. „Reichsbürger“ formulieren positive Bezüge zum „Kaiserreich“ oder auch zum „Dritten Reich“, wollen sich oder Getreue an die Stelle des 1918 abgedankten Kaisers oder des 1980 verstorbenen Dönitz setzen. Die Frage, ob auf dieses oder jenes Reich Bezug genommen wird, ist dabei nicht zentral, sondern die politischen Ziele und die ideologischen Grundüberzeugungen, die von den Gruppen vertreten werden. Sie bestehen allzu oft in aggressivem Antisemitismus und Variationen des Rassismus.
Sebastian Lotto-Kusche
Literatur:
Gideon Botsch, Warten auf den Tag X. Radikaler Nationalismus und extreme Rechte 1949–1989, in: Elke Seefried (Hrsg.), Politische Zukünfte im 20. Jahrhundert. Parteien, Bewegungen, Umbrüche, Frankfurt am Main/New York 2022, S. 193–213
Dominik Rigoll/Laura Haßler, Forschungen und Quellen zur deutschen Rechten. Teil 1: Ansätze und Akteur*innen, in: Archiv für Sozialgeschichte 61, 2021, S. 569–611.
Sebastian Lotto-Kusche, Der „Reichstag zu Flensburg“ am 23. Mai 1975. Wendepunkt der extremen Rechten und selbst ernannter „Reichsbürger“ zur Delegitimierung der Bundesrepublik, in: Archiv für Sozialgeschichte 63, 2023, S. 143-172.
Jan Rathje, Reichsbürger, Selbstverwalter und Souveränisten. Vom Wahn des bedrohten Deutschen, Münster 2017.
Gabriel D. Rosenfeld, Das Vierte Reich. Der lange Schatten des Nationalsozialismus, Darmstadt 2020.
Christoph Schönberger/Sophie Schönberger (Hrsg.), Die Reichsbürger. Verfassungsfeinde zwischen Staatsverweigerung und Verschwörungstheorie, Frankfurt am Main/New York 2020.
Andreas Speit, Reichsbürger – eine facettenreiche, gefährliche Bewegung, in: ders. (Hrsg.), Reichsbürger. Die unterschätzte Gefahr, Berlin 2017, S. 7–21.