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„Reichsbürger“ – ein scheinbar neues Phänomen mit langer Vorgeschichte

Die Wurzeln der sogenannten Reichsbürger, die aktuell vor Gericht stehen, reichen weit zurück. Schon unmittelbar nach dem Ende des Nationalsozialismus wurden rechte Gruppen aktiv, die eine Rückkehr zum „Reich“ als Ziel erhoben. Ein Gastbeitrag von Sebastian Lotto-Kusche.

Am 18. Juni 2024 beginnt vor dem Oberlandesgericht München der dritte Prozess gegen die „Patriotische Union“, eine diffuse Gruppe aus ganz verschiedenen Gesellschaftsbereichen um Heinrich XIII. Prinz Reuß, dem mutmaßlichen Rädelsführer. Ihnen wird vorgeworfen, eine terroristische Vereinigung mit dem Ziel gegründet zu haben, die Bundesrepublik Deutschland mit militärischen Mitteln zu beseitigen. Ein militärischer Arm, der in Einzelfällen bereits bewaffnete „Heimatschutzkompanien“ aufgestellt hatte, war dafür vorgesehen, Politiker:innen zu verhaften oder zu liquidieren. Anstelle des verhassten Staates sollte ein wiedererrichtetes „Deutsches Reich“ in den Grenzen von 1871 stehen. Die Frage, welche Ideologien diese Gruppe zu diesen Taten motivierte, werden erst die laufenden Prozesse ausführlich ausleuchten. Sie werden allerdings Jahre dauern.

Historische Wurzeln und Vorbilder

Ein Blick in die Geschichte der Bundesrepublik seit 1949 erhellt positive Bezugnahmen von extrem rechten Parteien und Gruppierungen auf das gerade untergegangene „Dritte Reich“ bzw. auf ein neu zu schaffendes „Viertes Reich“. Als designierter Nachfolger Adolf Hitlers beschwor Karl Dönitz mit seiner „letzten Reichsregierung“ noch im Mai 1945 das Fortbestehen der Volksgemeinschaft. In der direkten Nachkriegszeit verhinderten die Alliierten Umsturzpläne von ehemaligen Kadern des NS-Staates. Der bekannteste war die „Organisation Werwolf“, kaum noch im Gedächtnis sind dagegen die „Hitlerjugend-Verschwörer“ und die Gruppe „Deutsche Revolution“. Zusammen mit einigen ehemaligen NS-Funktionären unternahm der Verleger Friedrich Middelhauve einen Unterwanderungsversuch des nordrhein-westfälischen FDP-Landesverbands. Er wurde zum Landesvorsitzenden gewählt und setzte im Landesprogramm durch, dass in der Präambel das „Deutsche Reich“ als überlieferte Lebensform der Deutschen stand. Die britischen Besatzungsbehörden verhafteten die Gruppe im Januar 1953 und verhinderten somit eine weitere Ausbreitung.

Die 1949 von Fritz Dorls und Otto Remer gegründete Sozialistische Reichspartei (SRP) wuchs auf 10.000 Mitglieder an und konnte bei Landtagswahlen teilweise zweistellige Ergebnisse einfahren. Zentraler Programmpunkt der Partei war die Wiedererrichtung des Deutschen Reiches, Karl Dönitz wurde noch immer als Staatsoberhaupt betrachtet. Der Ordnerdienst der Partei hieß folglich „Reichsfront“, die Parteipresse unter anderem „Deutsche Reichszeitung“ und die Parteiflagge war in den Farben schwarz-weiß-rot gestaltet. Nach dem Verbot der SRP 1951 versuchte die Deutsche Reichspartei (DRP) an Erfolg und Programmatik anzuknüpfen. Sie ging allerdings relativ schnell wieder unter und wurde von der noch bürgerlicher auftretenden National-Demokratischen Partei (NPD) abgelöst. Im Laufe der 1960er-Jahre gelang der NPD der Einzug in mehrere Landesparlamente, unter ihren Mitgliedern war die Idee vom „Reich“ weiterhin virulent. Noch im Jahr 2000 sagte der langjährige Parteivorsitzende (1996–2011) Udo Voigt: „Das Reich ist unser Ziel, die NPD ist unser Weg.“ Unter Voigt erlebte die Partei eine zweite Hochphase, insbesondere in Ostdeutschland.

Disziplinäre Blicke und Gefährlichkeit der Szene

Die Geschichtswissenschaft hat sich lange Zeit nicht mit dem scheinbar neuen Phänomen „Reichsbürger“ beschäftigt, auch weil die Forschungen zur Geschichte der extremen Rechten in der Bundesrepublik nach 1945 erst in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus gerieten. Der Forschungsstand dazu ist fragmentiert, zwar durchaus umfangreich, jedoch werden frühe Arbeiten oft kaum rezipiert. Lange haben Radikalismus- und Extremismusforschende die Deutungshoheit über dieses Thema für sich beansprucht. Erneuerte Versuche aus der Geschichts- und Politikwissenschaft nutzen dagegen die Begriffe und Theorien der Nationalismusforschung, um das extrem rechte Spektrum zu fassen. Dominik Rigoll und Laura Haßler sehen in Anlehnung an Gideon Botsch den Nationalismus als sehr zerstrittene Bewegung, die sich grob aufsplitten lässt in „partielle Nationalisten“, die „nur“ eine Rekonfiguration der wirtschaftlichen und staatlichen Ordnung anstreben, und in „integrale Nationalisten“, die zusätzlich die gesamte Bevölkerung rassistisch umformen wollen. Sich als „Reichsbürger“ bezeichnende Personen beziehen sich bewusst oder unbewusst, intendiert oder in Kauf nehmend auch auf das nationalsozialistische Staatsbürgerschaftsrecht, in dem die „Reichsbürgerschaft“ als exklusive Kategorie erfunden wurde, zu der „Fremdvölkischen“, insbesondere Juden, nie gehören konnten und sollten.

Die „Reichsbürger“, „Selbstverwalter“ oder auch „Souveränisten“ werden leider noch zu oft, insbesondere von juristisch Forschenden, mit allzu starrem staatsrechtlichem Blick unter die Lupe genommen. Sodann wird konstatiert, dass diese Gruppen vordergründig nur auf dem formalen Fortbestand des „Dritten Reiches“ oder des Deutschen Kaiserreichs beharren würden und sich deshalb bemüßigt fühlen würden, eine „Übergangsregierung“ für die geschassten Systeme zu installieren. Oft wird in dieser Interpretationslinie als erster „Reichsbürger“ Wolfgang Ebel herangezogen, der sich am 12. September 1985 selbst zum „Generalbevollmächtigten des Deutschen Reiches“ erklärte. Vorausgegangen war bei ihm ein Arbeitsplatzverlust, der zu Frust und später zu diagnostiziertem Wahnsinn führte. Fortan spielte er „Reichsregierung“, nervte Behörden mit massenhaft versandten Fantasiedokumenten und weigerte sich, Steuern zu zahlen. Ihn nahmen sich tatsächlich einige sich als „Reichsbürger“ bezeichnende Personen zum Vorbild, die man eher als „Selbstverwalter“ bezeichnen müsste. Doch der Blick auf das formale Handeln reicht nicht aus, um das Spektrum angemessen zu beschreiben. Von den wenigen Expert:innen in der Politikwissenschaft wird dagegen immer klarer herausgearbeitet, dass die „Reichsbürger“ weit mehrheitlich in das Spektrum der extremen Rechten eingeordnet werden müssen. Auch wenn die Ideologien, Organisationsformen und Praktiken sehr divergieren, vertreten viele Gruppen offen antisemitische Überzeugungen. Eine weitere Gemeinsamkeit – unter der sich im Zweifelsfall auch viele versammeln können – ist die Ablehnung der Bundesrepublik als illegitimen Staat, der die vermeintliche Lebensgrundlage im völkischen Sinne durch Migration aufs Spiel setzt, wie das folgende Beispiel zeigen soll.

Die nicht wahrgenommenen „Reichsbürger“

Die Aufhellung der Aktivitäten der freien extrem rechten Gruppen der 1970er- und 1980er-Jahre, die sich nach dem Bedeutungsverlust der NPD in Folge des missglückten Einzug in den Bundestag 1969 bildeten, ist dagegen noch an ihrem Anfang. Dabei werden Details erst nach und nach gesehen, analysiert und in das Bild der fragmentierten Szene eingebaut. So ein Beispiel ist Manfred Roeder. Über ihn ist bereits viel geschrieben worden: extrem rechter Jurist, „Anti-Porno-Anwalt“, Rechtsterrorist, Holocaustleugner. Weniger bekannt sind dagegen seine gedanklichen und organisatorischen Beiträge für die Formierung der „Reichsbürger“. Spätestens im Juni 1971 nannte er eine von ihm maßgeblich gegründete Gruppierung in „Deutsche Bürgerinitiative“ um und organisierte mit ihr zunächst Kampagnen gegen die Ostpolitik Willy Brandts. Er lernte spätestens 1972 Thies Christophersen kennen, einen pensionierten Bauern und ehemaligen SS-Wachmann. Christophersen schrieb 1973 die programmatische Broschüre „Die Auschwitz-Lüge“ und legte damit für Jahrzehnte die „Bibel“ für Holocaustleugner aller Couleur vor. Er galt als Kronzeuge für die vermeintliche Lüge, er behauptete steif und fest, in Auschwitz hätte es keine Massenvergasungen gegeben. Korrekterweise war er allerdings in einer Pflanzenversuchsanstalt weit außerhalb der Hauptlager Auschwitz und Birkenau im Dienst, in der bessere Haftbedingungen und dennoch Drill, Gewalt und Zwangsarbeit vorherrschten. Roeder und Christophersen organisierten für den 23. Mai 1975 einen „Reichstag zu Flensburg“, mit dem sie an die Verhaftung der von ihnen verehrten letzten deutschen Reichsregierung unter Admiral Karl Dönitz erinnern wollten. Gleichzeitig nahmen sie Kontakt zu dem nun greisen Dönitz auf und versuchten ihn zu überzeugen, öffentlich zu erklären, er wäre immer noch im Amt und das Deutsche Reich würde unter alliierter Besatzung weiterhin fortbestehen.

Der geplante Fackelzug und die Festveranstaltung im Deutschen Haus in Flensburg wurden bei Bekanntwerden verboten, die beiden Akteure bekamen für die damalige Zeit verhältnismäßig hohe Strafen für diese Aktion. Ein Indiz dafür, dass die zeitgenössisch eigentlich sehr gemäßigt mit extrem rechten Akteur:innen ins Gericht gehende Justiz diese Aktivitäten durchaus ernster nahm als die Öffentlichkeit. Roeder und Christophersen wichen mit ihrem „Reichstag“ nach Padborg aus, kurz hinter der deutsch-dänischen Grenze, und versuchten dort ihre Festveranstaltung in einem Gasthof durchzuführen. Vor ein paar Dutzend Getreuen hielt Roeder die Festansprache und sagte – dank eines damals wohl leider unveröffentlichten Mitschnitts zweier NDR-Journalisten wissen wir dies: „Und deshalb finden wir uns hier zusammen als freie deutsche Reichsbürger.“ Die Versammlung wurde wenige Minuten später vom dänischen Wirt gestoppt. Die Gruppe musste erneut ein Ausweichquartier beziehen, diesmal den Hof eines Getreuen im Kreis Schleswig-Flensburg, um dort ihre Versammlung zu beenden. In einer mit schwarz-weiß-roten Fahnen geschmückten Scheune wurde die „Freiheitsbewegung Deutsches Reich“ (FDR) gegründet, Roeder zu deren Sprecher ernannt und beschlossen, dass der „Reichstag“ nun jährlich stattfinden solle. Wie oft sich die Gruppe danach noch traf, ist bislang nicht abschließend geklärt. Die Aktivitäten der FDR kamen wohl zum Erliegen, als Röder am 1. September 1980 nach mehrtätiger Flucht infolge eines von ihm mitverübten Brandanschlags auf eine Hamburger Asylunterkunft von der Polizei festgenommen wurde.

Organisatorisch war der gescheiterte „Reichstag zu Flensburg“ zwar ein Desaster, ideologisch bereitete er jedoch das Feld für viele Gruppen, die nach ihm kamen. „Reichsbürger“ formulieren positive Bezüge zum „Kaiserreich“ oder auch zum „Dritten Reich“, wollen sich oder Getreue an die Stelle des 1918 abgedankten Kaisers oder des 1980 verstorbenen Dönitz setzen. Die Frage, ob auf dieses oder jenes Reich Bezug genommen wird, ist dabei nicht zentral, sondern die politischen Ziele und die ideologischen Grundüberzeugungen, die von den Gruppen vertreten werden. Sie bestehen allzu oft in aggressivem Antisemitismus und Variationen des Rassismus.

Sebastian Lotto-Kusche

Literatur:

 

Gideon Botsch, Warten auf den Tag X. Radikaler Nationalismus und extreme Rechte 1949–1989, in: Elke Seefried (Hrsg.), Politische Zukünfte im 20. Jahrhundert. Parteien, Bewegungen, Umbrüche, Frankfurt am Main/New York 2022, S. 193–213

Dominik Rigoll/Laura Haßler, Forschungen und Quellen zur deutschen Rechten. Teil 1: Ansätze und Akteur*innen, in: Archiv für Sozialgeschichte 61, 2021, S. 569–611.

Sebastian Lotto-Kusche, Der „Reichstag zu Flensburg“ am 23. Mai 1975. Wendepunkt der extremen Rechten und selbst ernannter „Reichsbürger“ zur Delegitimierung der Bundesrepublik, in: Archiv für Sozialgeschichte 63, 2023, S. 143-172.

Jan Rathje, Reichsbürger, Selbstverwalter und Souveränisten. Vom Wahn des bedrohten Deutschen, Münster 2017.

Gabriel D. Rosenfeld, Das Vierte Reich. Der lange Schatten des Nationalsozialismus, Darmstadt 2020.

Christoph Schönberger/Sophie Schönberger (Hrsg.), Die Reichsbürger. Verfassungsfeinde zwischen Staatsverweigerung und Verschwörungstheorie, Frankfurt am Main/New York 2020.

Andreas Speit, Reichsbürger – eine facettenreiche, gefährliche Bewegung, in: ders. (Hrsg.), Reichsbürger. Die unterschätzte Gefahr, Berlin 2017, S. 7–21.


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