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Ein Gastbeitrag von Matthias und Michael von Aster zum 75. Todestag von Ernst von Aster (20.10.1948)
Vor 75 Jahren starb Ernst von Aster, Philosoph und Sozialdemokrat, und unser Großvater. Der letzte und sehr weitsichtige Satz in seinem 1925 in Die Neue Rundschau publizierten Aufsatz zur ‚Kritik des Deutschen Nationalismus‘ lautet „Das Deutsche Reich wird eine Demokratie sein, oder es wird nicht sein.“ (S.15).
Das philosophische Denken Ernst von Aster’s über die Grundfragen des menschlichen Daseins führte ihn immer wieder auch in die Domänen der Psychologie und Pädagogik und der Analyse sowohl individueller als auch kollektiver Triebkräfte und Determinanten menschlichen Fühlens, Denkens und Handelns. Die deutsch-nationalistische Heldenpose war ihm ein Gräuel. Und die darunterliegende Anmaßung einer biologischen, genetisch-rassistisch begründeten Höherwertigkeit stand in fundamentalem Gegensatz zu seiner humanistischen, die biographische und gesellschaftliche Formung des Menschen betrachtende Grundhaltung. Dies fand auch Ausdruck in seinen gesellschaftspolitisch-historischen Analysen und Positionen. Im letzten Absatz seines 1929 publizierten Textes ‚Marx und die Gegenwart‘ heißt es „…Wir stehen vor großen Zielen, für die alle Kräfte, für die die ganze Person wahrlich einzusetzen lohnt: die Überwindung der Barbarei des Krieges und des Dämons des Nationalismus, die Herstellung eines geeinigten Europas und endlich, in der Ferne, des Sozialismus.“ (S.38). Die beiden zitierten Manuskripte berühren mit erstaunlicher Prägnanz die Diskussionen über die beunruhigenden Bedrohungen in der heutigen Zeit, für unser demokratisch verfasstes Gemeinwesen und die ganze Welt schlechthin, und verdienten deshalb zur Anreicherung der Debatten um Globalisierungsfolgen, Wirtschaftsethik, Bildungs-, Wissenschafts- und Sozialpolitik eine fachlich kommentierte Re-Publikation.
Wir werden im Folgenden zunächst den persönlichen und beruflichen Werdegang unseres Großvaters skizzieren und anschließend zu dem Vergleich zwischen dem Damals und dem Heute zurückkommen, um Schlussfolgerungen für die Zukunft zu ziehen.
Wir haben unseren Großvater leider um drei Jahre verpasst. Geboren wurde er am 18. Februar 1880 in Berlin, als einziges Kind seiner Mutter Hedwig, die seinen Vater Eduard, einen preußischen Major, ein Jahr nach dem frühen Tod seiner ersten Frau geheiratet hatte. Mit Ernst und seinen beiden sechs und elf Jahre älteren Halbgeschwistern lebte die Familie in einem Haus in der Potsdamer Straße in Schöneberg. Ernst besuchte das renommierte Askanische Gymnasium und seine Lehrer beschrieben ihn als wissbegierigen Schüler, der sich besonders für die Naturwissenschaften interessierte. Nach der Reifeprüfung studierte er Philosophie und Naturwissenschaften zunächst in Berlin und später in München, wo er bei Theodor Lipps promovierte und mit seinen „Untersuchungen über den logischen Gehalt des Kausalgesetzes“ 1905 habilitiert wurde.
Seine Eltern waren wegen der Versetzung des Vaters von Berlin nach Bernburg gezogen. Dort lernte Ernst auch seine erste Frau Anna kennen. Sie ging mit ihm nach München, wo das Paar eine Wohnung in Schwabing bezog. Es war die Zeit der Moderne und eines sich ankündigenden Epochenwandels. Schwabing war ein Hotspot künstlerisch-intellektueller Inspiration und gesellschaftspolitischer Resonanz auf die Umbrüche der Zeit. Der technische Fortschritt in der Industrie weckte große Hoffnungen, führte zu zaghaften politischen Neuerungen, aber auch zu Enttäuschungen und starken gesellschaftlichen Spannungen.
Neben seinen universitären Studien und Aufgaben engagierte sich Ernst in der sozialdemokratischen Bewegung. Aber das vielleicht einschneidendste Ereignis für den jungen Privatdozenten war die Geburt seiner ersten Tochter, Änne, im Jahr 1907, an der gleichzeitig seine junge Frau 24-jährig im Kindbett verstarb. Auf welche Weise er nach diesem traumatischen Verlust die Bemutterung der Säuglings- und Kleinkindentwicklung seiner Tochter bewerkstelligte und organisierte, wissen wir nicht. Vermutlich hat ihm seine Mutter Hedwig geholfen, bis er wenige Jahre später eine junge Rheinländerin, Anni Gaffron, kennen und lieben lernte. 1910 wurde geheiratet und zwei Jahre später kam unsere Mutter Gerda zur Welt. Die Beziehung zwischen Ernst und Anni stand dennoch unter keinem guten Stern. Zu groß war möglicherweise der Reifungsunterschied und zu herausfordernd die Lebensaufgaben.
Ernst tat das, was er am besten konnte: Sich in die Welt- und Selbstbetrachtung der großen Geister der Menschheitsgeschichte einfühlen, ihre Denkfiguren erkunden und nachzeichnen, sie zueinander in Beziehung setzen, die historischen Zusammenhänge ordnen und in objektiver Weise mit guten und plausiblen Worten darstellen und zugänglich machen. Vor allem mit seinen philosophiegeschichtlichen und erkenntnistheoretischen Publikationen erwarb er sich beachtliche akademische Anerkennung und erhielt 1913 eine außerplanmäßige Professur.
Ernst entstammte einer Familie mit militärischer Tradition, sein Großvater hatte sich als Generalinspekteur der preußischen Festungsanlagen verdient gemacht und wurde dafür von Friedrich Wilhelm IV 1844 geadelt. Er selbst war aber nie Soldat und es darf angenommen werden, dass das Entsetzen über das Elend und die Verheerungen des Ersten Weltkriegs seine pazifistische Gesinnung und sein politisches Engagement für die Sozialdemokratie festigte. Die Münchener Jahre endeten 1920 mit der Berufung auf den Lehrstuhl für Philosophie und Pädagogik der Universität Gießen, die schon zu dieser Zeit wegen seiner gesellschaftspolitischen Gesinnung umstritten und längerdauernd in der Schwebe geblieben war. Schließlich aber konnte die Familie in die beschauliche hessische Kleinstadt übersiedeln und es folgten aus der Erinnerung unserer Mutter ein paar glückliche Jahre. Der Vater war ein angesehener Hochschullehrer, hatte gelegentlich interessante Schüler_innen oder Doktorand_innen zu Gast und war für seine Töchter zugänglicher geworden. Das soziale Habitat beschränkte sich aber im Wesentlichen auf Familien von Angehörigen des akademischen Lehrkörpers.
Die fortschreitende stille Entfremdung der Eheleute voneinander konnte der Umgebungswechsel indes nicht aufhalten und so kam es drei Jahre später zur Trennung, als Ernst die schwedische Schriftstellerin Hildur Dixelius kennenlernte und eine Beziehung mit ihr einging. Die Ehe mit Anni wurde geschieden und die mit Hildur geschlossen. Die kleine Familie zerbrach, die ältere, fast erwachsene Tochter ging zurück nach München, um Fremdsprachen zu studieren, Anni zog mit der inzwischen 14-jährigen Tochter Gerda nach Berlin.
Ernst hat in den Gießener Jahren viel geschrieben und publiziert. Vor allem setzte er seine philosophiehistorische Arbeit fort, befasste sich aber auch mit den philosophischen und literarischen Gegenwartsströmungen in England und Skandinavien. Es erschienen diverse Monographien u.a. über Strindberg und Ibsen, Goethe und Kant, Abhandlungen über Naturphilosophie sowie verschiedene Lehrbücher zur Philosophie der Gegenwart und zur Geschichte der Philosophie, letzteres ein bei Studierenden äußerst beliebtes und in 18 Auflagen bis ins neue Jahrtausend hinein im Kröner Verlag erschienenes Werk. Zudem beschäftigte er sich immer wieder mit den Wissensgebieten der Psychologie und später auch der Psychoanalyse, was sich ebenfalls in Buchpublikationen niederschlug. Sein weltanschauliches und politisches Engagement fand seinen Ausdruck vor allem in Vortragstätigkeit und Zeitschriftenartikeln. Hervorzuheben sind dabei mehrere Artikel in der „Neuen Rundschau“ zu Fragen der Staatsraison und des deutschen Nationalismus aber auch die oben zitierte Arbeit über ‚Marx und die Gegenwart‘. Ernst bezog darin auf eine bis heute – oder heute wieder – bemerkenswert aktuelle Weise kritisch Stellung zu der in den späten 1920er Jahren immer weiter zunehmenden Radikalisierung des gesellschaftspolitischen Diskurses und zum Anwachsen rechtspopulistischer und nationalsozialistischer Strömungen. Diese klare politische Haltung hatte für ihn als aktives Mitglied der SPD und des Weimarer Kreises nach Hitlers Machtergreifung 1933 schließlich zur Folge, dass er im Zuge der Gesinnungsüberprüfungen und Säuberungen seine Lehrbefugnis in Gießen verlor. Einer gutachterlichen Fürsprache des im Übrigen stramm linientreuen Dekans verhinderte vielleicht Schlimmeres als den Verlust von Arbeit und Lebensunterhalt.
Ernst und Hildur emigrierten nach Schweden. Sie lebten in einem beschaulichen kleinen Häuschen weit im Norden in einer kleinen Gemeinde, deren protestantischer Kirche Hildurs Vater als Probst vorstand. Ernst lernte rasch die Landessprache, übersetzte einige Romane seiner Frau ins Deutsche und wurde 1936 auf den neu gegründeten Lehrstuhl für Philosophie der Universität Istanbul berufen. Anfangs pendelte er in den lehrefreien Sommermonaten nach Schweden, was aber im Laufe der Zeit beschwerlich und schließlich durch die Wirrungen des Krieges unmöglich wurde. Hildur blieb, von einigen Besuchen am Bosporus abgesehen, in ihrer Heimat. Das Paar blieb kinderlos. Aus Tagebuchaufzeichnungen geht hervor, dass Ernst sich oft um seine beiden Töchter in Deutschland sorgte, so gut es ging mit ihnen Kontakt hielt und verschiedentlich versuchte, sie über schweizerische Verbindungen zu unterstützen. Er wohnte anfangs in einer Wohnung unweit der Universität und zog sich später auf eine der kleinen, der Großstadt vorgelagerten Inseln im Marmarameer zurück. Sein Schaffen war in diesen Jahren wesentlich dem Aufbau der Fakultät und Lehre gewidmet. Während andere aus Deutschland emigrierte Hochschullehrer_innen auf privat angestellte Übersetzter_innen angewiesen waren, hielt Ernst seine Vorlesungen bald auch auf Türkisch und übertrug Aufsätze und Lehrbücher in die Landessprache. Auch diese Fähigkeit, sich nicht nur die Alltagssprache, sondern auch die feinen Nuancen der Fremdsprache in seinen Wissensgebieten rasch zu erschließen, begründete seine Beliebtheit und Anerkennung bei den Studierenden und im akademischen Kollegium. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde er zwar für die Besetzung des Lehrstuhls an der Freien Universität Berlin angefragt, lehnte aber aus Gründen seiner angegriffenen Gesundheit ab und blieb in der Türkei. Nach einer Heimreise zu seiner Frau in Schweden erlag er auf dem Rückweg auf dem Stockholmer Flughafen einem Herzinfarkt und wurde auf dem Friedhof der nordschwedischen Kirchengemeinde Bredbyn beigesetzt. Drei Jahre später, im September 1951, brachte unsere Mutter Gerda seine einzigen beiden Enkelkinder gemeinsam auf die Welt.
Leben und Werk unseres Großvaters spiegelt in vielfältigen Aspekten eine enorm wechselvolle europäische Zeitgeschichte. Sie gibt uns Anlass, über ein paar zeitliche Bezüge nachzudenken, die mal mit einem besorgten Wiedererkennen einhergehen und mal von dem Ohnmachtsgefühl des Noch-nie-Dagewesenen begleitet werden: Die wachsenden Unterschiede zwischen arm und reich, das Anwachsen fremdenfeindlicher, nationalistischer und geschichtsrevisionistischer Strömungen in vielen Ländern und eine für viele Menschen bedrohliche und überfordernde Fülle an Veränderungen – es gab sie damals und wir sehen sie heute.
In der Gegenwart kommen nun zwei neue Herausforderungen vom Typ des Noch-nie-Dagewesenen hinzu: Zum einen die enorme Wachstums- und Wohlstandsentwicklung im globalen Norden, die uns mit ihrem Energiehunger und der Ausbeutung fossiler Brennstoffe die am Kipppunkt stehende Klimakrise und die daraus erwachsenden eskalierenden Naturkatastrophen und Migrationsbewegungen beschert (vgl. G. Vince, 2022). Zum anderen die technologischen Erfindungen der medial-digitalen Informationsverarbeitung und der künstlichen Intelligenz, die als Kollateralwirkung die Kommunikation und Interaktion der Menschen untereinander verändern. Sie beschleunigen und vervielfältigen in nie dagewesener Weise die Verfügbarkeit, aber auch die Manipulierbarkeit von Informationen. Verkaufsgetriebene Aufmerksamkeitsökonomie, Sichtbarkeit und Reichweite sind Stichworte einer erregt-gehetzten, nicht mehr innehaltenden, zerstreuten und dabei auch zunehmend vereinsamenden Gesellschaft orientierungs- und haltsuchender Individuen.
Ein breiter Zugang zu guter Bildung ist, was totalitäre Staaten zurecht fürchten und was demokratische Staaten für ihr Überleben mehr denn je benötigen. In Deutschland brauchen wir eine Priorisierung der Bildungspolitik, die ihren Namen wirklich verdient: Eine hochwertige Grundbildung, die keine Versagensnarben hinterlässt, die moderne digitale Lernformen in tragende und anleitende pädagogische Beziehung kleidet, die unterschiedslos alle erreicht und fördert, die auf Lernfreude statt auf hervorhebende oder herabsetzende Wertung setzt und die soziales, ethisches und intellektuelles Lernen miteinander verbindet. Solche Grundbildung begünstigt die Entwicklung sicherer Urteilsfähigkeit und wird uns am ehesten bewahren vor der Verführung durch dumpfe Heilsversprechen, die ins Unheil führen. Bezüglich der schon damals existierenden, die sozialen Schichten trennenden Bildungsschere geißelte Ernst von Aster einst den Bildungshochmut des „‚Spießbürgertums‘, … dessen Dasein beweist, dass wer ihn hat, eben das nicht besitzt, worauf er stolz ist. Als ob nicht neben der Bildung durch den ‚Logos‘, durch das gesprochene und geschriebene Wort, gleichwertig die nicht niedere oder höhere, sondern andere Art der Bildung, der Verstandes- und Herzensbildung, der Bildung durch das praktische Leben stände. Und als ob es nicht gelehrte und ungelehrte Dummköpfe gäbe.“ (von Aster E., 1929, S.35).
Dr. Matthias von Aster und Prof. Dr. Michael von Aster
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