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Was ist nun mit ihr, der Solidarität? Ist sie mehr geworden in der Krise – oder weniger? Hat uns die Krise zusammenrücken lassen oder aus uns neue Wölfe gemacht? Die Konjunktur der Solidaritätssemantiken ist ein erstaunliches Begleitphänomen unserer Tage im Zeichen des Virus – und genauso erstaunlich ist es, für wie viele Bedeutungen der Solidaritätsbegriff herhalten muss.
Bild: Postkarte vom Verband der Fabrikarbeiter Deutschlands, 01. Mai 1909. von AdsD
Gastbeitrag von Dietmar Süß
Solidarisch sein – das kann jedenfalls in diesen Tagen sehr viel bedeuten, vor allem: Distanz halten, Abstand wahren. Das ist vermutlich die merkwürdigste Verwandlung eines Begriffs, dessen Bedeutungsinhalt vor nicht allzu langer Zeit vor allem darauf abzielte, gruppen- oder klassenspezifische Verbundenheit zu beschreiben, ein Gefühl moralischer Verpflichtung und das daraus abgeleitete Empfinden, gemeinsam legitime Ziele durchzusetzen. Körperliche Distanz als Ausdruck von Solidarität – das ist die radikale Umkehr all jener Erfahrungen, die mit dem Begriff in seinen vielen Schichten bisher verbunden waren.
Im Kampf um die „richtige“ Solidarität entzünden sich derzeit Grundfragen der Krisenbewältigung, es geht mithin um die sozialen, ökonomischen und politischen Kosten aktueller globaler Verwerfungen. Die gegenwärtigen SPD-Parteistrategen sprechen zwar auch von Solidarität, im neuen Wahlprogramm haben sie sich aber lieber für das – deutlich harmlosere – Wort des „Respekts“ entschieden. Ob das eine gute Entscheidung war, wird sich erst noch zeigen müssen.
Solidarität als sozialstaatliche Norm, als semantischer Code und soziale Praxis – all diese verschiedenen Dimensionen des Begriffs verschwimmen derzeit und sorgen nicht gerade für mehr Klarheit. Vielleicht hat der Solidaritätsbegriff aber doch noch mehr als einen vermeintlich wohlig-warmen Beiklang zu bieten für eine Analyse unserer Gegenwart. Bleibt man bei der Vorstellung, Solidarität als eine spezifische soziale Praxis zu verstehen, macht man jedenfalls einige bemerkenswerte Beobachtungen. Beispielsweise steckt in den unterschiedlichen Hilfsangeboten gerade für Ältere, die wir in der Pandemie erlebt haben, ja doch eine Form generationsübergreifender Unterstützung, die zumindest – nach den Jahren der Hegemonie des demographischen „Generationskonflikts“ seit den 1990er Jahren – einen anderen Akzent setzt und andere Formen wechselseitiger Verbundenheit vermittelt.
So abgedroschen die „Solidarität der Generationen“ als Begriff sein mag, so kurzlebig diese Initiativen womöglich sind und so sehr sich verschiedene machtpolitische und ökonomische Motive überlagern: Ganz übergehen sollte man sie nicht. Vielleicht hilft hier trotz aller Schwierigkeiten noch einmal die alte Unterscheidung zwischen sozialer und politischer Solidarität weiter, die auf unterschiedliche Bezugssysteme und Reichweiten solidarischen Handelns verweist. Denn wie lässt sich begreifen, warum in anonymen Hochhäusern auf einmal Listen in den Fahrstühlen hängen, in denen sich hilfsbedürftige Personen eintragen können, damit für sie eingekauft wird? Ein unmittelbares Gegenüber hat diese soziale Beziehungsweise ja nur sehr indirekt und in diesem Verhalten wird man schwer einen politischen Kampf ausmachen. Gleichwohl sind sie doch ebenso relevant für unsere Gegenwart wie die vielen kleineren und größeren Alarmmelder seuchenpolizeilichen Fehlverhaltens, die die Nachbarn wegen eines unangemeldeten Besuchs bei den staatlichen Dienststellen melden oder die Jogger_innen, die nicht genügend Abstand halten.
Solidarität kostet. Doch wie hoch diese Kosten für viele zu sein scheinen, lässt sich daran beobachten, wie massiv Formen transnationaler solidarischer Praktiken blockiert und erschwert wurden. Für diejenigen, die sich mit jenen verbunden fühlen, die außerhalb nationalstaatlicher, gar europäischer Grenzen leben, gibt es derzeit beinahe ein staatlich verordnetes Empathieverbot, sodass es bereits die vorläufige Rettung weniger unbegleiteter Flüchtlingskinder als spektakuläre Meldung in die Tagesschau schafft. Das Universelle im Partikularen solidarischer Praktiken hat es derzeit besonders schwer. Auch das, wird man sagen können, ist vielleicht nicht neu, aber deshalb nicht weniger bedrohlich.
Ob „Solidarität“ schlicht „weniger“ geworden ist mit den Jahren? So einfach ist es nicht. Sie hat im Laufe des 20. und 21. Jahrhunderts vor allem ihre Form verändert. „Solidarität“ ist stärker Ausdruck individueller Entscheidung geworden. Sie verbindet in der globalisierten Welt Menschen miteinander, die früher nichts voneinander wussten. Und mühsam müssen die alten Arbeiterbewegungen lernen (bisweilen vergeblich), wie widersprüchlich das hehre Ziel der „internationalen Solidarität“ angesichts unternehmerisch forcierter Konkurrenz ist. Die „Solidarität“ wieder neu zu entdecken – das ist eine der zentralen Aufgaben der Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert. Aber eben keine weichgespülte und national bornierte. Davon gibt es schon genug.
Dietmar Süß ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Augsburg. Er ist Koordinator des Verbundprojekts Praktiken der Solidarität und Mitherausgeber der Zeitschrift Archiv für Sozialgeschichte.
Band 60 (2020) des Archivs für Sozialgeschichte, der im Dietz Verlag erscheint, widmet sich mit zahlreichen Beiträgen aus historischer Perspektive den „Ideen und Praktiken der Solidarität. Die Einleitung von Dietmar Süß und Meik Woyke ist auch online verfügbar. Weitere Informationen zum Inhalt finden Sie hier.
Veranstaltungshinweis:
„Freiheit, Gleichheit und Solidarität heute - Zur Bedeutung sozialdemokratischer Leitbegriffe in der Gegenwart“: Jürgen Kocka im Gespräch mit Dietmar Süß. Die Veranstaltung findet am 24. März 2021 im Rahmen der sechsteiligen Gesprächsreihe „Erneuerung oder Niedergang? Die Entwicklung der sozialdemokratischen Parteien in Europa 1970–2020“ der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung statt.
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