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Um die ukrainische Dissidenz während der Zeit der Sowjetunion zu verstehen, ist es sinnvoll, auf die ukrainische Unabhängigkeitsbewegung im 19. und frühen 20. Jahrhundert zurückzublicken. Ein Gastbeitrag von Vladyslav Starodubtsev.
Am 16. Januar 2024 führten wir mit der Universität Bonn eine Veranstaltung zur Geschichte und Gegenwart der ukrainischen Zivilgesellschaft durch. Hier veröffentlichten wir den verschriftlichten Input unseres Podiumsgasts Vladyslav Starodubtsev.
Im 19. Jahrhundert waren die Ukrainer:innen zwischen zwei großen Reichen aufgeteilt: dem Russischen Reich und Österreich (später der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie). Die ukrainische Identität bezog sich häufig auf das Lokale und wie beim italienischen Risorgimento zwischen 1815 und 1870 war das Ziel der fortschrittlichen Kräfte und des Widerstands nicht nur die Schaffung eines ukrainischen Staates, sondern auch von Ukrainer:innen. Die ukrainische Bevölkerung war ländlich geprägt, verfügte über keine eigene Kapitalistenklasse und ihr Anteil an der städtischen Arbeiterklasse war geradezu winzig. Die Städte wurden dominiert von der privilegierten Minderheit der Russen oder Polen, die die urbanen Räume als Instrumente der Assimilierung begriffen. Unter diesen Bedingungen formierten sich die ersten ukrainischen Parteien. Bemerkenswert war dabei, dass sie sich alle auf der Grundlage fortschrittlicher, sozialistischer Ideale bewegten. Zu nennen sind insbesondere die Ukrainische Radikale Partei (in einem von Österreich-Ungarn kontrollierten Teil der Ukraine) und die Revolutionäre Ukrainische Partei (in dem von Russland kontrollierten Teil). Beide bildeten eine wichtige Grundlage für die Befreiungsbewegung ab der Jahrhundertwende. Sie waren 1917 für die Gründung der beiden ukrainischen Revolutionsrepubliken von großer Bedeutung: die demokratisch-sozialistische Ukrainische Volksrepublik (im zuvor russischen Teil) und die arbeiterfreundliche (linksliberale) Westukrainische Volksrepublik. Beide Republiken vereinigten sich im Verlauf der Revolution und des „russischen“ Bürgerkriegs. Zudem entstand auf der Halbinsel Krim auf Initiative der Tatarischen Sozialistischen Partei die Volksrepublik Krim.
Diese Republiken wurden schließlich von den bolschewistischen Kräften besiegt (die Westukraine fiel an den wieder neugebildeten polnischen Staat. In der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) hatte die Ukraine zunächst den Stellenwert einer Halbkolonie, mit der Einführung des ersten Fünfjahresplans 1928 glich sie einer richtigen Kolonie. In den Jahren zwischen 1921 und dem Holodomor, der Großen Hungerskatastrophe von 1932/33, gab es heftigen Widerstand gegen die neue russische, leninistische und später stalinistische Einparteienherrschaft.
Dieser Widerstand wurde durch republikanische, anarchistische und unabhängige kommunistische Kräfte, sogenannte Nationalkommunisten, getragen. (Hier sei angemerkt, dass als „Nationalkommunisten“ jene bezeichnet werden, die die Politik des russischen Chauvinismus ablehnten und die staatliche Unabhängigkeit oder die kulturelle Entwicklung der Ukraine unterstützten. Nationalkommunisten sind also nicht zu verwechseln mit den „Nationalbolschewisten", einer rechtsextremen russischen Organisation.)
Die endgültige Zerschlagung des republikanischen Widerstands in der Ukraine 1921 führte dazu, dass sich das oppositionelle Zentrum auf die ukrainischen Kommunisten verschob, also zu jenen, die während der Periode der „Ukrainisierung“ in den 1920er-Jahren oder bereits davor der bolschewistischen Partei beigetreten waren beziehungsweise zu den Mitgliedern der separaten ukrainischen kommunistischen Parteien, die aufgelöst und in die russische kommunistische Partei integriert worden waren.
Während des Zweiten Weltkriegs, nachdem durch die alle sozialistischen und werktätigen Parteien im Osten und im im Westen der Ukraine vernichtet worden waren, waren rechtsextreme Nationalisten als einzige in der Lage, Widerstand zu organisieren. Als jedoch die organisierten Partisanenarmeen der Nationalisten wuchsen, sahen diese sich mit dem Druck der Basis konfrontiert, demokratisch-sozialistische Positionen zu übernehmen. Es entstand so eine neue Generation von Nationalisten, die sich für die Wiederherstellung der Ukrainischen Volksrepublik auf demokratisch-sozialistischer Grundlage einsetzte. Diese Generation übernahm nach dem Zweiten Weltkrieg die Führung der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA), einer von den Nationalisten organisierten Partisanenarmee, und setzte den Widerstand bis in die 1950er-Jahre fort, meist mit Hilfe lokaler Nationalkommunisten. Mit der Selbstauflösung der UPA begann eine neue Ära des Widerstands, eine gewaltfreie intellektuelle Opposition von Dissident:innen.
Die ukrainische Dissidentenbewegung entstand 1959 aus einer nationalkommunistischen ukrainischen Arbeiter- und Bauerngewerkschaft, einer kleinen Organisation von Menschen, die mit dem totalitären System unzufrieden waren, weil sie dachten, dass es sich zu weit von den kommunistischen Idealen entfernt habe. Von da an blühte die ukrainische Dissidentenbewegung auf. In der Regel wird diese in drei verschiedene Kategorien eingeteilt: Nationalisten, die von Mitgliedern der UPA organisiert wurden oder sich auf deren Ideologie bezogen; Nationalkommunisten, die kommunistischen oder marxistisch-leninistischen Doktrinen folgten; und schließlich den Dissident:innen, die eine demokratische oder auch demokratisch-sozialistische Orientierung aufwiesen. Außerdem gab es in der ukrainischen Dissidentenbewegung Organisationen, die für die Verteidigung sozialer Rechte eintraten wie beispielsweise illegale Gewerkschaften, Organisationen, die für die Rechte nationaler Minderheiten kämpften (insbesondere krimtatarische, jüdische und ukrainische Organisationen) oder auch religiöse Organisationen. Einige Beispiele hierfür waren die Partei des Kampfes für die Verwirklichung der Ideen Lenins, die Demokratische Union der Sozialisten, die Ukrainische Nationale Kommunistische Partei, der Kampf für soziale Gerechtigkeit, die Realistischen Arbeitsdemokraten, die Vereinigung der freien Gewerkschaftsarbeiter in der Sowjetunion oder die Ukrainische Nationale Front.
In den Gefängnissen und Lagern waren Ukrainer:innen zusammen mit Vertreter:innen anderer nationaler Minderheiten überproportional vertreten. Dort organisierten sie wiederum Aufstände, vor allem nach den ethnischen Säuberungsaktionen. Deren Anführer waren meist Parteigänger der späten UPA, wie beispielsweise der längste politische Gefangene der Geschichte und überzeugte Demokrat Danylo Shymyk.
Bei den nationalistischen Organisationen gab es zwei Tendenzen: diejenigen, die der Ideologie der frühen Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) folgten und rechte Positionen verfolgten, sowie jene, die der späten UPA anhingen und Demokrat:innen oder Sozialist:innen waren.
In den 1970er-Jahren wurde eine der wichtigsten dissidentischen Organisationen gegründet, die Ukrainische Helsinki Union, eine Gruppe, die sich um die Umsetzung der Helsinki-Vereinbarungen kümmerte. Dissident:innen verfassten wichtige Analysen über den russisch-sowjetischen Kolonialismus und Chauvinismus, darunter Ivan Dzyuba mit seinem Werk "Internationalismus oder Russifizierung", in dem er die Assimilationspolitik der Sowjetunion untersucht. Eine brillante Analyse lieferte der sozialistische Dissident Jurij Badzio (Siehe auch unseren Blogbeitrag zu Badzio).
In „Recht auf Leben“ setzte er sich mit der kulturellen, nationalen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Unterdrückung auseinander, der die Ukrainer:innen in der UdSSR ausgesetzt waren.
Die Politik der Perestroika sollte die Demokratie in der Sowjetunion einführen, hatte aber nicht vor, die Assimilierung und nationale Unterdrückung zu beenden. Es war jedoch eine Zeit der Möglichkeiten: Die Ukrainer:innen organisierten mit der „Volksbewegung“ eine große national-demokratische Organisation, die die oppositionellen Kräfte über alle Grenzen hinweg von Nationalkommunisten bis hin zu Nationalisten vereinte. Ihr gemeinsames Ziel war die ukrainische Unabhängigkeit.
Nach den Massenprotesten der „Volksbewegung“, den Massenstreiks der ukrainischen Arbeiter:innen im Osten der Ukraine, die ebenfalls die Unabhängigkeit forderten, und dem politischen und wirtschaftlichen Zerfall der Sowjetunion erlangte die Ukraine 1991 schließlich ihre Unabhängigkeit. Die alte sowjetische politische und wirtschaftliche Elite konnte jedoch ihre Herrschaft zementieren. So wurden in den 1990er-Jahren zwar demokratische Rechte gewonnen, aber noch nicht die nationale und soziale Befreiung erlangt. Der Prozess der Russifizierung setzte sich auch nach der Unabhängigkeit der Ukraine fort und er gewann sogar an neuer Kraft, als in der großen ökonomischen Krise der 1990er-Jahre Russische Unternehmen den ukrainischen Kulturmarkt beherrschten, was vielfach sogar zur Aufgabe der ukrainischen Sprache in der Gesellschaft führte. Hinzu kam die Einmischung von Jelzin und später von Putin in die ukrainische Politik. Mit der Orangenen Revolution und dem Euromaidan gewann das junge Land mehr und mehr Raum für eine blühende Demokratie und entwickelte sich zu einem freien Land.
Doch dies konnte Russland angesichts seines kolonialen und imperialen Bewusstseins nicht zulassen; die Ukraine durfte sich nicht frei entwickeln. Die Ergebnisse kennen wir: Ein seit 2014 geführter Krieg und seit zwei Jahren die vollumfängliche Invasion. Während des Krieges bildete sich allerdings eine neue ukrainische Identität heraus, zusammen mit der Idee der Selbsthilfe und einer lebendigen Zivilgesellschaft. Viele unbesungene ukrainische Helden werden geboren.
Vladyslav Starodubtsev
Ukrainischer Sozialaktivist und Historiker, Autor zahlreicher Artikel zur Geschichte und Gegenwart der ukrainischen Linke und den sozialen Bewegungen seit dem 19. Jahrhundert.
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