Vergangenheit als Prozess: Warum Geschichtsvermittlung über 1933–1945 hinausdenken muss

Die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen bleibt eine gesellschaftliche Herausforderung – nicht nur wegen des historischen Abstands, sondern auch aufgrund fortbestehender Abwehrmechanismen und neuer Formen der Verdrängung. Im Interview spricht die Erziehungswissenschaftlerin Prof. Dr. Astrid Messerschmidt über die Spannungen zwischen kritischem Geschichtsbewusstsein und gesellschaftlicher Verdrängung – und darüber, warum die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen unabschließbar bleibt.
In einer pluralen und von Migration geprägten Gesellschaft stellt sich die Frage, wie Erinnerungskultur gestaltet werden kann, ohne sich auf nationale Identitätszuschreibungen zu beschränken. Welche Rolle spielen Bildungsarbeit, intergenerationelle Perspektiven und der wachsende Druck auf die Erinnerungskultur?
Die institutionalisierte Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen ist unabschließbar und wird gerade deshalb vielfach abgewehrt und banalisiert. Die Antwort darauf liegt in der Lebendigkeit und Aktualität der Geschichtsbewusstseinsbildung angesichts von fortbestehenden Ideologien der Abwertung und der Ausgrenzung. Der Kontext der Migrationsgesellschaft steht für einen gesellschaftlichen Fortschritt, mit dem die Erinnerungsarbeit korrespondiert.
Welche Herausforderungen sehen Sie bei der Gestaltung einer Holocaust-Erinnerungskultur in einer pluralen Gesellschaft?
Die Herausforderungen ergeben sich weniger aufgrund von Pluralität, sondern eher, weil die Abwehr der Erinnerung seit vier Generationen ausgeprägt ist. Nur die Formen der Abwehr haben sich verändert. An den Orten der NS-Massenverbrechen lässt sich jeweils rekonstruieren, wie ungewollt das Gedenken in der Gesellschaft der Nichtverfolgten gewesen ist und wie dennoch Spuren gesichert und Zeichen der Erinnerung errichtet worden sind.
Neben den Überlebenden und ihren Nachkommen haben sich gesellschaftliche Gruppen dafür eingesetzt, die es unerträglich fanden, die Opfer nach der Vernichtung aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen und die Täterschaften in den Familien und in den öffentlichen Institutionen zu verdrängen. Diese Gruppen stehen bis heute für ein kritisches Geschichtsbewusstsein und waren immer mit einer dominierenden Erinnerungsabwehr konfrontiert. Sie haben weitergemacht und dazu beigetragen, dass die heute oft diffamierte Erinnerungskultur ihren Ausdruck in Institutionen wie Gedenkstätten und Bildungszentren finden konnte.
Wie kann Erinnerungspädagogik in einer Migrationsgesellschaft gestaltet werden, um nationale Zugehörigkeitsordnungen kritisch zu hinterfragen und aktuelle Diskriminierungspraktiken sichtbar zu machen?
Mit einem Ausgangspunkt beim Kontext der Migrationsgesellschaft können diverse Geschichtsbeziehungen artikuliert werden, ohne dass eine Festlegung auf nationale Identitäten erfolgen muss. Verschiedenheiten und Gegensätze ergeben sich aus den Erfahrungen der Nachkommen von Verfolgten, Überlebenden, Widerständigen, Tätern und Täterinnen und der Masse der Zuschauenden. Nationale Herkunftshintergründe werden hierzulande häufig überbewertet, so als sei die Herkunft der Vorfahren entscheidend für das Geschichtsverhältnis. Dagegen zeigen Forschungsergebnisse aus der Erziehungswissenschaft, dass Erfahrungen mit der Geschichtsvermittlung einen großen Einfluss auf die Bereitschaft haben, sich heute für das Erinnern und Gedenken zu engagieren.
Auch aktuelle Diskriminierungserfahrungen beeinflussen diese Bereitschaft, sind jedoch von den NS-Verfolgungspraktiken deutlich zu unterscheiden. Jegliche Gleichsetzungen sollten vermieden werden, sie begünstigen nur die Verzerrung der Geschichte. Die heutige Kritik an einem institutionalisierten Alltagsrassismus findet in einer Demokratie statt. Allerdings ist diese Demokratie angefeindet von Gruppierungen, die völkisches Denken normalisieren. Davon sind in erster Linie diejenigen bedroht, deren Zugehörigkeit gesellschaftlich nicht anerkannt wird und die auch nach drei Generationen Migrationsgeschichte immer noch als Fremde identifiziert werden.
Welche Methoden und Ansätze halten Sie für geeignet, um ein differenziertes historisches Wissen zu vermitteln, das die Nachwirkungen des Nationalsozialismus in der Gegenwart verständlich macht und für u.a. die Antirassismus-Arbeit nutzbar ist?
Bildungsarbeit zur Geschichte und Wirkung der NS-Verbrechen wird belanglos, wenn der Schauder über Grausamkeit und entgrenzte Gewalt den Zugang zum Thema bestimmt und der Eindruck vermittelt wird, die richtigen Lehren aus der Geschichte seien bereits gezogen und müssten von der jüngeren Generation nur noch nachvollzogen werden. Um sowohl die Eskalationsprozesse zu begreifen, die zur massenhaften Beteiligung an Gewalthandlungen geführt haben, als auch den Prozess der Normalisierung dieser Gewalt, bedarf es eines differenzierten historischen Wissens. Folgende Elemente sollte eine vertiefende Auseinandersetzung enthalten: die völkische Ideologie rassistisch und antisemitisch begründeter Überlegenheitsansprüche, die damit verbundene Autoritätsbehauptung und Unterwerfungsbereitschaft, der Zusammenhang von Gehorsam und Gleichgültigkeit, der Mangel an aktiver Menschlichkeit und die Attraktivität der Zugehörigkeit zur sogenannten Volksgemeinschaft. Daraus gehen Fragen an die Gegenwart hervor, die unsere strukturelle Einbindung in heutige Gewaltverhältnisse betreffen, ohne diese Verhältnisse mit dem Holocaust gleichsetzen zu können oder zu müssen.
Aktuell zeigt sich erneut, wie Antisemitismus trotz aller Nie-wieder-Beteuerungen geäußert und ausgeübt wird, diesmal in Form einer ausgeprägten Israelfeindschaft, die nicht zwischen der Politik der israelischen Regierung und der Zugehörigkeit zum Judentum unterscheidet. Bei einigen antirassistischen Aktivist_innen findet außerdem eine Trennung von Judentum und Migration statt, wodurch Jüdinnen und Juden der Dominanzgesellschaft zugerechnet werden, obwohl sie mehrheitlich in Deutschland Migrationsgeschichten mitbringen. Eine kritische Auseinandersetzung mit Antisemitismus gehört zu einer migrationsgesellschaftlichen Erinnerungsarbeit.
Welche Rolle spielt die intergenerationelle Perspektive in der Erinnerungskultur, insbesondere in einer von Migration geprägten Gesellschaft?
Vier Generationen nach der Befreiung vom NS-System ist der zeitliche Abstand in das Erinnern einzubeziehen. D.h. die Beziehungen zu dem Geschehen werden abstrakter, und die Abstraktion sollte nicht durch Inszenierungen eines authentischen Nacherlebens überbrückt werden. Im Gegenteil eröffnet der zeitliche Abstand Möglichkeiten, kritisches Erinnern auszubauen. Transgenerationale Auswirkungen der Shoah und des Völkermordes an den Roma und Sinti sind aufzugreifen, um den Nachkommen von Verfolgten einen sicheren Ort zu bieten. Dieser Ort ist eine von Migrationen geprägte Gesellschaft, in der frühere Vorstellungen abstammungsbezogener nationaler Gemeinschaft nachwirken und der für Betroffene historischer und aktueller Gewaltprozesse oft als unsicher erlebt wird.
Deshalb darf die Geschichtsvermittlung aus dem Zeitrahmen „1933 bis 1945“ keine Sonderzeit machen, losgelöst von dem Davor und dem Danach. Dann entsteht ein konventionelles Geschichtsverständnis, das Geschichte als reine Vergangenheit auffasst, ohne sich selbst darin als gemeint und angesprochen zu erkennen. Angesichts des erstarkten Nationalpopulismus und Rechtsextremismus ist die Migrationsgeschichte Deutschlands und Europas in die Erinnerungskultur zu integrieren. Die Erfahrung von Zugehörigkeit und Partizipation ermöglicht erst die Zustimmung zu einer Mitverantwortung für das Erinnern und für den Umgang mit den Folgen der NS-Verbrechen.
Welche Entwicklungen wünschen Sie sich für eine inklusive und zukunftsorientierte Erinnerungskultur, insbesondere im Hinblick auf die Integration verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und die Vermeidung von Diskriminierung?
Das Erinnern und Gedenken sollte Anlass für eine „kritische Selbstreflexion“ in der Gegenwart sein, wie es Theodor W. Adorno in seinem berühmten Rundfunkvortrag „Erziehung nach Auschwitz“ von 1966 formuliert hat. Gemeint ist hier keine Selbstbeschau, sondern eine gesellschaftliche Reflexion darüber, wo sich das, was zu Auschwitz geführt hat, heute zeigt. Aktuelle Formen des Antisemitismus sind zu erkennen und des migrationsfeindlichen Rassismus. Anrufungen nationaler Identität und die Sehnsucht nach einer heilen Geschichtserzählung gehören dazu, ebenso wie die Verachtung der Verfolgungserfahrungen von Juden und Jüdinnen, Sinti und Roma, politischen Gegner_innen des NS, der als asozial Eingeordneten, der Homosexuellen, der psychisch und physisch Kranken und der Ungezählten, die Opfer der Besatzungspolitik in Europa geworden sind. Die Würdigung ihrer Geschichten bietet eine Richtschnur für Europa und für Deutschland und steht im Gegensatz zu den neuen und alten Nationalismen, die sich heute zeigen.
Das Interview führte Joana Marta Sommer.
Zur Person
Prof. Dr. Astrid Messerschmidt ist Professorin für Erziehungswissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal mit den Arbeitsschwerpunkten Migrationsgesellschaftliche Bildung, Diversität und Diskriminierung sowie Erziehungswissenschaftliche Geschlechterforschung. Besondere Expertise hat sie im Bereich Antisemitismus-, Antiziganismus- und Rassismuskritik in den Nachwirkungen des Nationalsozialismus. Sie studierte Pädagogik, Politikwissenschaft, Germanistik und Religionspädagogik.
Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen der Gastautor_innen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.