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Archiv der sozialen Demokratie

 

Liegt die Zukunft der Sozialdemokratie außerhalb von Europa?

Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung entstand in Europa und war für viele Jahrzehnte auf den alten Kontinent und „das ausgewanderte Europa“ (Willy Brandt), also die wenigen überseeischen Gebiete mit einer Mehrheit europäischer Zuwander_innen wie z. B. Argentinien oder Chile, beschränkt.

Bild: Sozialistische Internationale im Senegal, 10.05.1978. von Rechteinhaber unbekannt/AdsD

Die Dekolonisierung nach dem Zweiten Weltkrieg änderte daran wenig. Fotos von Tagungen der Sozialistischen Internationale (SI) aus den 1950er- und 1960er-Jahren zeigen Versammlungen weißer Männer, ergänzt um einige wenige Frauen und noch weniger People of Color. Erst im darauffolgenden Jahrzehnt setzte ein Wandel ein. Die Initiative dazu kam zeitgleich aus dem globalen „Norden“ und aus dem „Süden“. Dort, besonders in Lateinamerika, suchten Parteien der linken Mitte nach einer Alternative zu Kubas Kommunismus und zur Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten. Europas Sozialdemokratie, die erfolgreich Wirtschaftswachstum mit dem Aufbau eines Wohlfahrtsstaats verbunden hatte, erschien ihnen als erfolgversprechendes Modell. Im „Norden“ erkannte eine Gruppe sozialdemokratischer Parteiführer, dass die bisherige Politik die Spannungen zwischen den reichen Industriestaaten und den armen Ländern südlich von Mittelmeer und Rio Grande immer weiter verschärfen würde. Eine neue Gefahr für den Weltfrieden zeichnete sich ab: Kriege und massive Migrationsbewegungen, die aus dem Elend im „Süden“ entstehen könnten.

Willy Brandt als Präsident der SI

Als Präsident der Sozialistischen Internationale von 1976–1992 und auch als Vorsitzender der Nord-Süd-Kommission gelang Willy Brandt die Transformation der SI in eine wirklich internationale, eine globale Kraft. Sie fasste nun in Lateinamerika, aber nur partiell in Afrika und Asien Fuß. Die Epochenwende von 1989/1991 war auch für die sozialdemokratische Bewegung ein tiefer Einschnitt. Seither erlebte sie ein Auf und Ab. In Europa gelang ihr in den 1990ern eine Renaissance, so in Deutschland und in Großbritannien. Auf den anderen Kontinenten stellten SI-Mitglieder immer wieder die Regierung, z. B. in Chile oder in Südafrika. Das war die positive Seite der Entwicklung.

Die negative Seite zeigte sich ab etwa der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts. In Europa erlitten wichtige Parteien schwere Wahlniederlagen, erneut stehen Deutschland und Großbritannien dafür beispielhaft. In Europa gibt es heute drei Klassen von sozialdemokratischen Parteien: die erfolgreichen erzielen in Wahlen 25 % (u. a. Schweden, Dänemark), die „2. Liga“ rangiert bei 15 % (derzeit in Deutschland) und die gescheiterten kommen nur noch auf deprimierende 5 % (so in Frankreich, Griechenland und den Niederlanden). Die Hinwendung zu neoliberal inspirierten Sozial- und Wirtschaftspolitiken trug dazu bei, aber die Erosion des sozialdemokratischen Milieus durch Deindustrialisierung und Digitalisierung war wohl der wichtigere Grund dafür.

Gescheiterte Modelle

In Südosteuropa und jenseits des alten Kontinents zeigte sich mit den Jahren, dass der „Export“ des sozialdemokratischen Modells nicht mehr als die Verpackung enthielt. Viele der neuen SI-Mitglieder hatten wenig mit dem Typus der Massen- und Programmpartei der abhängig Beschäftigten zu tun, für den die Sozialdemokratie West- und Mitteleuropas seit Anbeginn steht. Korruption und autoritäre Binnenstrukturen erklären sich dadurch.

Mit wem man sich da manchmal gemein gemacht hatte, zeigte in extremer Form der demokratische Aufbruch im „Arabischen Frühling“ 2011. Für die SI war es ein schwerer Schlag, als klar wurde, dass die verhassten Regierungsparteien von Ägypten und Tunesien auf deren Mitgliederliste standen. Im Streit über den Umgang mit ihnen ließ die SPD, die den sofortigen Ausschluss gefordert hatte, zuerst ihre Zugehörigkeit ruhen und trat später ganz aus. Wichtige andere Parteien folgten. Von dieser Erschütterung hat sich die Sozialistische Internationale nicht erholt. Sie fristet ein Kümmerdasein, ignoriert von den politischen Machtzentren.

In Lateinamerika wandten sich die Wähler_innen linkspopulistischen Bewegungen (so in Venezuela) oder neuen Massenparteien wie Lulas „Arbeiterpartei“ in Brasilien zu. In den Vereinigten Staaten entfernte sich die Demokratische Partei (die nie der SI angehört hatte) in der Ära Clinton immer mehr von sozialdemokratischem Gedankengut, verschrieb sich stattdessen einem progressiven Neoliberalismus.

Aufgaben für die Zukunft

Aber gerade jetzt gilt: „ex occidente lux“. Mit Präsident Joe Biden geht – so zeigen es seine ersten, energischen Entscheidungen – die 40 Jahre währende Vorherrschaft neoliberaler Ideen zu Ende, nähert sich die Demokratische Partei wieder sozialdemokratischen Vorstellungen an. In ganz Europa sind Sozialdemokraten auf der Suche nach einer neuen Programmatik, um sich gegen rechtsextreme Populist_innen und gegen die aufstrebenden „Grünen“ zu behaupten. In den USA sind Letztere bedeutungslos, aber Biden hat gezeigt, wie man eine starke rechtsextreme Bewegung mit Anhang unter weißen Arbeiter_innen besiegen kann.

Global gibt es eine weitere Konkurrenz, mit der sich die Sozialdemokratie auseinandersetzen muss: China scheint zu zeigen, dass eine Mischung aus autoritärem Staat und neoliberaler Wirtschaftspolitik ein sehr effektives Modell zur Entwicklung der Produktivkräfte ist. Die Befürchtung der 1960er-Jahre, dass sich die armen Länder auf die Seite Moskaus schlagen und gegen den Westen entscheiden würden, ist in veränderter Form wieder da. Können Europas Sozialdemokrat_innen, sozialreformerische Kräfte aus dem globalen „Süden“ und eine erneuerte Demokratische Partei der USA dem ebenso erfolgreich entgegentreten wie vor 50, 60 Jahren?

Bernd Rother, Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, Berlin

 

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