FES diskurs | Solidarisch, gerecht und umsetzbar

Zehn Reformvorschläge für ein zukunftsfähiges Gesundheits- und Pflegewesen

Unser solidarisches Gesundheits- und Pflegewesen ist eine tragende Säule der Daseinsvorsorge und von erheblicher gesellschaftlicher Bedeutung. Allerdings nehmen die Herausforderungen durch gesellschaftliche, demografische, ökonomische, globale und technische Veränderungen weiter zu und die punktuelle Unzufriedenheit mit dem deutschen Gesundheitswesen (Bertelsmann Stiftung 2023) und mit der Kostenaufteilung für das Gemeinwohl (Friedrich-Ebert-Stiftung 2023) vergrößert sich. Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist es dementsprechend zentral, eine anspruchsvolle, sozial gerechte und stabile Gesundheits- und Pflegeversorgung zu garantieren. Das verlangt ein hohes Reformtempo, um unser gesellschaftlich stabilisierendes und auch ökonomisch wertschöpfendes Gesundheits- und Pflegewesen nicht zu gefährden.

Vor diesem Hintergrund haben Expert_innen aus dem Gesundheits- und Pflegewesen gemeinsam eine Reformagenda formuliert, die zehn Vorschläge für den Erhalt unseres Gesundheits- und Pflegewesens priorisiert. Unter den Gesichtspunkten der Machbarkeit und damit der schnellen, aber nachhaltigen Umsetzung stellen sie wichtige Reformbedarfe vor, die mit überschaubarem Aufwand umgesetzt werden können. Sie greifen die bestehende politische Planungen auf und können relevante Weichenstellungen einleiten. Ziel ist es, bedarfsorientiert die jeweils sachgerechte Versorgungsebene anzuwählen, dadurch Fehl- und Überversorgung zu vermeiden und (Personal)-Ressourcen nach Kompetenz und nicht nach Standesdenken einzusetzen. Um sicherzustellen, dass die genannten Reformen übergeordneten Ansprüchen genügen, zusammenpassen und sich nicht nachher als kontraproduktiv für die generelle Reformrichtung herausstellen, werden im vorliegenden Papier zudem Prinzipien vorgegeben, die als Prüfbausteine bei jedem Reformschritt anzulegen sind. So soll sichergestellt werden, dass die einzelnen Reformvorstellungen zusammenpassen und sich nachher nicht als kontraproduktiv für die generelle Reformrichtung herausstellen.

 

Gruhl, Matthias

Solidarisch, gerecht und kurzfristig umsetzbar

Zehn Reformvorschläge für ein zukunftsfähiges Gesundheits- und Pflegewesen
Bonn, 2023

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Zehn kurzfristig realisierbare Handlungsempfehlungen


Ausgangspunkte sind die Bekämpfung des Fachkräftemangels, die Aufwertung der Kompetenzen der Gesundheitsfachberufe, eine stärkere Ausrichtung an den Patientenpfaden, die Reduzierung der international unvergleichbar hohen Kontakthäufigkeit, die Überwindung nicht mehr zeitgemäßer Vergütungsregeln, aber ebenso die zwingend gebotene bessere Vermittlung einer sich verändernden Versorgungswirklichkeit in die Bevölkerung, die Beachtung grundlegender Möglichkeiten der digitalen Transformation und maßgebliche Schritte zu besseren Rahmenbedingungen der Prävention.

 

1. Reformen mit Bürger_innen und nicht gegen sie umsetzen

In den Debatten um die notwendigen Strukturanpassungen im Gesundheitswesen ist eine rechtzeitige, fachkundige und professionelle Kommunikation mit den Bürger_innen vonnöten. Ziel muss es sein, Mythenbildung und Falschaussagen gar nicht erst aufkommen zu lassen. In den anstehenden Transformationsprozessen sind den betroffenen politischen Gremien und Amtsträger_innen auf kommunaler Ebene fachliche und kommunikative Unterstützung länderseitig anzubieten.

Positive Beispiele, bei denen im Rückblick der Transformationsprozess als „Versorgungsgewinn“ von den Bürger_innen verstanden wird, sind einzuflechten. Die Vorteile einer Konzentration für die Qualität und Sicherstellung der Versorgung sind medial in Begleitung der Krankenhausreform faktenbasiert und glaubhaft in die Bevölkerung zu kommunizieren – lokal, regional und auch bundesweit.

2. Bedarfs- und versorgungsgerechter Einsatz des verfügbaren Personals

Ein resilientes Gesundheitssystem benötigt nicht nur ausreichend qualifiziertes Personal, sondern ebenso einen nachhaltigen Einsatz dieser besonders wertvollen Ressource. Ressourcenschonend meint in diesem Sinne, die Versorgung der Bevölkerung ohne Überlastung des Systems sicherzustellen.

Dazu ist es notwendig, unnötige Kontakte zwischen Ärzt_innen und Patient_innen zu reduzieren: Stellschrauben sind eine Ambulantisierung von Krankenhausleistungen, eine effektive Steuerung der Notfallversorgung sowie relevante Versorgungsangebote zur Überwindung der Sektorengrenzen.

3. Optimierte Navigation der Patient_innen an den Eintrittspunkten in das Gesundheits- und Pflegewesen

Die Selbstnavigation der Patient_innen in unserem komplexen Gesundheits- und Pflegewesen führt zu ressourcenbelastenden Fehlsteuerungen. Ein verbindliches und klar strukturiertes Navigationsangebot hilft, fachlich begründete bedarfsabhängige Allokationsentscheidungen zu treffen. Dies spart wertvolle (Personal-)Ressourcen.

Auf die positiven Erfahrungen der HZV in Baden-Württemberg aufbauend sollen primärärztliche Strukturen ausgebaut werden, der Zugang zur Notfallversorgung fachlich begründet erfolgen und ein obligatorisches Beratungsangebot in Pflegestützpunkten vor einem Zugang zur Langzeitpflege eingeholt werden.

 4. Verwantwortlichkeit an Patient_innenpfaden ausrichten

Der Zugang in das Gesundheits- und Pflegewesen ist in Deutschland stark durch den Zufall geprägt, aber auch die koordinierende Verantwortlichkeit für den Behandlungsprozess muss neu ganzheitlich ausgestaltet werden. Die für den jeweiligen Erkrankungsverlauf prädestinierten fachlichen Personen und Institutionen sollen die Steuerung und Lotsenfunktion gesamtverantwortlich übernehmen. Dies ist auch in der Vergütung abzubilden.

5. Synergieeffekte an den Sektorengrenzen nutzen

Die reformresistente Struktur der Sektorengrenzen im Gesundheits- und Pflegewesen war Motivation für die Etablierung des Innovationsfonds. Mit Hilfe innovativer Prozesse und Strukturen sollten punktuell Sektorengrenzen überwunden und Schnittstellen optimiert werden. Trotz vielfältiger nachweislich positiver Projektergebnisse ist es nur in den seltensten Fällen gelungen, Impulse in die Regelversorgung einzuführen. Die Systematik der Innovationsfonds ist nicht umsetzungsfreundlich. Es sind von daher verbindliche Transformationspfade in die Regelversorgung festzulegen.

6. Reduzierung abrechnungstechnisch bedingter, nicht bedarfsorientierter Leistungserbringung

Fehl- und Überversorgung wird auch durch falsche finanzielle Anreize ausgelöst. Im Rettungsdienst, aber besonders in der ambulanten Versorgung werden Leistungen erbracht, die hauptsächlich finanziell begründet werden können. Eine systematische Analyse der Abrechnungssysteme ist geboten, um leistungsinduzierte Vergütungen zu verhindern. Vorrangig betrifft dies die antiquierte Quartalsabrechnung in der ambulanten Versorgung.

7. Öffnung des ärztlichen Behandlungsmonopols

Die primärmedizinische Versorgung ist alleindurch (haus-)ärztliche Einrichtungen nicht mehr zu gewährleisten. Wir brauchen zusätzlich neue fachliche Kompetenzen, die für definierte Behandlungsanlässe gesundheitliche Angebote selbstständig in der Versorgung anbieten können. Heilkundeausübung ist insofern für die akademisch qualifizierten Pflegefachpersonen zu eröffnen,die neben einer medizinisch/pflegerischen Kompetenz auch weitere gesundheitlich relevante Expertise einbringen können.

8. Bündelung der pflegerischen Verantwortung und Öffnung neuer Organisationsmodelle in der Pflegepraxis

In einer alternden Gesellschaft sind alle gesundheitlichen und pflegerischen Fachkräfte mit ihrer jeweiligen Kompetenz gefragt. Historische Alleinvertretungsanspruche und Abgrenzung zwischen den Berufsgruppen sind nicht mehr zeitgemäß. Besonders bei pflegerischen Sachverhalten ist es geboten, den Arztvorbehalt zurückzustellen und stärker auf die Professionalität der Pflege zurückzugreifen. Auch in der ambulanten Langzeitpflege sind neue Spielraume über erweiterte Organisations- und Strukturmodelle zu ermöglichen.

9. Digitale Transformation: Jetzt!

Die Bundesregierung hat mit ihrer Digitalstrategie und den entsprechenden Gesetzgebungsverfahren einen wichtigen Impuls für die Digitalisierung im Gesundheitswesen eingeleitet. Damit sowohl für die professionellen Nutzer_innen als auch für Bürger_innen und Patient_innen der Mehrwert einer Digitalisierung im Gesundheitswesen erkennbar wird, sind positiv erfahrbare Prozesse und Instrumente der digitalen Transformation schnell und spürbar einzuführen. Dafür eröffnet sich noch Spielraum der zeitnah genutzt werden kann.

10. Prävention gestalten

Präventiv vermeidbare Erkrankungen nehmen in Deutschland wieder zu. Gesundheitsförderung, Verhältnis- und Verhaltensprävention sind nicht entsprechend etabliert und werden zu wenig genutzt. Sie sind weiter auszubauen – wenn sich auch die gesundheitsfördernden Effekte erst mittelfristig einstellen werden. Kurzfristig können dagegen gesellschaftliche und ökonomische Fehlanreize für gesundheitsschädliche Lebensweisen reduziert werden.

Am Beispiel des gesetzlichen Nichtraucherschutz konnte für Deutschland belegt werden, dass regulative Maßnahmen eine hohe Wirksamkeit aufweisen: Durch Einschränkungen der Verfügbarkeit und preisliche Gestaltung können der Konsum gesundheitsschädlicher Produkte und Verhaltensweisen schnell und effektiv reduziert werden.

Mitwirkende Expert_innen

Dieses Positionspapier wurde auf Grundlage der Beratungen einer Expert_innengruppe erstellt. Die Inhalte des Papiers stellen nicht zwingend und in allen Punkten die Meinung jedes Mitglieds der Expert_innengruppe dar. Die Teilnehmenden haben als Privatpersonen an diesem Projekt mitgewirkt.

Prof. Dr. Sibel Altin
Inhaberin der Professur für „Gesundheits- und Pflegemanagement“ an der FRA-UAS Frankfurt University

Dr. Stefan Etgeton
Kulturwissenschaftler und Experte für Gesundheitspolitik, bis Marz 2023 tätig für die Bertelsmann Stiftung

Dr. Matthias Gruhl
Staatsrat a. D. der Freien und Hansestadt Hamburg, ehem. Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz (Moderation und Texterstellung)

Prof. Dr. Josef Hilbert
Honorarprofessor an den Fakultäten Medizin und Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum, Vorstand der MedEcon Ruhr, der Gesundheitswirtschaftsinitiative der Metropole Ruhr sowie Sprecher des Netzwerks Deutsche Gesundheitsregionen (NDGR e.V.)

Prof. Dr. Klaus Jacobs
Ehemaliger Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WldO), Honorarprofessor an der Fakultät fur Wirtschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen

Dr. Bernadette Klapper
Bundesgeschaftsführerin des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe (DBfK) e.V.

Dr. Carola Reimann
Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes

Prof. Dr. Jonas Schreyögg
Inhaber der Professur „Management im Gesundheitswesen“ an der Universitat Hamburg, wissenschaftlicher Direktor des Hamburg Center for Health Economics (HCHE)

Dr. Alexia Zurkuhlen
Geschaftsführendes Vorstandsmitglied des Gesundheitsregion KölnBonn e.V., Geschaftsführerin der HRCB Projekt GmbH, Institutsleiterin des gewi-Institut fur Gesundheitswirtschaft e.V.

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