Vor 75 Jahren starb Ernst von Aster, Philosoph und Sozialdemokrat, und unser Großvater. Der letzte und sehr weitsichtige Satz in seinem 1925 in Die Neue Rundschau publizierten Aufsatz zur ‚Kritik des Deutschen Nationalismus‘ lautet „Das Deutsche Reich wird eine Demokratie sein, oder es wird nicht sein.“ (S.15).
Das philosophische Denken Ernst von Aster’s über die Grundfragen des menschlichen Daseins führte ihn immer wieder auch in die Domänen der Psychologie und Pädagogik und der Analyse sowohl individueller als auch kollektiver Triebkräfte und Determinanten menschlichen Fühlens, Denkens und Handelns. Die deutsch-nationalistische Heldenpose war ihm ein Gräuel. Und die darunterliegende Anmaßung einer biologischen, genetisch-rassistisch begründeten Höherwertigkeit stand in fundamentalem Gegensatz zu seiner humanistischen, die biographische und gesellschaftliche Formung des Menschen betrachtende Grundhaltung. Dies fand auch Ausdruck in seinen gesellschaftspolitisch-historischen Analysen und Positionen. Im letzten Absatz seines 1929 publizierten Textes ‚Marx und die Gegenwart‘ heißt es „…Wir stehen vor großen Zielen, für die alle Kräfte, für die die ganze Person wahrlich einzusetzen lohnt: die Überwindung der Barbarei des Krieges und des Dämons des Nationalismus, die Herstellung eines geeinigten Europas und endlich, in der Ferne, des Sozialismus.“ (S.38). Die beiden zitierten Manuskripte berühren mit erstaunlicher Prägnanz die Diskussionen über die beunruhigenden Bedrohungen in der heutigen Zeit, für unser demokratisch verfasstes Gemeinwesen und die ganze Welt schlechthin, und verdienten deshalb zur Anreicherung der Debatten um Globalisierungsfolgen, Wirtschaftsethik, Bildungs-, Wissenschafts- und Sozialpolitik eine fachlich kommentierte Re-Publikation.
Wir werden im Folgenden zunächst den persönlichen und beruflichen Werdegang unseres Großvaters skizzieren und anschließend zu dem Vergleich zwischen dem Damals und dem Heute zurückkommen, um Schlussfolgerungen für die Zukunft zu ziehen.
Kindheit, Jugend und die Münchner Jahre bis 1920
Wir haben unseren Großvater leider um drei Jahre verpasst. Geboren wurde er am 18. Februar 1880 in Berlin, als einziges Kind seiner Mutter Hedwig, die seinen Vater Eduard, einen preußischen Major, ein Jahr nach dem frühen Tod seiner ersten Frau geheiratet hatte. Mit Ernst und seinen beiden sechs und elf Jahre älteren Halbgeschwistern lebte die Familie in einem Haus in der Potsdamer Straße in Schöneberg. Ernst besuchte das renommierte Askanische Gymnasium und seine Lehrer beschrieben ihn als wissbegierigen Schüler, der sich besonders für die Naturwissenschaften interessierte. Nach der Reifeprüfung studierte er Philosophie und Naturwissenschaften zunächst in Berlin und später in München, wo er bei Theodor Lipps promovierte und mit seinen „Untersuchungen über den logischen Gehalt des Kausalgesetzes“ 1905 habilitiert wurde.
Seine Eltern waren wegen der Versetzung des Vaters von Berlin nach Bernburg gezogen. Dort lernte Ernst auch seine erste Frau Anna kennen. Sie ging mit ihm nach München, wo das Paar eine Wohnung in Schwabing bezog. Es war die Zeit der Moderne und eines sich ankündigenden Epochenwandels. Schwabing war ein Hotspot künstlerisch-intellektueller Inspiration und gesellschaftspolitischer Resonanz auf die Umbrüche der Zeit. Der technische Fortschritt in der Industrie weckte große Hoffnungen, führte zu zaghaften politischen Neuerungen, aber auch zu Enttäuschungen und starken gesellschaftlichen Spannungen.
Neben seinen universitären Studien und Aufgaben engagierte sich Ernst in der sozialdemokratischen Bewegung. Aber das vielleicht einschneidendste Ereignis für den jungen Privatdozenten war die Geburt seiner ersten Tochter, Änne, im Jahr 1907, an der gleichzeitig seine junge Frau 24-jährig im Kindbett verstarb. Auf welche Weise er nach diesem traumatischen Verlust die Bemutterung der Säuglings- und Kleinkindentwicklung seiner Tochter bewerkstelligte und organisierte, wissen wir nicht. Vermutlich hat ihm seine Mutter Hedwig geholfen, bis er wenige Jahre später eine junge Rheinländerin, Anni Gaffron, kennen und lieben lernte. 1910 wurde geheiratet und zwei Jahre später kam unsere Mutter Gerda zur Welt. Die Beziehung zwischen Ernst und Anni stand dennoch unter keinem guten Stern. Zu groß war möglicherweise der Reifungsunterschied und zu herausfordernd die Lebensaufgaben.
Ernst tat das, was er am besten konnte: Sich in die Welt- und Selbstbetrachtung der großen Geister der Menschheitsgeschichte einfühlen, ihre Denkfiguren erkunden und nachzeichnen, sie zueinander in Beziehung setzen, die historischen Zusammenhänge ordnen und in objektiver Weise mit guten und plausiblen Worten darstellen und zugänglich machen. Vor allem mit seinen philosophiegeschichtlichen und erkenntnistheoretischen Publikationen erwarb er sich beachtliche akademische Anerkennung und erhielt 1913 eine außerplanmäßige Professur.
Lehre, Forschung und politisches Engagement in Gießen
Ernst entstammte einer Familie mit militärischer Tradition, sein Großvater hatte sich als Generalinspekteur der preußischen Festungsanlagen verdient gemacht und wurde dafür von Friedrich Wilhelm IV 1844 geadelt. Er selbst war aber nie Soldat und es darf angenommen werden, dass das Entsetzen über das Elend und die Verheerungen des Ersten Weltkriegs seine pazifistische Gesinnung und sein politisches Engagement für die Sozialdemokratie festigte. Die Münchener Jahre endeten 1920 mit der Berufung auf den Lehrstuhl für Philosophie und Pädagogik der Universität Gießen, die schon zu dieser Zeit wegen seiner gesellschaftspolitischen Gesinnung umstritten und längerdauernd in der Schwebe geblieben war. Schließlich aber konnte die Familie in die beschauliche hessische Kleinstadt übersiedeln und es folgten aus der Erinnerung unserer Mutter ein paar glückliche Jahre. Der Vater war ein angesehener Hochschullehrer, hatte gelegentlich interessante Schüler_innen oder Doktorand_innen zu Gast und war für seine Töchter zugänglicher geworden. Das soziale Habitat beschränkte sich aber im Wesentlichen auf Familien von Angehörigen des akademischen Lehrkörpers.
Die fortschreitende stille Entfremdung der Eheleute voneinander konnte der Umgebungswechsel indes nicht aufhalten und so kam es drei Jahre später zur Trennung, als Ernst die schwedische Schriftstellerin Hildur Dixelius kennenlernte und eine Beziehung mit ihr einging. Die Ehe mit Anni wurde geschieden und die mit Hildur geschlossen. Die kleine Familie zerbrach, die ältere, fast erwachsene Tochter ging zurück nach München, um Fremdsprachen zu studieren, Anni zog mit der inzwischen 14-jährigen Tochter Gerda nach Berlin.
Ernst hat in den Gießener Jahren viel geschrieben und publiziert. Vor allem setzte er seine philosophiehistorische Arbeit fort, befasste sich aber auch mit den philosophischen und literarischen Gegenwartsströmungen in England und Skandinavien. Es erschienen diverse Monographien u.a. über Strindberg und Ibsen, Goethe und Kant, Abhandlungen über Naturphilosophie sowie verschiedene Lehrbücher zur Philosophie der Gegenwart und zur Geschichte der Philosophie, letzteres ein bei Studierenden äußerst beliebtes und in 18 Auflagen bis ins neue Jahrtausend hinein im Kröner Verlag erschienenes Werk. Zudem beschäftigte er sich immer wieder mit den Wissensgebieten der Psychologie und später auch der Psychoanalyse, was sich ebenfalls in Buchpublikationen niederschlug. Sein weltanschauliches und politisches Engagement fand seinen Ausdruck vor allem in Vortragstätigkeit und Zeitschriftenartikeln. Hervorzuheben sind dabei mehrere Artikel in der „Neuen Rundschau“ zu Fragen der Staatsraison und des deutschen Nationalismus aber auch die oben zitierte Arbeit über ‚Marx und die Gegenwart‘. Ernst bezog darin auf eine bis heute – oder heute wieder – bemerkenswert aktuelle Weise kritisch Stellung zu der in den späten 1920er Jahren immer weiter zunehmenden Radikalisierung des gesellschaftspolitischen Diskurses und zum Anwachsen rechtspopulistischer und nationalsozialistischer Strömungen. Diese klare politische Haltung hatte für ihn als aktives Mitglied der SPD und des Weimarer Kreises nach Hitlers Machtergreifung 1933 schließlich zur Folge, dass er im Zuge der Gesinnungsüberprüfungen und Säuberungen seine Lehrbefugnis in Gießen verlor. Einer gutachterlichen Fürsprache des im Übrigen stramm linientreuen Dekans verhinderte vielleicht Schlimmeres als den Verlust von Arbeit und Lebensunterhalt.