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buch|essenz zur Ringvorlesung

Neue Dimensionen der Weltinnenpolitik

Mit der Ringvorlesung aus Anlass des 50-jährigen Jubiläums der Verleihung des Friedensnobelpreises an Bundeskanzler Willy Brandt werden die von Willy Brandt ausgehenden Impulse einer internationalen Politik mit Blick auf heutige Herausforderungen beleuchtet und die Kompetenz einer intellektuell und wissenschaftlich basierten politischen Auseinandersetzung breit argumentativ aufgezeigt.

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Mit der buch|essenz stellt die Akademie für Soziale Demokratie Sachbücher von besonderer Bedeutung für den gesellschaftlichen Diskurs als Buchzusammenfassungen für dich bereit.  Sowohl in schriftlicher Form als auch als Audio-Version bieten wir unseren Leser_innen kostenfrei prägnante Zusammenfassungen mit hohem inhaltlichem Anspruch und sozialdemokratischer Einordnung.

Malte Thießen (2021): Auf Abstand. Eine Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie, Frankfurt/Main: Campus Verlag.

Eine Buch-Essenz der Friedrich-Ebert-Stiftung,

kurzgefasst und eingeordnet von Rainer Fattmann.

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Kernaussagen

Malte Thießen begibt sich in seinem im September 2021, also kurz vor dem rasanten Anstieg der nunmehr vierten Coronawelle erschienenen Buch Auf Abstand auf eine Spurensuche nach den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen, Wandlungen und Folgen der Pandemie von der Warte der Geschichtswissenschaft aus. Seine Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie, so der Untertitel, stellt „die Ereignisse und Entwicklungen des Jahres 2020/21 in den Mittelpunkt, um diese anhand von Rückblicken ins 19., 20. und 21. Jahrhundert einzuordnen“.

Erst die historische Perspektive, so Thießens Überlegung, biete den Schlüssel für ein reflektiertes Verständnis dafür, was Corona auf der einen Seite besonders macht, was aber für den Umgang mit Seuchen andererseits als typisch anzusehen ist. Thießen reflektiert dabei auch die methodischen Herausforderungen, die mit dem Vorhaben, eine „Geschichte der Gegenwart“ zu schreiben, verbunden sind. Da sich die Coronapandemie in einer Vielzahl digitaler Quellen niedergeschlagen hat, von denen unzählige in den nächsten Jahren verloren gehen werden, ist eine erste Bilanz nicht nur möglich, sondern auch besonders dringlich.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Seine Publikation bietet gleich mehrere Ansatzpunkte für eine zugleich nachhaltige und in einem fortschrittlichen Sinn den Werten der Sozialen Demokratie verpflichtete Politik. Zu nennen sind unter anderem die folgenden Punkte:

  • Thießens Coronageschichte plädiert für die Einsicht, dass Pandemien keinen Ausnahmezustand darstellen, sondern – zumal in einer global vernetzten Welt – zunehmend als Normalzustand verstanden werden sollten.
     
  • Der Autor diskutiert die gewissermaßen im kollektiven Gedächtnis abgespeicherten historischen Erfahrungen mit vergangenen Seuchen, die eine angemessene, sprich: realistische Wahrnehmung der mit dem Coronavirus verbundenen Gefahren zunächst eher erschwerten als erleichterten.
     
  • Die philosophisch und ethisch herausfordernde, letztlich allein politisch zu beantwortende Frage nach dem Spannungsverhältnis von gesellschaftlichen Solidaritätsansprüchen auf der einen Seite und dem Verlangen nach persönlicher Entscheidungsfreiheit auf der anderen Seite zieht sich wie ein roter Faden durch den Band. Damit werden nicht nur Fragen der gesundheitspolitischen, sondern auch der im weiteren Sinne sozialpolitischen Herausforderungen und Konsequenzen der Pandemie zur Debatte gestellt.

buch|autor_in

Malte Thießen ist Leiter des Instituts für westfälische Regionalgeschichte in Münster und außerplanmäßiger Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Oldenburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte der Gesundheit, der Gesundheitsvorsorge und besonders der Impf- und Seuchengeschichte. Seine 2017 erschienene Habilitationsschrift über die Immunisierte Gesellschaft befasste sich mit der Geschichte des Impfens in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Ohne dass der Autor dies zu diesem Zeitpunkt hätte wissen können, rekonstruierte er so die Vorgeschichte der Impfdebatte, die sich nun seit fast zwei Jahren hinzieht.

buch|inhalt

Thießen beschreibt zunächst einleuchtend die fast schon vergessene Tatsache, in welchem Ausmaß die sich aufbauende Coronapandemie zu Beginn des Jahres 2020 nicht nur von der Politik und den Medien zunächst massiv unterschätzt wurde, sondern auch von vielen Experten und Expertinnen und der Bevölkerung. Und dies nicht nur in Deutschland. Noch Mitte März 2020 bewertete das Robert Koch-Institut das von Covid-19 ausgehende Gesundheitsrisiko für die Bevölkerung gerade einmal als mäßig. Die Ursache hierfür sieht Thießen darin begründet, dass das Bewusstsein für das Gefährdungspotenzial von Epidemien in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich abgenommen hat.

Während in den 1960er und 1970er Jahren die konkrete Gefährdung gerade der Jüngeren durch Infektionskrankheiten wie Polio vielen Menschen eine alltägliche Erfahrung war, führten in den folgenden Jahrzehnten erfolgreiche Impf- und Präventionskampagnen dazu, dass nicht nur einst verheerende Seuchen wie die Kinderlähmung, Diphtherie oder auch die Pocken weitgehend besiegt wurden, sondern auch dazu, dass sich das Bewusstsein der Gefährlichkeit von Seuchen aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit und auch der Politik mit der Zeit deutlich verringerte. Die Impfprogramme wurden so bis zu einem gewissen Grad Opfer ihres eigenen Erfolgs.

Nichtsdestotrotz verunsicherten in den zurückliegenden zwanzig Jahren Nachrichten wie über den Ausbruch des SARS-Virus in Hongkong 2002/3 oder die regelmäßig wiederkehrenden Berichte über die weltweite Verbreitung des Vogelgrippe-Virus immer wieder die Bevölkerung auch in Deutschland und Europa. 2014 sorgte die Ebola-Epidemie in Westafrika für einige Wochen noch einmal für Schlagzeilen.

Als fatal für die Bedrohungssensibilität der Coronapandemie erwiesen sich Thießen zufolge allerdings die Erfahrungen mit der Schweinegrippe, die im Herbst 2009 und zum Jahresbeginn 2010 die Öffentlichkeit in Atem gehalten hatte. Während selbst Qualitätsmedien zunächst in zahlreichen Horrorgeschichten über die Gefahren des neuen „Weltvirus“ berichteten und vor zigtausend Toten gewarnt hatten, verlief die neue Grippevariante schließlich glücklicherweise sehr mild. Die von den Bundesländern millionenfach kostspielig angeschafften Impfdosen blieben ungenutzt.

Die Verantwortlichen sahen sich nun harscher Kritik der Medien an einer grandiosen Vergeudung von Steuergeldern durch Hysterie und Panikmache ausgesetzt und blendeten dabei souverän aus, dass der nun selbstgerecht angeprangerte „Alarmismus“ von weiten Teilen der Presse nur wenige Monate zuvor selbst befeuert worden war.

Sündenböcke und Stereotype

Als weitere Erklärung für die 2020 nur zögerlich in Gang gekommene Bekämpfung von Covid-19 zieht Thießen das soziologische Konzept des Othering heran, das maßgeblich Simone de Beauvoir im Rahmen ihrer sozialwissenschaftlichen Theorie über die Geschlechterverhältnisse ausdifferenziert hat.

Ähnlich wie bei früheren Seuchen wurde Corona in der Frühphase der Pandemie als „Chinavirus“ und damit auch Krankheit „der Anderen“ angesehen. Bilder von vermeintlich rückständigen Chinesen mit unhygienischen Essgewohnheiten wurden – vereinzelt – selbst von Bundestagsabgeordneten aus dem demokratischen Parteienspektrum bemüht. Die Bilder verstärkten im Frühjahr 2020 eine Woge von Alltagsdiskriminierungen gegen „asiatisch aussehende“ Menschen, die zeitweise beängstigende Ausmaße annahm.

Das Bedürfnis, die unbekannte Bedrohung einzuordnen und der Gefahr ein Gesicht zu geben, suchte sich dann jedoch recht bald andere Adressaten. Seit dem März 2020 verschob sich der Fokus der Seuchenängste schnell auf skisportbegeisterte Winterurlauber, Feiernde sogenannter Corona-Partys und die Bevölkerung des Landkreises Heinsberg, der früh und besonders stark von der Pandemie gebeutelt war. Ein Ausbruch in einem fleischverarbeitenden Betrieb der Gütersloher Firma Tönnies verwandelte dann Ende Juni 2020 auf einen Schlag „sämtliche Gütersloher:innen zu leibhaftigen Bedrohungen“ der Volksgesundheit. Selbst im beschaulich-bürgerlichen Münster wurden Autos mit Gütersloher Kennzeichen zerkratzt und Menschen aus Gütersloh beschimpft und beleidigt.

Wendepunkt Bergamo

Zu diesem Zeitpunkt hatten die Ereignisse, die im März 2020 im norditalienischen Bergamo zu beobachten waren, die Stimmung in der Bevölkerung zum Kippen gebracht. Erst nach Bergamo und den von dort gesendeten, an Endzeitfilme gemahnenden Bildern von Kranken und Gestorbenen in überfüllten Krankenhausfluren und von Militärkonvois zum Abtransport der an dem Virus Verstorbenen wurde Corona auch in Deutschland als unmittelbare Bedrohung angesehen.

Hatten sich die meisten gerade noch in trügerischer Sicherheit gewogen, schlug das Pendel nun mit Rasanz in die gegenteilige Richtung um. Folgen waren Panikkäufe haltbarer Lebensmittel, erstaunlicherweise auch von Toilettenpapier, und erstmals seit Jahrzehnten leere Supermarktregale wichtiger Güter des täglichen Bedarfs.

Als sich am 18. März 2020 Bundeskanzlerin Angela Merkel erstmals während ihrer langen Kanzlerschaft in einer Fernsehansprache direkt an die gesamte Bevölkerung in Deutschland wandte, hatte sich Corona endgültig als das politische und gesellschaftliche Zentralthema schlechthin etabliert. Die Pandemie hatte, wie die Kanzlerin erklärte, unsere „Vorstellung von öffentlichem Leben, von sozialem Miteinander [...] auf die Probe gestellt wie nie zuvor“. Ihre „Appelle an eine Verantwortungsgemeinschaft, in der jeder für jeden einstehen müsse, an Selbstverantwortlichkeit und Solidarität für die Schwachen, setzten drei Schwerpunkte der Rede und damit den Tenor für die politische Kommunikation der folgenden Wochen“.

Was aber ist das historisch Besondere an der Coronapandemie?

Die von den Bundes- und Landesregierungen ab dem März 2020 verhängten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie waren in der Geschichte der Bundesrepublik ohne Beispiel und erweckten den Eindruck eines Ausnahmezustands, der nahezu alle Bereiche des öffentlichen Lebens betraf.

Die Sorge um die Alten und Erkrankten und die Solidarität mit den vulnerablen Bevölkerungsgruppen führte dazu, dass das von Politik und Sachverständigen zunächst als medizinisch unsinnig und mit westeuropäischen Wertvorstellungen unvereinbar abgelehnte Tragen von Masken nach Einführung einer Maskenpflicht beim Einkauf und im Nahverkehr Ende April 2020 vom Großteil der Bevölkerung anstandslos akzeptiert wurde. Das galt im Grundsatz auch für die einschneidenden Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen während der wiederholten Lockdowns. Für die Proteste der sogenannten Querdenker und aus dem rechtsradikalen und -populistischen Lager gegen die Coronamaßnahmen findet Thießen in der Seuchengeschichte zahlreiche Parallelen.

Mehr noch: Als nach Anbruch des Superwahljahres 2021 die politisch Verantwortlichen ähnlich einschneidende Maßnahmen wie im Vorjahr zur Brechung der nunmehr dritten Welle der Pandemie lange Zeit hinauszögerten, sahen sie sich nicht nur der geharnischten Kritik führender Autoritäten im Bereich der Epidemiologie und Virologie wie Melanie Brinkmann ausgesetzt, sondern auch weiten Teilen der Medien und der Öffentlichkeit. Erstmals wurde nun auch der Gedanke einer zuvor von der Politik kategorisch ausgeschlossenen Impfpflicht mit zunehmender Intensität diskutiert.

Medizinhistorisch Versierte erinnerten daran, dass die Impfpflicht gegen verschiedene Infektionskrankheiten (im Verein mit niederschwelligen Impfangeboten) in Ost- und Westdeutschland zu einer der weltweit höchsten Impfquoten geführt hatte. Das in beiden deutschen Staaten bis in die 1970er Jahre gültige, bereits 1874 verabschiedete Reichsimpfgesetz hatte die Pockenimpfung aller Kinder in ihrem ersten und zwölften Lebensjahr jahrzehntelang verbindlich vorgeschrieben.

Die Sorge um Alte und Kranke während der Coronapandemie und die damit begründeten politischen Maßnahmen unterscheiden sich dabei Thießen zufolge fundamental vom Umgang beispielsweise mit der sogenannten Hongkong-Grippe. An ihr starben 1968 bis 1970 weltweit bis zu vier Millionen Menschen. Die Verheerungen dieser Grippe aber sind aus dem kollektiven Gedächtnis erstaunlicherweise völlig verschwunden.

Auch in der alten Bundesrepublik war das Gesundheitssystem im Winter 1969/70 an die Belastungsgrenze geraten. Die Zahl der Verstorbenen wurde nach Abflauen der Pandemie im Frühjahr 1970 auf 50.000 Menschen geschätzt. Insgesamt nahmen Politik und Gesellschaft das massenhafte Sterben anders als in der aktuellen Pandemie mehr oder minder gelassen in Kauf.

Den für eine Einordnung der Gegenwart wichtigsten Grund hierfür sieht Thießen in „einem neuen Erfahrungsraum der Deutschen, die Gesundheit und Krankheit nun anders bewerten“ als noch 50 Jahre zuvor. Seit den 1970er und 1980erJahren hatten fundamentale Verbesserungen der Gesundheitsvorsorge und andere Faktoren den Deutschen nicht nur zu einer Verlängerung der durchschnittlichen Lebenserwartung verholfen; sie hatten auch Vorstellungen eines erfüllten und aktiven Lebens im „vierten Lebensalter“ nach dem Beruf und überhaupt ein gesundes Leben „als letztes Fortschrittsversprechen der Moderne“ verinnerlicht.

Es kam zu einem breiten gesellschaftlichen Konsens der Gegenwartsgesellschaft, dass auch das Leben der Älteren gegenüber äußeren Bedrohungen wie einer Epidemie zu schützen sei, selbst um den Preis wirtschaftlicher Verwerfungen und Einbußen. Das ist somit nicht nur als historisches Novum zu begreifen, sondern durchaus auch eine tröstliche Erkenntnis.

Allerdings zeigte sich im Verlauf der Pandemie auch, dass nicht alle Bevölkerungsgruppen in Deutschland von den wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Coronakrise im gleichen Maß betroffen waren. Thießen beschreibt eindringlich, wie die Pandemie nicht allein die Schwächen eines zunehmend an Profitinteressen orientierten Gesundheitssystems offenlegte und verstärkte, sondern auch soziale Ungleichheiten.

Insbesondere wurden mühsam erkämpfte gleichstellungspolitische Geländegewinne wieder zur Disposition gestellt: durch Kontaktbeschränkungen, Kindergarten- und Schulschließungen, die Einschränkung besonders der Dienstleistungsberufe sowie durch die erneute Zuweisung der nun verstärkt anfallenden Carearbeit an die Frauen.

Während die Pandemie zunächst weithin als der große „Gleichmacher“ zumindest zwischen Armen und Reichen rezipiert wurde, gewann im weiteren Verlauf der Pandemie die Einsicht an Boden, dass sich soziale Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern und zwischen privilegierten und unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen noch verstärkt hatten.

Erst die Zukunft wird erweisen, ob die dann besonders im Frühjahr 2021 – bereits im Zeichen der anstehenden Bundestagswahl – ins Leben gerufenen Landes- und Bundesprogramme zur Abfederung der sozialen Folgen der Pandemie diesen Trend abmildern oder gar brechen konnten und ob sie vielleicht sogar den Beginn eines sozialpolitischen Paradigmenwechsels markieren.

buch|votum

Malte Thießen kontrastiert in seinem Buch die sozialen und politischen Folgen der Coronapandemie mit der Geschichte der Seuchen, die Deutschland und die Welt seit dem späten 19. Jahrhundert heimgesucht haben. Er fragt danach, was am Verlauf der gegenwärtigen Pandemie als besonders anzusehen ist, aber auch, welche aus der Seuchengeschichte bekannten typischen Muster zu erkennen sind.

Auch wenn sich die Darstellung auf Deutschland konzentriert, wird Gesundheit dabei immer als Weltgesundheit verstanden und Thießen kritisiert zu Recht die politisch wie vermutlich auch epidemiologisch höchst fragwürdigen zwischenzeitlichen Abschottungspraktiken der Bundesrepublik gegenüber dem Ausland und selbst einiger Bundesländer innerhalb Deutschlands.

Zugleich wirft das Buch erhellende Schlaglichter auf die vielen strukturellen Probleme, die in diesem Land nicht allein im Gesundheitswesen bestehen, und damit auf grundlegende Fragen des sozialen Zusammenhalts. Es ist somit allen an gesellschaftspolitischen Gegenwartsfragen Interessierten zu empfehlen, zumal es einen trockenen akademischen Jargon vermeidet und durchgehend spannend zu lesen ist.

Nick Bostrom (2020): Die verwundbare Welt. Eine Hypothese, Berlin: Suhrkamp.

Eine Buch-Essenz der Friedrich-Ebert-Stiftung,

kurzgefasst und eingeordnet von Hans-Peter Schunk.

buch|essenz

Kernaussagen

Unsere Welt ist verwundbar, potenziell droht sogar durch die fortschreitende technologische Entwicklung eine vollständige Selbstzerstörung der menschlichen Zivilisation. Nick Bostrom hält es für nicht unwahrscheinlich, dass in Zukunft durch technologische Errungenschaften selbst einzelne Individuen dazu befähigt wären, die gesamte Menschheit auszulöschen. Gleiches gilt sowohl für Staaten, die einen militärtechnologischen Vorsprung errungen haben, als auch für die unkontrollierten Folgen des Klimawandels oder einer noch unbekannten Technologie, deren zerstörerisches Potenzial heute nicht abzuschätzen ist. Lösungen sieht Bostrom für solche Szenarien lediglich in flächendeckender Überwachung und einer Global Governance.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Aus Sicht der Sozialen Demokratie ist es sinnvoll, über die Erhaltung des Weltfriedens und der menschlichen Sicherheit nachzudenken; in Anlehnung an Willy Brandts Entspannungspolitik, die sich im Rahmen der Mutual assured Destruction abspielte – einem bedrohlichen Untergangsszenario gemäß Bostroms Überlegungen.

buch|autor_in

Nick Bostrom, 1973 in Helsingborg geboren, ist ein schwedischer Philosoph an der Universität von Oxford, wo er das Future of Humanity Institute als Gründungsdirektor leitet. Von ihm sind über 200 Publikationen zu Bioethik und Technikfolgenabschätzung erschienen, wie beispielsweise die Bücher Superintelligence, Human Enhancement und Global Catastrophic Risks.

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Die „Verwundbare-Welt-Hypothese“

Nick Bostrom führt ein dramatisch zugespitztes Gedankenexperiment durch, bei dem er politische und technologische Erkenntnisse auf eine formallogische Ebene hebt. Er

leitet dazu an, sich die menschliche Kreativität und den wissenschaftlichen Fortschritt wie ein Urnenmodell vorzustellen. Bei großen Erfindungen hat die Menschheit bisher immer weiße oder graue Kugeln gezogen. Weiße Kugeln stehen für positive Entwicklungen, während graue Kugeln Entwicklungen repräsentieren, die sowohl positive als auch negative Eigenschaften besitzen. In der Urne lauern jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit auch schwarze Kugeln, die bei ihrer Entnahme zur vollständigen Zerstörung der menschlichen Zivilisation führen könnten. Dass bisher keine dieser schwarzen Kugel gezogen wurde, liegt daran, dass die Menschheit bisher Glück hatte.

Die verschiedenen Typen der Bedrohung

Bostrom kategorisiert solche Bedrohungen der Menschheit in einer sogenannten Schwachstellentypologie. Die erste Bedrohung – Typ-1 genannt – besteht gemäß seiner hypothetischen Betrachtung darin, dass sich jeder einzelne eine Atombombe zu Hause bauen könnte.

Man stelle sich einmal vor: Bei der Entdeckung der Kernspaltung wäre nicht ersichtlich geworden, dass es äußerst aufwendig ist, aus radioaktivem Material größere Mengen an Energie freizusetzen. Stattdessen wäre dies etwa mithilfe einiger Alltagsgegenstände und einem kleinen Stromimpuls möglich gewesen. Die Folgen wären katastrophal gewesen.

Stellt man sich vor, dass bei der Entdeckung der Kernspaltung nicht ersichtlich geworden wäre, dass es äußerst aufwendig ist, aus radioaktivem Material größere Mengen an Energie freizusetzen, sondern dass dies etwa mithilfe einiger Alltagsgegenstände und einem kleinen Stromimpuls möglich gewesen wäre, wären die Folgen katastrophal gewesen. Zum einen wäre wohl das Wissen darüber rasch in den Umlauf geraten, zum anderen fänden sich stets einzelne Individuen (der „apokalyptische Rest“: Nihilisten, Revanchisten, Personen, die schlicht sehen wollen, was passiert), die einen solchen selbstgebauten atomaren Sprengkopf zünden würden.

Typ-2a stellt das Szenario eines „sicheren Erstschlags“ dar, bei dem mächtige Akteure wie Staaten einen militärtechnologischen Vorsprung vor ihren Widersachern errungen hätten. Bei der Benutzung dieser vermeintlich sicheren Technologie, könnte jedoch unerwartet die menschliche Zivilisation gefährdet werden.

Weiterhin in Betracht kommt Typ-2b, bei dem sich die Folgen des Klimawandels irgendwann zu einer Existenzbedrohung verdichtend potenzieren würden. Ausgelöst würde dies durch das Zusammenwirken von Individuen überall auf der Welt, die zu ihrem eigenen Nutzen das Schadenspotenzial neuer Technologien ignorieren.

Die letzte große Bedrohung – Typ-0 – wird beschrieben als eine „überraschend seltsame Materie“. Sie ist gleichsam eine Wildcard für eine beliebige Technologie, die ein verstecktes Risiko beinhaltet, sodass ihre Entdeckung zu einer unbeabsichtigten zivilisatorischen Verwüstung führen würde. Anschaulich dargestellt wird der letzte Fall etwa durch das Entstehen eines schwarzen Lochs aufgrund falscher Kalkulationen bei einem Teilchenbeschleuniger.

Der allgemeine Verzicht auf technologischen Fortschritt ist keine wirkliche Option, jedoch wären bei riskanter Forschung begrenzte Einschränkungen erfinderischer Tätigkeiten durchaus sinnvoll. Nicht alles, was machbar ist, muss auch erforscht werden respektive sofort erforscht werden. Mitunter spielt auch die Reihenfolge von Erfindungen eine bedeutende Rolle, bei der etwa idealerweise eine schützende vor der schädlichen Technologie entwickelt wird. Explizit zu fördern wären zudem Technologien, die vorwiegend schützen, indem sie etwa eine effizientere Überwachung von Krankheitsausbrüchen ermöglichen.

Insbesondere die unbeschränkte Entwicklung biosynthetischer Stoffe birgt Gefahren. Vorstellbar ist, dass es durch die Entwicklung eines geeigneten Stoffs für einen Durchschnittsmenschen möglich wäre, rund eine Million Menschen zu töten. Mithin wäre es dann genauso wahrscheinlich, dass damit auch gezielt eine Milliarde oder die ganze Menschheit ausgelöscht werden könnte.

Neben der Beeinflussung der Richtung der Forschung gäbe es weitere mögliche Maßnahmen, solche zivilisatorischen Schwachstellen zu schließen. Zu diesen zählen das Verhindern der Ausbreitung gefährlicher Informationen, das Einschränken des Zugangs zu erforderlichen Geräten und Materialien samt weitreichenden Backgroundchecks für Mitarbeitende im biotechnischen Bereich. Weitere Maßnahmen wären, das Abschrecken potenzieller Übeltäter durch hohe Strafen und das Schaffen von Überwachungs- und Durchsetzungsmechanismen, die Versuche zur Durchführung einer destruktiven Handlung vereiteln könnten.

Lösung durch Stabilisierung des „semi-anarchischen“ Zustands

Um den verschiedenen Schwachstellentypen entgehen zu können, gilt es, einen sicheren Zustand zu erreichen. Derzeit verweilt die Welt noch in einem „semi-anarchischen“ Ausgangszustand. Stabilisierungsmöglichkeiten, die zu ergreifen wären, sind neben der Beschränkung der technologischen Entwicklung vor allem der Aufbau eines äußerst effektiven, präventiven Polizeiapparats und das Etablieren einer effektiven Global Governance.

Zur sicheren Stabilisierung des „semi-anarchischen“ Zustands braucht es insbesondere für Typ-1-Schwachstellen eine präventive Polizeiarbeit. Durch einen ausgeprägten Überwachungsapparat könnten Staaten ihre Bürger_innen genug kontrollieren, um jede Person ausfindig zu machen, die einen Akt der Massenvernichtung vorbereitet.

Vorgesehen wäre ein „High-Tech-Panoptikum“, bei dem alle Bürger_innen ein „Freiheitskettchen“ (eine Hightech-Fußfessel um den Hals) tragen würden, ausgestattet mit ausreichend Kameras und Mikrofonen. Mithilfe von KI-Algorithmen könnten durch das Hochladen von Daten in eine Cloud die Tätigkeiten klassifiziert werden. Drohnen oder schnelle Einsatzgruppen könnten dann bei potenzieller Gefahr rasch handeln.

Durch anspruchsvolle Maßnahmen wie Verpixelungen soll der Schutz der Privatsphäre gewährleistet werden. Für weniger als ein Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts könnte bei niedrigen Betriebskosten die gesamte Weltbevölkerung allumfassend in

Echtzeit überwacht werden. Eine präventive Inhaftierung potentieller Straftäter wäre ebenfalls vorstellbar, wenn sie von einer Global-Governance-Institution kontrolliert werden. Die Global Governance entspräche gleichsam einer Art Weltregierung. Diese wäre insbesondere bei den anderen Schwachstellentypen notwendig.

Bei Schwachstelle Typ-2a würden Institutionen zur Inspektion eingerichtet werden, die verhindern, dass es zu einem „sicheren Erstschlag“ kommen könnte, falls sich die Staaten nicht auf eine Verschrottung der Atomwaffen einigen. Eine Global-Governance-Institution könnte überdies zur Abschreckung selbst ein Atomwaffenarsenal in Reserve halten.

Bei einer Pandemie wären Staaten angewiesen und gezwungen, ihre Bürger_innen mithilfe ausgefeilter Mechanismen zu überwachen. Weiterhin sollte gemäß der Typ-2b-Schwachstelle die Global Governance die Staaten dazu veranlassen, auf einzelne Akteure derart einzuwirken, dass diese nicht ohne Eigeneinsatz von den kostspieligen Klimaschutzmaßnahmen anderer profitieren.

buch|votum

Bostroms Ausführungen sind fortschrittsskeptisch und latent apokalyptisch. Seine Typologie erscheint manchmal konfus und ist auch teils steril formuliert, zudem sind seine Abgrenzungen nicht immer eindeutig. Zwar benennt er einige Nachteile seiner Lösungsansätze, wie etwa, dass despotische Regime die Kontrollmechanismen zur Unterdrückung nutzen könnten. Dennoch wirken einige seiner Vorschläge aus heutiger Sicht sehr befremdlich, trotz des Rahmens des Gedankenspiels.

Historische und gesellschaftliche Umstände der Technologie werden nicht in den Blick genommen. Freiheitsrechte seien in einer Welt, in der die totale Vernichtung droht, schließlich nicht der höchste Wert. Verdienst seines sehr kurzen Buchs (im Englischen ist es ein Aufsatz) ist es hingegen, für eine Sensibilisierung unhinterfragten Fortschritts zu werben sowie ein intensiveres Bewusstsein der Verwundbarkeit der menschlichen Existenz. Auch könnte das Nachdenken über eine verstärkte internationale Zusammenarbeit im Sinne seiner Global Governance ein Ansatz sein, zwischenstaatlichen Wettbewerb abzubauen und ein Klima des Vertrauens zu schaffen.

Einzelne von Bostrom aufgeworfene Aspekte wie sein Werben für die vollständige Verschrottung aller Atomwaffen dürften sicherlich im Sinne der Sozialen Demokratie sein und deren Vision von einer friedlichen Welt. Eine allumfassende Überwachung zur Gewährleistung absoluter Sicherheit zu Lasten grundlegender Freiheiten, wie es heute bereits in China zu beobachten ist, widerstrebt jedoch der Sozialen Demokratie und ihren traditionellen Vorstellungen von einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft.


Thomas Rid (2018): Mythos Cyberwar. Über digitale Spionage, Sabotage und andere Gefahren, Hamburg: Edition Körber

Eine Buch-Essenz der Friedrich-Ebert-Stiftung,

kurzgefasst und eingeordnet von Hans-Peter Schunk.

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Kernaussagen

Der Begriff Cyberkrieg ist laut Thomas Rid eine misslungene und überstrapazierte Metapher. Einen Cyberkrieg hat es bisher nicht gegeben und wird es auch nicht geben. Dies wird nicht zuletzt aus der Definition eines Krieges selbst ersichtlich. Bei groß angelegten Angriffen aus dem Netz lohnt es sich vielmehr, zwischen den Begriffen der Spionage, Sabotage und Subversion im Cyberspace zu differenzieren. Sie bieten analytisch eine bessere Aufklärung über die realen Gefahren der digitalen Vernetzung.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Das Internet verändert rasant die Arbeitswelt, schafft Zugang zu neuem Wissen und ermöglicht Partizipationsmöglichkeiten im Rahmen demokratischer Prozesse. Aus Sicht der Sozialen Demokratie bietet dies viele Chancen, aber auch Herausforderungen für eine sozialere und gerechtere Gesellschaft. Dies bedarf einer aufgeklärten Netzpolitik, die sich dabei auch den realen Gefahren digitaler Vernetzung nicht verschließen darf.

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Thomas Rid, 1975 in Aachen geboren, studierte Politikwissenschaft in Berlin und London. Von 2011 bis 2016 hatte er eine Professur am King’s College in London inne und ist seitdem Professor an der John Hopkins University in Baltimore. 2016 erschien sein Buch Maschinendämmerung. Eine kurze Geschichte der Kybernetik.

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Was ist Cyberkrieg?

Gemäß dem preußischen Militärstrategen Carl von Clausewitz birgt der Krieg drei zentrale Elemente: die gewaltsame Natur, den instrumentalen Charakter und die politische Ausrichtung. Ohne ein konkretes physisches Gewaltpotenzial kann nicht von einer kriegerischen Handlung gesprochen werden.

Digitale Attacken finden keine konkrete Ausprägung physischer Gewalt, ausgenommen etwa der Fall, es käme nach einem Angriff auf das Steuerungsnetzwerk eines Kernkraftwerks zu einer Kernschmelze mit vielen Verletzten und Toten.

Bei einem kriegerischen Akt werden zudem bestimmte Mittel zu bestimmten Zwecken eingesetzt.

Clausewitz hat in seinem berühmtesten Satz formuliert: „Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“ Diesem Denkansatz entsprechend muss es ein politisches Gebilde geben, das einer anderen Partei seine Absichten zum Ausdruck bringt.

Mithilfe oder unter Androhung von Gewalt versucht der Angreifer, in einem kriegerischen Akt zielgerichtet dem Feind den Willen des Angreifers aufzuzwingen. „Die politische Absicht ist der Zweck, der Krieg das Mittel, und niemals kann das Mittel ohne Zweck gedacht werden.“ Jede Kriegshandlung lässt sich letztendlich zuordnen.

Angreifer aus dem Netz haben aber meistens ein Interesse daran, nicht mit ihren Taten in Verbindung gebracht werden. Die Clausewitz’schen Kriterien gelten somit nicht immer. Alle bisher bekannten „Cyber-Kriegsakte“ lassen sich weder als gewöhnliche Verbrechen noch als konventionelle Kriege verzeichnen. Sinnvoller ist es, sie gemäß ihren Intentionen in Sabotage, Spionage und Subversion zu gliedern.

Gewalt

Bisher ist kein Mensch durch einen Cyberangriff ums Leben gekommen, da Computercodes nur auf Maschinen, nicht auf Menschen einwirken können. Cyberangriffe können nur indirekt mit Gewalt verbunden sein, obgleich sie dieselben Ziele erreichen können wie politische Gewalt: Sie können das Vertrauen in bestimmte Institutionen, Systeme oder Organisationen zerstören, wenn Sicherheitslücken bekannt werden oder wenn Funktionen infolge eines Angriffs ausfallen. Weiterhin verfügen Cyberangriffe über eine emotionale Komponente. Etwa beim größten bekannten Cyberangriff Stuxnet, bei dem das iranische Atom-Anreicherungsprogramm attackiert wurde: Damals fingen die Mitarbeiter_innen an, sich gegenseitig zu beschuldigen.

Dennoch vermögen Cyberangriffe nicht, emotional den gleichen Schmerz und das gleiche Leid zu verursachen wie gezielte Bombardierungen eines Landes. Weiterhin ist auch der symbolische Gehalt eingeschränkt. Durch eine Pistole im Halfter oder eine große Militärparade können wirkliche Drohkulissen aufgebaut werden. Die gleiche Schlagkraft lässt sich jedoch nicht durch codebasierte Gewalt erzeugen und stößt somit in körperlicher, emotionaler und symbolischer Hinsicht an seine Grenzen. Cybergewalt ist weniger physisch, weil sie immer indirekte Gewalt ist, sie ist weniger emotional, weil sie immer weniger persönlich und intim ist. Da symbolische Gewalt im Cyberspace nur sehr begrenzt funktioniert und selten auf die gleiche Weise wiederholt werden kann, ist codebasierte Gewalt auch weniger instrumentell als konventionale Formen der Gewaltanwendung.

Cyberwaffen

Die Definition einer Cyberwaffe ist schwierig. Waffen sind Schädigungswerkzeuge. Ein Programmcode, der gezielt Server überlastet, fügt streng genommen keiner Entität unmittelbaren Schaden zu. Ebenso wie bei Spionage und der Übernahme von geistigem Eigentum entsteht der Schaden indirekt, meist durch eine ungünstige Markt- und Machtposition. Ferner hängt die Zweckmäßigkeit einer Waffe essenziell von der Wahrnehmung des Bedrohten ab. Überfällt ein Angreifer eine Bank mit einer Softair-Pistole, verliert diese das Bedrohungspotenzial, sobald erkannt wird, dass es sich nicht um eine echte Waffe handelt. Öffentlich bekannte Cyberwaffen verfügen über eine deutlich geringere Schlagkraft, als gemeinhin angenommen wird. Außerdem ist nicht immer eindeutig, wann ein Angriff auf ein Ziel anfängt oder aufhört, das Instrument eines bestimmten Angreifers zu sein. Wenn der Angreifer – wie bei einem sich ausbreitenden E-Mail-Wurm – nicht in der Lage ist, das schädigende Instrument zu kontrollieren, verliert es seinen zentralen instrumentellen Charakter.

Sabotage

Sabotage ist der gezielte Versuch, ein ökonomisches oder militärisches System zu schwächen oder zu stören. Dabei ist sie immer technischer Natur, bedient sich aber gegebenenfalls sozialer Vehikel. Wenn es zur Anwendung von Gewalt kommt, sind bevorzugt Gegenstände und nicht Menschen das Ziel. Bei einem Angriff gegen die größte Ölfördergesellschaft der Welt, Saudi Aramco, wurden beispielsweise 30.000 Festplatten von Computern dauerhaft gelöscht. Saboteure verzichten häufig auf offene Gewalt und politische Zuschreibung, weshalb es nicht als bewaffneter Angriff anzusehen ist. Sabotage ist immer instrumentell.

Vor dem digitalen Zeitalter schlug Sabotage schnell von Gewalt gegen Maschinen in Gewalt gegen Menschen um. Gewaltlose Cyberangriffe können jedoch wirkungsvoller, schädigender und instrumenteller sein als Angriffe, die mit Gewalt verbunden sind. Da fast alle Akte von Computersabotage bislang gewaltlos blieben, ist Sabotage gleichsam gewaltfreier.

Spionage

Spionage ist als das geheime Sammeln von Erkenntnissen entweder durch Abfangen von Nachrichten oder durch Eindringen in fremde Computernetzwerke zu verstehen. Cyberspionage ist vollkommen gewaltfrei, aber äußerst gefährlich. Häufig geschieht Spionage mithilfe sozialer Manipulation oder „spear-fishing“. Hierbei erhalten Mitarbeiter_innen eines Konzerns von einem vermeintlichen Kollegen_in gefälschte E-Mails, in denen sie dazu auffordert werden, Daten oder Passwörter preiszugeben. Dadurch wird der Zugang zu großen Datenmengen eröffnet. Große Datenmengen bedeuten aber zugleich, dass ein erheblicher Aufwand betrieben werden muss, um aus den verfügbaren Daten verwertbare Ergebnisse zu gewinnen. Big Data heißt überdies, dass Nachrichtendienste viel mehr Daten sammeln können, als sie sinnvoll zu analysieren imstande sind.

Subversion

Subversion ist komplex und intellektuell herausfordernd: Sie zielt auf die Köpfe der Menschen, nicht auf Maschinen und funktioniert über das Aushöhlen von sozialen Bindungen, Überzeugungen und Vertrauen in kollektive Organe wie den Staat. Das Ziel kann entweder darin bestehen, eine herrschende Wirtschafts- oder Regierungsordnung zu stürzen – oder darin, diese gegen ihren Willen zu bestimmten Handlungen zu zwingen.

Subversion kann als eigenständiges Instrument gedacht werden, das bestimmte Ziele gewaltlos erreicht. Sie kann von einem Hauptkampffeld ablenken oder als Vorstufe zu einem intensiveren gewaltsamen Aufruhr geplant sein. Meist dient sie aber gemäßigteren Zielen als der Aufstand. Der Cyberspace verändert das Wesen der Subversion; ebenso sehr zum Vorteil wie zum Verdruss der Aktivist_innen. Die Technologie hat die Einstiegskosten verringert, aber die Schwelle zum Erfolg deutlich angehoben.

Subversion orientiert sich heute viel stärker an konkreten Anliegen, nicht mehr an großen Narrativen wie in der Vergangenheit. Die Organisationsstruktur einer subversiven Bewegung zeichnet sich durch hohe Mitgliederfluktuation, flache Hierarchien und ein geringes Maß an Kontrolle aus. Selten existieren Mitgliederdatenbanken, die meisten Mitglieder bleiben einander gar unbekannt, was die Antiglobalisierungsbewegung illustriert. Das Anliegen ist die treibende Kraft, welche die Quelle des Zusammenhalts darstellt.

Die subversiven Bewegungen der heutigen Zeit sind vielfältig und profitieren von digitaler Vernetzung. Dies zeigt sich bei Tierrechtsaktivist_innen, Occupy Wallstreet oder dem Arabischen Frühling. Bei Letzterem wurden mithilfe von Facebook große Menschenmassen mobilisiert, die das herrschende System herausforderten, was in einigen Fällen in einer blutigen Niederschlagung mündete.

Ein gewisses Maß an subversiver Aktivität ist in jedem politischen System die unerlässliche Bedingung dafür, die Möglichkeit für ein freies, offenes und kritisches Gemeinwesen zu schaffen. Denn wer die geltende Autorität auf konstruktive Art und Weise infrage stellt, leistet oftmals einen Beitrag zur Verwirklichung einer dynamischen, anpassungsfähigen und innovativen Kultur – dies gilt gleichermaßen in Geschäftsleben wie in Wissenschaft und Politik. Die Grenze zwischen dem, was legal und was illegal ist, wird permanent neu verhandelt, und die legislativen Maßnahmen und Gesetze eines Staates sind Ausdruck dieser politischen Debatten.

Mit der Ergänzung um das Recht auf Widerstand – durch Absatz 4 in Artikel 20 des Grundgesetzes – wurde 1968 in Deutschland Subversion verfassungsrechtlich institutionalisiert. Generell zeigt sich in liberalen Demokratien eine legale Praktizierung und Institutionalisierung von Subversion an Universitäten, in Sprache, auch in Kunst oder Literatur. Liberale Demokratien müssen demzufolge herausfinden, wie sich das Recht auf Widerstand und die bürgerlichen Freiheiten wieder mit der nationalen Sicherheit in ein Gleichgewicht bringen lassen.

Attribution

Attribution, die Schwierigkeit eine Attacke bis zu einem oder mehreren Angreifern zurückzuführen, ist mehr ein politisches als ein technisches Problem. Das Attributionsproblem richtet sich insbesondere nach der Schwere eines Angriffs. In den meisten Fällen von Cyberspionage reichen die Informationen nicht für einen Rückschluss auf die Motivation der Angreifer aus. Gibt es keinen Akteur, der die Verantwortung übernimmt, läuft die Identifikationszuschreibung immer auf Ebene des Ermessens.

Je zerstörerischer und gewaltsamer ein Angriff ist, desto mehr steht politisch auf dem Spiel. Und je mehr politisch auf dem Spiel steht, desto eher kann das angegriffene Land das mutmaßliche Angreiferland dazu zwingen, kriminaltechnische Untersuchungen aktiv zu unterstützen. Die Beweislast wird auf den Verdächtigen geschoben. Ein fehlendes Kooperieren würde als Schuldeingeständnis interpretiert. In einer solchen Extremsituation würde man das Attributionsproblem höchstwahrscheinlich in einem akzeptablen Zeitrahmen lösen können. Kommt es also zu einem „Cyberkrieg“, wird sich das Attributionsproblem in Wohlgefallen auflösen, denn Attribution ist immer Ermessenssache.

Jenseits des Cyberkriegs

Mit martialischer Symbolik versehen, werden Cyberkonflikte als „Kriegsführung im fünften Bereich“ bezeichnet, was nicht angemessen ist: Es findet keine Militarisierung des Cyberbereichs statt. Das Einzige, was tatsächlich militarisiert wurde, ist die Debatte um den Cyberspace. Eine Zunahme von Cyberattacken ist vielmehr nichts anderes als ein Angriff auf die Gewalt selbst. Gewaltakte im Cyberspace sind weniger physisch, weniger emotional, weniger symbolisch und weniger instrumentell als konventionelle Formen politischer Gewalt.

Bei einem Sabotageakt ist es wahrscheinlicher, dass sich Saboteure für den gewaltlosen Weg entscheiden. In der Anfangsphase erfordert die subversive Zersetzung einer herrschenden Autorität weniger Gewalt als früher, wenngleich es schwieriger geworden ist, eine aufkeimende subversive Bewegung zu revolutionärem Erfolg zu führen. Aufgrund der arbeitsintensiven Vorbereitung (Informationen beschaffen, coden, testen etc.) ist die Reihe der möglichen großen Ziele für Cyberangriffe viel begrenzter als gemeinhin angenommen; das Gegenteil gilt für solide Abwehrmaßnahmen. In kurzer Zeit gibt es Patches und angemessene Schutzmaßnahmen.

Das Problem der Wiederholbarkeit schränkt das Drohpotenzial destruktiver Cyberattacken erheblich ein. Der Cyberspace begünstigt somit die Seite der Verteidigung anstatt den Angreifer. Erfolgreiche Attacken gegen die bestgeschütztesten Ziele ereignen sich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht ohne die finanzielle und technische Unterstützung eines staatlichen Akteurs. Die politische Zweckmäßigkeit von Cyberattacken ist bisher begrenzt gewesen und wird es auch bleiben.

Die Herausforderung für liberale Demokratien besteht darin, nicht Subversion per se einzudämmen, sondern die richtige Form von Subversion zu erhalten, die demokratische und unternehmerische Selbsterneuerung überhaupt erst möglich macht. Wie sollte in einer offenen, liberalen Demokratie die Grenze zwischen regenerativer Subversion, die in den wirklich freien Ländern in die Verfassungen eingeschrieben ist, und illegalen subversiven Aktivitäten ausgehandelt und gezogen werden?

Die größte Gefahr für liberale Demokratien besteht nicht darin, dass diese Technologien den Individuen zu größerer Macht verhelfen als dem Staat; langfristig gesehen ist das Risiko viel größer, dass sie dem Staat mehr Macht geben als den Individuen und dadurch die fein justierte Machtbalance zwischen Bürgern und den von ihnen gewählten Regierungen aus dem Gleichgewicht bringen.

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Obwohl das Buch ursprünglich im Jahre 2013 auf Englisch erschienen ist und somit ein Update wünschenswert wäre, bietet es immer noch gute Anregungen und Anknüpfungspunkte für eine Sensibilisierung der digitalen Gefahren sowie streitbare Thesen, um in einen fruchtbaren Dialog einzutreten. Eine Stärke der Publikation sind die vielen Beispiele – wenngleich diese manchmal etwas technisch ausfallen – und die interdisziplinäre Verknüpfung von Informatik, Politikwissenschaft und Technikgeschichte. An manchen Stellen kommt die Frage auf, ob es Rid nicht in erster Linie um eine Definitionsfrage geht.

Wie dargelegt, können sich liberale Demokratien der Auseinandersetzung mit Fragen des Cyberspace nicht entziehen. Fortwährend wird vor allem mithilfe der Subversion neu verhandelt, welche gesellschaftlichen Grenzen bestehen bleiben sollen.

Es ist als ein positives Zeichen für die SPD in Bezug auf Cyberfragen der Zukunft zu werten, dass Lars Klingbeil, der ehemalige netzpolitische Sprecher der SPD, 2021 zum Co-Vorsitzenden – neben der Netzpolitikerin Saskia Esken – nominiert wurde. Klingbeil war zudem 2011 maßgeblich an der Ausarbeitung einer „sozialdemokratischen Netzpolitik“ beteiligt.


Matthias Bonk, Timo Ulrichs (Hrsg.) (2021): Global Health. Das Konzept der globalen Gesundheit, Berlin: De Gruyter

Eine Buch-Essenz der Friedrich-Ebert-Stiftung,

kurzgefasst und eingeordnet von Jens Holst.

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Kernaussagen

Die Globalisierung hat weitreichende Auswirkungen auf Mensch, Gesellschaft und Umwelt. Heute machen weder Krankheiten noch gesundheitsrelevante Herausforderungen an Ländergrenzen halt, wie die SARS-CoV-2-Pandemie eindrücklich zeigt. Global Health als länderübergreifende, vielschichtige und multidisziplinäre Disziplin geht dabei weit über Seuchenbekämpfung und Krankheitsvermeidung hinaus. Globale Gesundheit erfordert die Auseinandersetzung mit einer Vielzahl kultureller, gesellschaftlicher, politischer, ökonomischer, Umwelt- und anderer Faktoren, die wesentlichen Einfluss auf die Gesundheit der Menschheit haben.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Als konsequente Weiterentwicklung von Public Health in der globalisierten Welt stellt Global Health ein explizit politisches Konzept dar, das gesellschaftliche Ungleichheiten, Machtasymmetrien, Ressourcenverteilung und Governance-Strukturen berücksichtigt und Gesundheit als rechtebasiertes, universelles Gut betrachtet. Daraus leiten sich wichtige Forderungen auf allen Ebenen der direkten und vor allem der indirekten Gesundheitspolitik ab, die mit grundlegenden Konzepten der sozialen Demokratie im Einklang stehen.

Der Sammelband mit Beiträgen verschiedener Autor_innen enthält eine Vielzahl an Fakten und fundierten Analysen, die konsequent die sozialen Determinanten von Gesundheit und ihrer Beeinflussbarkeit berücksichtigen. Damit trägt er zu einer gesundheitspolitischen Debatte und Praxis im Sinne der Sozialen Demokratie bei.

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So bedeutsam Global Health in den vergangenen zwei Jahrzehnten auch geworden ist, bis heute fehlt eine eindeutige Klärung dieses Begriffs, der über die territoriale Bedeutung von „global“ hinausgeht, „lokal“ und „weltweit“ verbindet und ausdrücklich die nicht medizinischen Ursachen von Krankheit und Gesundheit sowie die damit verbundenen Herausforderungen einbezieht. In diesem Kontext stellt das Buch verschiedene Aspekte der Planung und Umsetzung von gesundheitsfördernden oder -erhaltenden Maßnahmen sowie verschiedene Gesundheitssysteme vor. Es erläutert die Leitungs- und Steuerungsfunktionen auf dem multisektoralen und multidimensionalen Gebiet der globalen Gesundheit, und es betrachtet Fragen der globalen Steuerung des komplexen Gefüges. Denn auf dem Gebiet der globalen Gesundheit agiert eine zunehmende Zahl globaler Organisationen im Rahmen der internationalen Gesetzgebung sowie nationaler wie lokaler Strukturen.

Der umfangreiche Sammelband beginnt mit der Darstellung wichtiger Zahlen, Fakten und Risiken, gefolgt von grundlegenden Betrachtungen zu kulturellen, gesellschaftlichen und Verhaltensaspekten. Es folgen Kapitel über die traditionell zu wenig beachteten sozialen Einflussfaktoren, das Recht auf Gesundheit und ethische Fragen von globaler Gesundheit.

Das zweite Hauptkapitel widmet sich dem Zusammenhang zwischen Globalisierung, Gesundheit und Nachhaltigkeit unter besonderer Berücksichtigung von Entwicklungs-, Umwelt- und Ernährungsfragen. Teil 3 geht auf das Verständnis von Gesundheit und Krankheit ein und stellt die global höchst unterschiedliche Krankheitslast aufgrund von infektiösen, chronisch-degenerativen und psychischen Problemen dar.

Das anschließende Hauptkapitel befasst sich eingehend mit globaler Governance und Gesundheitspolitik und stellt wesentliche Akteur_innen, insbesondere die Weltgesundheitsorganisation WHO, vor und dar. Es analysiert außerdem die globale Gesundheitspolitik sowie die gesundheitsbezogene Entwicklungspolitik und Nothilfe. Den Abschluss des Sammelwerks bilden Beiträge über Gesundheitssysteme, Gesundheitsökonomie im globalen Kontext und Arbeitskräfte im Gesundheitssektor.

Soziale Determinanten von Gesundheit und gesundheitlicher Ungleichheit

Dass Menschen in reichen Ländern im Durchschnitt viel länger leben als in den Niedrigeinkommensländern in Afrika, Südostasien und Lateinamerika, ist hinlänglich bekannt. Weitaus weniger verbreitet ist die Tatsache, dass auch innerhalb der einzelnen Länder große Unterschiede bei der Lebenserwartung und anderen Gesundheitsindikatoren bestehen. Im reichen Deutschland mit umfassender sozialer Absicherung und hochentwickelter medizinischer Versorgung sterben Männer der untersten Einkommensgruppen durchschnittlich fast elf Jahre vor ihren gut situierten Geschlechtsgenossen.

Die medizinische Versorgungslage allein reicht in keinem Fall aus, die vielerorts noch eklatanteren Unterschiede zu erklären. Viel entscheidender für Gesundheit, Krankheit und erreichbares Lebensalter sind die gesellschaftlichen Bedingungen, die sogenannten sozialen Determinanten von Gesundheit. Dazu gehört nicht nur das materielle Einkommen; auch Bildung, Arbeitsbedingungen, Wohnverhältnisse, Ernährung, Umwelt und viele andere Faktoren, die alle miteinander in Verbindung stehen, haben erheblichen Einfluss auf die Gesundheit der Menschen. Dafür gibt es mittlerweile eine riesige Menge an empirischen Daten und Fakten aus ganz unterschiedlichen Ländern und Gesellschaften.

Dieses Wissen fließt allerdings bisher nur unzureichend in gesundheitspolitische Entscheidungen und Maßnahmen ein. Jüngst verdeutlichte der Umgang mit der SARS-CoV-2-Pandemie, wie stark Gesundheitspolitik sowohl national als auch global von einer biomedizinischen Sichtweise bestimmt ist. Die menschengemachten sozialen Determinanten spielen bis heute nur eine untergeordnete Rolle in der Pandemie. Dabei sind sie maßgeblich für die erheblichen gesundheitlichen Ungerechtigkeiten zwischen und innerhalb von Ländern verantwortlich.

Deren Überwindung oder zumindest Verringerung erfordert letztlich eine Änderung grundlegender Gesellschaftsverhältnisse und eine Health-in-all-Politik, also eine Gesundheitspolitik auf allen Politikfeldern. Nur verhältnispräventive Ansätze, also Vorbeugung in allen relevanten Gesellschafts- und Politikbereichen, versprechen Aussicht auf nachhaltige Verbesserung der weltweiten Gesundheit und Überwindung gesellschaftlich bedingter Ungleichheiten.

Das Recht auf Gesundheit

Das Recht auf Gesundheit gehört zu den universellen Menschenrechten und garantiert allen Menschen weltweit Anspruch auf bestmögliche Gesundheit. Da dieses Recht nur schwer juristisch einklagbar ist, stellt es eine normative Vorgabe dar, deren Umsetzung letztlich in den Händen der einzelnen Staaten liegt. Wie bei anderen Menschenrechten auch handelt es sich beim Recht auf Gesundheit um ein Querschnittsthema, das von unterschiedlichen Faktoren abhängt, viele verschiedene Politikfelder betrifft und nicht zuletzt auch die Erfüllung anderer Menschenrechte erfordert. Das Recht auf Gesundheit gilt zwar universell, ist aber faktisch an die gesellschaftliche und juristische Durchsetzbarkeit gekoppelt.

Eine Herausforderung des Rechts auf Gesundheit stellt der wachsende Einfluss privater Akteur_innen und philanthropischer Stiftungen dar. Ihre Wohltätigkeit hängt immer von der Bereitschaft Gebender ab und ist niemals einforder- oder gar einklagbar. Die enorme Bedeutung und dominierende Rolle privatwirtschaftlicher Konzepte und Organisationen in der globalen Gesundheit fördert die Fokussierung auf die Überwindung einzelner Krankheiten oder Krankheitsgruppen und untergräbt demokratische Entscheidungsprozesse und Teilhabe. Gleichzeitig beflügelt sie die technische, biomedizinische Sicht auf Herausforderungen der globalen Gesundheit und vernachlässigt die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und Umweltdeterminanten.

Globalisierung und Nachhaltigkeit

Der Zusammenhang zwischen Globalisierung, Gesundheit und den verschiedenen Determinanten von Gesundheit ist überaus komplex, zumal die gesundheitsrelevanten Bedingungen und Faktoren direkt oder indirekt miteinander verknüpft sind. Zugleich muss sich globale Gesundheit ständig den sich verändernden Bedingungen und Folgen der Globalisierung anpassen.

Die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen (Sustainable Development Goals) stellen den bisher weitestreichenden Versuch der Weltgemeinschaft dar, den vielschichtigen globalen Herausforderungen durch gezielte Maßnahmen zu begegnen. Diese Nachhaltigkeitsziele greifen 17 unterschiedliche Bereiche heraus, stellen aber gleichzeitig den Versuch dar, im Zusammenspiel der verschiedenen Einzelziele mit konzertierten Aktionen der Komplexität der Herausforderungen gerecht zu werden.

Die UN-Entwicklungsziele werden sich allerdings schwerlich erreichen lassen ohne Reduzierung der globalisierungsbedingten Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, ohne konzertiertes Vorgehen auf verschiedenen Politikfeldern einschließlich der globalen Gesundheit, ohne konsequenten und echten Umweltschutz unter Berücksichtigung der Ungleichheit von Ursache und Wirkung und ohne eine weltweite Umstellung der Ernährung und Lebensmittelproduktion.

Umwelt und globale Gesundheit

In den vergangenen hundert Jahren haben sich die globalen Umweltbedingungen stärker und schneller verändert als in jeder vorangegangenen Epoche. Der Bevölkerungszuwachs und die Intensität des menschlichen Handelns und vor allem Wirtschaftens verursachten mit bisher unbekannter und zugleich weiter steigender Dynamik soziale und ökologische Veränderungen, die erheblichen Einfluss auf die Gesundheit der Menschen ebenso wie auf die globale und planetare Gesundheit haben.

In den zurückliegenden Jahrzehnten ist insgesamt zwar eine weltweit festzustellende Verbesserung der menschlichen Gesundheit zu beobachten, die allerdings recht unterschiedlich ausgeprägt ist. Gleichzeitig haben sich die Umweltbedingungen in der gleichen Zeit massiv verschlechtert. Dabei besteht eine extrem unfaire Verteilung von Ursache und Wirkung, denn die wesentliche Verantwortung für Umweltschäden und Klimakrise liegt im globalen Norden, während die Auswirkungen in erster Linie den ärmeren Teil der Menschheit und die Entwicklungs- und Schwellenländer treffen.

Globales Krankheitsprofil

Lange Zeit verursachten Infektionskrankheiten weltweit die größte gesundheitliche Belastung aufgrund von Tod, Leid und Behinderung. Die wesentliche Last liegt dabei heute auf den ärmeren und armen Entwicklungsländern, in denen ein großer Teil der Weltbevölkerung lebt. HIV/AIDS, Malaria und Tuberkulose leisten den größten Beitrag zur Krankheitslast; Durchfall- sowie Atemwegserkrankungen gefährden vor allem kleine Kinder. Entscheidend für Auftreten und Verbreitung übertragbarer Krankheiten sind die Lebens- und Existenzbedingungen, die gerade arme Bevölkerungsgruppen einem großen Dauerrisiko aussetzen. Da Infektionskrankheiten vielfach Kinder und Menschen im jungen Erwachsenenalter treffen, haben sie erheblichen Einfluss auf Produktivität, Subsistenzsicherung, Armut und gesellschaftliche Entwicklung.

So richtig diese Analyse der globalen Gesundheit ist, sie beschreibt nur einen Teil der Wirklichkeit. Denn der Anteil der Infektionskrankheiten am globalen Krankheitsgeschehen geht in den jüngsten Jahrzehnten beharrlich zurück. Obwohl sich diese Tendenz bereits Ende der 1990er-Jahre abzeichnete, dauerte es eine Weile, bis die zunehmende Belastung auch der Niedrigeinkommensländer durch chronische Erkrankungen wie Herzinfarkt, Schlaganfall und Diabetes mellitus die gebührende Berücksichtigung fand. Diese sogenannten nicht übertragbaren Krankheiten bestimmen schon lange das Krankheitsgeschehen und die Gesundheitspolitik in den reichen Ländern, auch in den Schwellenländern erzeugen sie die größte Krankheitslast. Mittlerweile holt ihr Anteil aber selbst in den armen Ländern im südlichen Afrika den der übertragbaren Krankheiten ein.

Dieser epidemiologische Übergang stellt die einkommensschwachen Gesellschaften vor besondere Herausforderungen und fordert ein Umdenken in der globalen Gesundheitspolitik. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch die chronischen oder „Wohlstands“-Krankheiten in großem Umfang von den sozialen Determinanten von Gesundheit beeinflusst sind und in allen Ländern dieser Erde ärmere, weniger gebildete Bevölkerungsgruppen am stärksten betreffen.

Hinzu kommt eine traditionell weit unterschätzte, aber faktisch große und zunehmende globale Herausforderung durch psychische Erkrankungen oder Störungen, die heute mehr als ein Achtel der gesamten Krankheitslast ausmachen. Die Vorherrschaft einer biomedizinischen Sichtweise und die schwer zu überwindende Stigmatisierung psychisch Kranker haben zu der fehlenden Beachtung beigetragen. Dabei tragen die Veränderungen im Zuge der Globalisierung, die Verstädterung und die heutzutage zumeist regional begrenzten Kriege und bewaffneten Konflikte erheblich zur Entstehung psychischer Störungen bei.

Gesundheitssysteme weltweit

Nicht nur in den Entwicklungs- und Schwellenländern stehen die Gesundheitssysteme vor großen und vor allem anhaltenden Herausforderungen. Die SARS-CoV-2-Pandemie hat eindrücklich die Stärken und Schwächen von Gesundheitssystemen aufgedeckt, heute ist allerorten von Stärkung ihrer Resilienz die Rede. Bei derart komplexen, gesellschaftlich bedingten Systemen mit ihrer Vielzahl von Akteur_innen lässt sich dieser Anspruch aber nicht ohne Weiteres umsetzen, zumal Aufbau und Struktur nationaler Systeme große Unterscheide aufweisen.

Grundsätzlich besteht ein starkes Gefälle bei ihrer Leistungsfähigkeit, die eng mit dem Einkommensniveau und den verfügbaren Gesundheitsausgaben eines Landes verbunden ist. Verschiedene Beispiele zeigen jedoch, dass auch andere politische und gesellschaftliche Faktoren von Bedeutung sind, da ökonomisch vergleichbare Länder durchaus unterschiedlich gut funktionierende Gesundheitssysteme aufweisen können.

Das Zusammenspiel zwischen Kostenträger_innen, Leistungserbringer_innen, Nutzer_innen und nicht zuletzt den Regulierungsinstanzen, das in erheblichem Maße von gesellschaftlichen Vorstellungen und Prioritäten geprägt ist, entscheidet über die Leistungsfähigkeit eines Gesundheitswesens – also seine Fähigkeit, die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen, zu erhalten und wiederherzustellen und dabei Chancengleichheit und Universalität zu berücksichtigen.

Allerdings stellen die vielerorts stattfindende neoliberale Umgestaltung von Gesundheitssystemen und die Unterordnung unter nutzenmaximierende Wertschöpfungskalküle den humanen und sozialen Wert von Gesundheit und ihre Akzeptanz als höchstes Gut in Frage. Die zunehmend betriebswirtschaftlich bestimmte Ausgestaltung traditionell öffentlicher Gesundheitssysteme verschiebt den Fokus von einem gesellschaftlich bestimmten zu einem privatwirtschaftlichen Handeln. Dies läuft grundsätzlichen Vorstellungen von Gesundheitsförderung zuwider und blendet konsequent die gesellschaftlichen Determinanten von Gesundheit aus.

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Das Buch ist ein Muss für alle, die sich intensiver mit dem Thema Global Health auseinandersetzen und dabei sowohl an Breite als auch Tiefe des Erkenntnisgewinns interessiert sind. Dieses praktische Lehrbuch und Nachschlagewerk gibt allen Interessierten, nicht nur Studierenden und Aktiven aus dem Gesundheitssektor, einen Einblick in das sich schnell entwickelnde, multidisziplinäre Feld der globalen Gesundheit. Es stellt anschaulich die wesentlichen Grundlagen, Herausforderungen und Lösungsansätze heraus und animiert zum Weiterlesen und zum Weiterdenken.

Der ausgesprochen umfangreiche Sammelband deckt in einer Vielzahl von Kapiteln verschiedener Autor_innen das breite Spektrum von Global Health ab und spiegelt dabei eindrücklich die Vielschichtigkeit und Komplexität dieses Gebiets wider. Aus der umfangreichen Zusammenstellung der wichtigsten Aspekte von globaler Gesundheit lässt sich an dieser Stelle nur auf einige als besonders relevant einzuordnende Bereiche eingehen.

Der 600-seitige Sammelband liefert sowohl einen guten Überblick über die aktuellen Ansätze, Strategien, Herausforderungen und die Komplexität von Global Health als auch fundierte und detaillierte Betrachtungen der wichtigsten Aspekte und Bereiche von globaler Gesundheit. Der Umfang sollte nicht abschrecken, denn der Inhalt ist klar strukturiert und erlaubt nicht zuletzt aufgrund der reichlich vorhandenen Daten, Schaubilder und Überblicke die interessens- und bedarfsabhängige Teilnutzung, und zwar für Lehrende, Studierende und andere Expert_innen mit Interesse an Global Health oder dessen Teilbereichen.


Quinn Slobodian (2019): Globalisten. Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus, Berlin: Suhrkamp.

 

Eine Buch-Essenz der Friedrich-Ebert-Stiftung,

kurzgefasst und eingeordnet von Stephan Schmauke 

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Kernaussagen

Quinn Slobodians Studie über die Ideen- und Institutionengeschichte des Neoliberalismus rückt die Protagonisten der „Genfer Schule“ in den Vordergrund: Ludwig von Mises (1881-1973), Wilhelm Röpke (1899-1966) und vor allem Friedrich Hayek (1899-1992). Damit schließt er eine Lücke in der historischen Forschung zum Neoliberalismus, die sich bisher stärker auf die US-amerikanischen Denkschulen um Milton Friedman und James M. Buchanan konzentriert hat.

  • Slobodian arbeitet heraus, dass der Neoliberalismus der Genfer Schule am treffendsten als eine Variante des Freiburger Ordo-Liberalismus verstanden werden kann. Es geht um die geeignete Rechtsordnung, die den freien Fluss des Kapitals nicht nur gestattet, sondern die Freiheit des Kapitals gegenüber Umverteilungsansinnen von Regierungen in Schutz nimmt.
     
  • Die Genfer Schule geht insofern über den Ordo-Liberalismus hinaus, als sie die Grenzen des Nationalstaats überschreitet und eine Rechtsordnung im Weltmaßstab anstrebt. Deswegen verwendet Slobodian zur Charakterisierung den Begriff „Ordoglobalismus“. Es geht dem Neoliberalismus nicht um Emanzipation des Menschen gegenüber staatlicher Bevormundung. Es geht gar nicht um die Freiheit des Einzelnen. Es geht um die Freiheit des Kapitals, sich ungehindert auf der ganzen Welt auszubreiten.
     
  • Es ist Slobodian daran gelegen, den Neoliberalismus der Genfer Schule nicht als eine bloße Wirtschaftstheorie darzustellen, sondern als eine politische Theorie. Die Neoliberalen reüssierten nach dem 2. Weltkrieg als Mont Pèlerin Society, benannt nach dem Versammlungsort ihrer ersten Treffen auf dem Berg Mont Pèlerin am Genfer See. Sie waren nie so naiv, einfach nur den „Primat der Ökonomie“ zu behaupten.
     
  • Slobodian zeichnet die Ideengeschichte des Neoliberalismus als eine Reihe von Versuchen nach, das dominium (die Verfügungsgewalt über das Eigentum) vor den Übergriffen des imperium (der staatlichen Macht) zu schützen. Er folgt dabei der Unterscheidung von Carl Schmitt zwischen dominium und imperium.
     
  • Das Engagement der Neoliberalen war von Anfang an auf zwei Aspekte gerichtet: einerseits auf Theoriebildung und Hochschullehre, also auf die Bildung einer Schülerschaft, andererseits auf die Übernahme von Funktionen in internationalen Institutionen. Dementsprechend lernen wir aus Slobodians Studie nicht nur, wie sich die neoliberale Ideologie ausformte, sondern auch, wie Institutionen, etwa die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die World Trade Organisation (WTO), von Mitgliedern der Mont Pèlerin Society bzw. ihren Schülern beeinflusst wurden.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Ein an der Sozialen Demokratie orientiertes politisches Denken kann in ganz grundsätzlicher Weise von Slobodians Studie profitieren. Es stellt sich nämlich heraus, dass es sich beim Neoliberalismus, zumindest in der hier in den Fokus gestellten europäischen Variante, um den exakten Gegenentwurf zur Sozialen Demokratie handelt. Die Theoriebildung des Neoliberalismus stellt sich dar als permanenter Abwehrkampf gegen die vermeintlichen Anmaßungen gewerkschaftlicher Interessenvertretungen, gemeinwohlorientierter Regierungsprogramme, gegen die Dekolonisierung des globalen Südens, gegen die Forderungen nach staatlichen Regulierungen der Finanzmärkte, kurz: gegen alle Formen einer auf sozialen Ausgleich bedachten Politik.

Und wegen der neoliberalen Einflüsse auf europäische und globale Institutionen erlaubt die Lektüre von Slobodians Buch auch eine differenziertere Auseinandersetzung mit pauschalen Vorwürfen etwa in Richtung EU, sie sei nichts weiter als ein supranationaler Agent des Neoliberalismus.

buch|autor_in

Quinn Slobodian, geboren 1978 in Edmonton, Kanada, ist Historiker und Associate Professor am Department of History des Wellesley College, Massachusetts. Slobodian ist 2019 für sein Buch Globalists mit dem von der American Historical Association (AHA) verliehenen George Louis Beer Prize ausgezeichnet worden.

buch|inhalt

Die Wiener Anfänge nach dem 1. Weltkrieg

Die Initialerfahrung der europäischen Neoliberalen war der Zusammenbruch des Habsburgerreiches nach dem 1. Weltkrieg. Deswegen beginnt die Darstellung der europäischen Geschichte der Neoliberalen auch nicht 1947 am Genfer See mit der Gründungsversammlung der Mont Pèlerin Society, sondern in den 1920er-Jahren im Wiener Stubenring, in der österreichischen Handels- und Gewerbekammer. Dort war Ludwig Mises seit 1918 Sekretär und Regierungsberater. Sein Anliegen war es, der österreichischen Wirtschaft, die nach der Auflösung des Reiches nicht mehr autark war, Anschluss an den internationalen Wettbewerb zu verschaffen.

Mises, der immer schon gute Kontakte zu Industrie und Wirtschaft hatte, sprach eine politische Empfehlung aus, die sich auf Lohnsenkungen und Steuererleichterungen für die Industrie belief. Sein Argument: Österreichs Zukunft hänge vom Freihandel ab, die Löhne müssten deutlich unter Vorkriegsniveau sinken.

Die Antwort auf die tatsächliche Umsetzung dieser politischen Empfehlung ließ nicht lange auf sich warten: Im Juli 1927 marschierten Wiener Arbeiter auf die Ringstraße und setzten den Justizpalast in Brand. Der Polizeichef ließ feuern – 89 Tote und mehr als 1000 Verletzte.

Das „rote Wien“, das Aufflackern eines sozialistischen bzw. kommunistischen Widerstands gegen die vermeintliche „wirtschaftliche Vernunft“ hat das Welt- und Menschenbild der Wiener Ökonomen, die sich später selbst als Neoliberale bezeichnen würden, stärker geprägt als das tatsächliche Elend der Bevölkerung nach dem Weltkrieg oder das Leid der getöteten und verletzten Arbeiter.

Diese Blindheit gegenüber realer Not, gegenüber den Bedürfnissen existierender Menschen wird sich wie ein Leitmotiv in den Theorieentwürfen des Neoliberalismus durchhalten. Weshalb man an dieser Stelle schon die Frage stellen darf, ob die politische Theorie des Neoliberalismus überhaupt einen Begriff des Politischen hat, der über die Manipulation von Menschen zur Durchsetzung bestimmter Interessen hinausgeht.

Hayek gründete mit Mises Hilfe das „Österreichische Institut für Konjunkturforschung“, dessen Personal nur aus ihm selbst und einer Sekretärin bestand. Er verwendete das „Konjunkturbarometer“, das vom Harvard Economic Service entwickelt worden war, stellte aber schnell fest, dass es nur für große Binnenwirtschaften oder Kolonialreiche aussagekräftig war und keinesfalls für mitteleuropäische postimperiale Nachfolgestaaten wie Österreich.

Nach dem Crash von 1929

Die begrenzte Reichweite der Konjunkturforschung erforderte somit den gedanklichen Ausgriff auf transnationale Konstellationen. Die „ganze Welt“ rückte damit in den Fokus der ökonomischen Theoriebildung, und tatsächlich häuften sich Begriffe wie „Weltmarkt“ und „Weltwirtschaft“ in den 1920er-Jahren, bevor es mit dem New Yorker Börsencrash von 1929 zum Zusammenbruch derselben kam.

Die 1930er-Jahre waren dementsprechend von Versuchen geprägt, die Krise zu analysieren bzw. überhaupt erst einmal zu definieren, was die „Weltwirtschaft“ sei.  Dazu wurde ein „internationales Institut für Konjunkturforschung“ aus der Taufe gehoben, als dessen Leiter der ehemalige Marburger Professor Wilhelm Röpke nominiert wurde. Er war bei den inzwischen an die Macht gekommenen Nationalsozialisten in Ungnade gefallen und hatte in Istanbul Unterschlupf gefunden, er sehnte sich aber nach einem europäischen Betätigungsfeld zurück. Ort der Handlung: das „Hochschulinstitut für internationale Studien“ der Universität Genf.

Durch Vermittlung von Hayek stieß Röpke auf ein Buch des amerikanischen Publizisten Walter Lippmann: The Good Society. Es handelte sich um eine Abrechnung mit dem klassischen Laissez-faire-Liberalismus des 19. Jahrhunderts, der nur dazu geführt habe, den desolaten Zustand der internationalen wirtschaftlichen Beziehungen nach dem Crash von 1929 aufrechtzuerhalten. Es bedürfe einer Erneuerung liberalen Denkens, eines neuen rechtlichen Rahmens für die Weltwirtschaft.

Man berief eine Konferenz ein, um die Thesen zu diskutieren: Das Pariser „Colloque Walter Lippmann“ (1938). Der frische Wind, der von einem Nicht-Ökonomen ausging, führte zur Namensgebung „Neoliberalismus“ und war mit einer Abwendung von der Konjunkturbeobachtung und einer Hinwendung zum Problem der rechtlichen Rahmung verbunden, die die Weltwirtschaft einhegen sollte. Seit dieser Zeit begann Hayek, über die Grenzen des ökonomischen Wissens zu schreiben, erklärte die Weltwirtschaft prinzipiell für unerkennbar und verspottete die Kategorie des „homo oeconomicus“ als „Zombiekategorie“. 

Hier wird deutlich, dass der Neoliberalismus, der seine Gründungsversammlung kurz vor Ausbruch des 2. Weltkriegs in Paris und seine erste konstituierende Sitzung auf dem Mont Pèlerin kurz nach dem Ende des 2. Weltkriegs hatte, etwas ganz anderes ist, als es die heutige populäre Vorstellung suggeriert. Er vertritt überhaupt nicht die Position der „Selbstgenügsamkeit des Marktes“. Er ist keinesfalls so etwas wie die akademische Variante des Libertarianismus.

Der Neoliberalismus sieht vielmehr das Funktionieren des Marktes jederzeit als bedroht an. Der Markt darf gar nicht sich selbst überlassen werden, er muss vielmehr geschützt werden. „Das liberale Projekt und die Verteidigung des Primats der Weltwirtschaft waren zu wichtig, um sie der Disziplin der Ökonomie zu überlassen.“

Der 2. Weltkrieg wird in Genf ausgesessen

Die These von der Schutzbedürftigkeit des Marktes, die Forderung nach einer „Ummantelung“ des weltweiten freien Geldflusses durch internationale Gesetze geht allerdings mit einer kruden politischen Indifferenz einher.

Die Neoliberalen lehnten den Nationalsozialismus ab. Aber nicht, weil sie von den Nazis persönlich bedroht waren – Mises war Jude, Röpke hatte die NSDAP eine „besitzfeindliche, gewalttätige, revolutionäre Organisation“ genannt, weshalb Genf zu ihrem Zufluchtsort wurde. Der Hauptgrund für die Ablehnung des Nationalsozialismus war auch nicht dessen intrinsische Menschenfeindlichkeit, sondern der Umstand, dass es sich in wirtschaftspolitischer Hinsicht um eine Planwirtschaft handelte.

Die Neoliberalen werteten es als Fehler, „dass der Staat der Illusion der Kontrolle unterlag und dem Irrglauben folgte, die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse könne die Volkswirtschaft für eine ‚intelligente Autorität‘ durchschaubar machen“. Diesen Fehler teilte in ihren Augen Hitlers „Neue Ordnung“ mit Stalins Fünfjahresplan und Roosevelts „New Deal“. Ihre Aversion gegen jegliche Wirtschaftsplanung machte die Neoliberalen blind gegenüber dem Unterschied zwischen Demokratien und totalitären Regimen.

Nach dem 2. Weltkrieg gründete sich die Mont Pèlerin Society und verfolgte konsequent eine Doppelstrategie: den Kampf um die Diskurshoheit sowie die Infiltration supranationaler Institutionen. Das verdeutlichen zwei Beispiele: die Kaperung des Menschenrechtsdiskurses und die Gestaltung der Römischen Verträge.  

Zu den Menschenrechten: „Die Neoliberalen setzten Roosevelts vier Freiheitsrechten – Redefreiheit, Religionsfreiheit, Freiheit von Furcht und Freiheit von Not – die vier Rechte auf Freizügigkeit von Kapital, Gütern, Dienstleistungen und Arbeitskräften entgegen.“ Durch Verweis auf die angebliche materielle Grundbedingung des Rechts auf Migration, die in den Augen der Neoliberalen per se eine Migration aus wirtschaftlichen Gründen ist, wird den Menschenrechten ein „Recht auf freie Kapitalbewegung“ untergeschoben. Slobodian spricht sehr deutlich von einem „Menschenrecht auf Kapitalflucht“: „Die Neoliberalen kämpften nicht für das Recht, zu besitzen und zu bleiben, sondern für das Recht, zu verkaufen und zu gehen.“

Zu den Römischen Verträgen: Ludwig Erhard, der „Vater des Wirtschaftswunders“, war ein Mitglied der Mont Pèlerin Society.

Zusammen mit Alfred Müller-Armack versuchte er in den Verhandlungen über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft das Argument des „unverfälschten Wettbewerbs“ stark zu machen – vor allem gegen die französische Position, die Schutzmechanismen für Agrarprodukte der afrikanischen Kolonien einforderte.

Bekanntlich sind die römischen Verträge kompromissbehaftet – was der EWG heftige Kritik seitens der neoliberalen „Puristen“ eintrug: Sie sei nicht das beispielhafte politische Gebilde einer supranationalen Rechtsordnung, die den freien Kapitalfluss garantiere, sondern eine euroafrikanische Protektionszone.

Man sieht: Die ersten Anläufe der Neoliberalen, die Diskurse und Institutionen zur Kontrolle einer geordneten Wirtschaftswelt zu bestimmen, sind gescheitert oder allenfalls halb gelungen. Wie reagierten sie darauf?

Auch hier kann man wieder von einer Doppelstrategie sprechen. Auf dem Gebiet der Theorie ist vor allem bei Hayek eine Hinwendung zu einem neuen Paradigma zu verzeichnen: weg vom Mystizismus einer unerkennbaren, doch alles irgendwie fundierenden, transzendenten „Weltwirtschaft“ – hin zum systemtheoretischen Modell einer Ordnung der „Preissignale“.

Die jüngere Generation des Neoliberalismus: Vom GATT zur WTO

Auf dem politisch-institutionellen Sektor zeichnete sich mit einer jüngeren Generation Neoliberaler eine zunehmende Konzentration auf das internationale Wirtschaftsrecht ab. Der neoliberale Diskurs wanderte von den Ökonomen zu den Juristen.

Das Sekretariat des General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) zog 1977 nach Genf um – in das Gebäude, das früher der Sitz der International Labour Organization (ILO) gewesen war. Die GATT-Leute – Jan Tumlir, Frieder Roessler und Ernst-Ulrich Petersmann – waren allesamt Schüler oder Anhänger Hayeks und ihre erste Amtshandlung bestand darin, Gemälde und Wandschmuck mit der Ikonologie der Arbeiterklasse abzuhängen. Sie waren alle Juristen und dementsprechend ging mit ihnen der Versuch, den aufmüpfigen globalen Süden zu rekolonialisieren, in die nächste Runde:

Man versuchte, die Entwicklungsländer nicht mehr davon abzuhalten, sich zu industrialisieren, indem man ihnen weismachte, als Agrarstaaten seien sie auf dem Weltmarkt viel konkurrenzfähiger. Nun konstruierte man ein „allgemeines Wirtschaftsvölkerrecht“ oder auch „Weltwirtschaftsrecht“, gegen dessen Regeln zu verstoßen nicht nur zum wirtschaftlichen Nachteil des globalen Südens sei, sondern geradezu systemgefährdend.

„Weit davon entfernt, sich für persönliche Freiheit auszusprechen, stützte sich Tumlir bei seinen Warnungen auf das von Hayek inspirierte […] Konzept der für das Funktionieren des gesamten Systems erforderlichen Beschränkungen der Freiheit, die er als ‚Kosten der Interdependenz‘ bezeichnete“.

Slobodian zeichnet die Verhandlungen, die vom GATT zur WTO führten, nicht im Detail nach. Worauf es ihm ankommt, ist weniger die Einschätzung der WTO als machtpolitisches Werkzeug der USA, sondern vielmehr der intellektuelle Input aus Genf – die neoliberale (und nicht so sehr machtpolitische) Begründung dafür, dass das internationale Handelsrecht so ist, wie es ist, und dass die WTO die institutionelle Krönung der neoliberalen Bemühungen darstellt, die Freiheit des Kapitals vor dem Elend der Welt zu schützen.

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Wir lernen von Slobodian, dass der Neoliberalismus mehr ist als das Schlagwort vom „Primat der Ökonomie“. Er ist der Versuch, den Primat sowohl theoretisch zu begründen als auch ihn institutionell durchzusetzen. Wer sich substanziell mit neoliberalen Argumenten auseinandersetzen möchte, findet in Slobodians Buch, das die zu Unrecht vernachlässigte Genfer Schule des Neoliberalismus in den Mittelpunkt rückt, eine reiche Quelle.


Maak Flatten (2021): Scharnierzeit der Entspannungspolitik. Willy Brandt als Außenminister der Großen Koalition (1966-1969), Bonn: Dietz-Verlag.

Eine Buch-Essenz der Friedrich-Ebert-Stiftung,

kurzgefasst und eingeordnet von Stefan Schrumpf

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Kernaussagen

Das Sachbuch rückt die Jahre 1966 bis 1969 in den Mittelpunkt, in denen Willy Brandt Außenminister der Großen Koalition war und die in der öffentlichen Wahrnehmung und wissenschaftlichen Betrachtung zumeist von Brandts nachfolgender Kanzlerschaft überstrahlt werden. Es bestätigt das Bild eines energischen, gestaltungsmächtigen Außenministers mit starkem eigenen Profil, dessen Möglichkeiten allerdings durch einen immer wieder in seinen Zuständigkeitsbereich hineinregierenden Bundeskanzler Kiesinger stark eingeschränkt wurden. Viele Ideen und Konzepte des Außenministers Brandt konnten erst vom Bundeskanzler Brandt umgesetzt werden. Gleichwohl gelangen wichtige Weichenstellungen, trotz des teils erbitterten Widerstands des Koalitionspartners, vor allem in der Deutschland- und Ostpolitik.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Der Außenminister Willy Brandt wird charakterisiert als beharrlicher Kämpfer für die von ihm maßgeblich geprägten fortschrittlichen Ideale der Sozialen Demokratie im dritten Drittel des 20. Jahrhunderts. Als realistischer Visionär scheut er dabei weder pragmatische Lösungen noch schmerzhafte Kompromisse oder Konflikte, ob innen- oder außenpolitisch, ob mit dem politischen Gegner oder auch innerparteilich. Gemeinsam mit Egon Bahr entwickelt und vervollständigt er die Idee des „Wandels durch Annäherung“. Seine Erfahrungen und Erlebnisse in diesen Jahren sind richtungsweisend und fundamental für die Ausschärfung und Umsetzung der sozialdemokratischen Konzepte der nachfolgenden Regierung Brandt.

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Maak Flatten studierte Geschichte und Englisch in Bonn, Berlin und Berkeley. Sein Rigorosum zur Erlangung des Dr. phil. absolvierte er 2019 an der Universität Bonn. Er ist Lehrer sowie Kern- und Fachseminarleiter am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung Düren.

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Die Bilanz der Außenpolitik unter Willy Brandt ist ambivalent.

Das zuvor belastete Verhältnis zu den USA und Frankreich konnte Brandt schnell normalisieren.

Es gelang viele neue von der SPD geprägte Impulse zu setzen, beispielsweise den direkten Dialog mit Moskau und Ost-Berlin anstelle von Versuchen der Isolierung, die Abkehr von der Formel „Erst Wiedervereinigung, dann Entspannung“, die Einbeziehung der DDR in die Diskussionen zu einer Gewaltverzichtserklärung und die Relativierung des Alleinvertretungsanspruchs vom Rechtstitel zur „moralischen Pflicht“.

Diese Impulse mussten aber allesamt dem Koalitionspartner mühsam abgerungen werden, der nicht bereit war, auf den Osten zuzugehen, während Brandt überzeugt war, dass ohne Verhandlungsangebote des Westens keine Verhandlungen zur Annäherung stattfinden würden.

Eine „Außenpolitik der Großen Koalition“ hat es also eigentlich gar nicht gegeben. Sämtliche wichtigen Maßnahmen erfolgten als Kompromiss zwischen den fortschrittlichen Ideen Brandts und Bahrs und der mutlos auf dem Bisherigen beharrenden Union.

Stattdessen entwickelten und konkretisierten Brandt und Bahr in dieser Zeit die Konzepte, die im Moskauer Vertrag, Warschauer Vertrag und dem Grundlagenvertrag münden sollten.

Der Weg zu einer echten Annäherung zwischen Ost und West war bereitet. Gegangen werden konnte er aber erst von einer sozialliberalen Regierung.

Willy Brandts außenpolitische Lehr- und Gesellenjahre

Willy Brandt verfügte bereits bei seinem Amtsantritt im Außenministerium über ein klares außenpolitisches Profil. Er konnte an vieles anknüpfen, was er „als junger Mann im skandinavischen Exil, als Regierender Bürgermeister von Berlin, als Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands“ gedacht und gesagt hatte.

Die sozialdemokratische Ost- und Deutschlandpolitik, die 1961 bis 1963 konzipiert und ausgeschärft wurde, trägt seine Handschrift. Ein zentraler Aspekt war die Überzeugung, „auch im Osten die Hypotheken der Vergangenheit ab[zu]tragen“ und dazu gehörte für ihn zwingend die Akzeptanz der Nachkriegsrealitäten Oder-Neiße-Grenze sowie Existenz der DDR.

Diese unermüdliche Arbeit für Entspannung und die Annäherung von Ost und West wurde 1963 erstmals von Egon Bahr auf die programmatische Formel „Wandel durch Annäherung“ verdichtet.

Die außenpolitische Situation der Bundesrepublik Deutschland 1966

Als Brandt die Amtsgeschäfte seines Vorgängers Gerhard Schröder übernahm, hatte dieser mit seiner „Politik der Bewegung“ erste Tore nach Osten aufgestoßen, ohne dass es eine signifikante Annäherung gegeben hätte. Das gegenseitige Misstrauen war zu groß, der Widerstand der CDU/CSU gegen Zugeständnisse gen Osten noch größer. Die Zeit schien reif für einen deutlichen Wandel in der Deutschlandpolitik.

Insgesamt war die außenpolitische Bilanz der Regierung Erhard verheerend, die Beziehungen der Bundesrepublik zu den USA und Frankreich befanden sich auf dem Tiefpunkt. Dies spielte eine wesentliche Rolle beim bald darauffolgenden Rückzug der FDP-Minister und dem Sturz Erhards.

Die Große Koalition

Die Bildung der Großen Koalition unter Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger gilt gemeinhin als das Werk Wehners und Schmidts; Brandt habe eine sozialliberale Koalition präferiert und erst überzeugt werden müssen. Letztlich gab die nur knappe Mehrheit einer SPD/FDP Koalition den Ausschlag. Brandt hatte weitreichende Pläne, dafür hielt er eine breitere Parlamentsmehrheit für notwendig, als ihm die FDP, trotz größerer inhaltlicher Nähe, gewährleisten konnte.

Bei den Koalitionsgesprächen legte Brandt großen Wert darauf, dass ein sozialdemokratisches Profil sichtbar blieb. So lehnte er kategorisch eine deutsche Teilhabe an Atomwaffenbesitz ab, auch auf europäischer Ebene. Dies sollte ein stetiger Konfliktpunkt der Koalitionspartner bleiben. Auch die Frage der Deutschlandpolitik lieferte Zündstoff. Trotzdem kam Brandt zum Ergebnis, dass die Differenzen zwischen Union und SPD geringer seien, als gedacht. Ohne Enthusiasmus, aber von der pragmatischen Notwendigkeit überzeugt, stimmte Brandt dem Bündnis zu.

Ursprünglich wollte Brandt gar kein Ministeramt übernehmen. Letztlich entschied er sich für das Außenministerium, weil er dort den größtmöglichen Gestaltungsspielraum zur Durchsetzung sozialdemokratischer Vorstellungen sah – und weil er als Vizekanzler ein Gegengewicht zum außenpolitisch ausgesprochen interessierten Kiesinger bilden wollte. Der Konflikt war programmiert.

Erschwerend kam hinzu, dass Kiesinger und Brandt von Anfang an persönliche Differenzen hatten. Das gegenseitige Misstrauen war tief und sollte sich im Laufe der Regierungszeit zu einer regelrechten Abneigung auswachsen. Kontroverse Fragen wurden nicht zuletzt deshalb schon vor den eigentlichen Gremiensitzungen von Fraktionen und Koalitionsausschuss in den wöchentlichen Sitzungen des Kreßbronner Kreises diskutiert, einer informellen Gesprächsrunde der Spitzen aus CDU/CSU und SPD.

Willy Brandt und das Auswärtige Amt

Trotz seines ursprünglichen Unwillens, dieses Amt zu übernehmen, war Brandt für das Außenministerium geradezu prädestiniert. Er war versiert in vielen Sprachen, hatte historische Kenntnisse, kannte bereits zahlreiche Akteure der internationalen Diplomatie und besaß dank seiner Biografie ein großes Vertrauenskapital im Ausland.

Im Amt konnte er auf seinen wichtigsten Berater aus Berlin zurückgreifen: Egon Bahr. Er war es, der dem vom Tagesgeschehen ausgelasteten Außenminister den Rücken freihielt, Studien und Schriftstücke sondierte und auswertete, die operative Politik vorbereitete sowie langfristigere konzeptionelle Überlegungen anstellte. Als Chef des Planungsstabes im Auswärtigen Amt erarbeitete er für Brandt Ideen und Vorschläge zu Ost-, Deutschland- und Entspannungspolitik, aus denen dieser auswählen konnte.

In der Personalpolitik war die Parteizugehörigkeit für Brandt kein entscheidendes Kriterium. Fähige, loyale und geeignete Beamte behielten ihre Posten, auch wenn sie der CDU angehörten. Kritik brachte ihm ein, dass er diesen pragmatischen Ansatz ebenso bei Beamten verfolgte, denen NS-Verstrickungen nachgesagt wurden.

Bei der Neubesetzung der Botschaften in Osteuropa legte er dagegen größten Wert darauf, dass die Diplomaten zuverlässig seine Linie vertraten. Das führte wiederholt zu Konflikten mit dem Koalitionspartner, der beispielsweise die Berufung des Berufsdiplomaten Hans Arnold nach Belgrad verhinderte.

Mit Ellinor von Puttkamer als Ständige Vertreterin der Bundesrepublik beim Europarat erlangte unter Brandt erstmals eine Frau den Rang einer Botschafterin.

Der Minister selbst absolvierte ein immenses Arbeitspensum. Gewissenhaft las er Akten und kommentierte Vorlagen. Er war stets gut vorbereitet. Sein Umgangston wurde geschätzt, er hatte ein Ohr für Mitarbeiter, und bei vielen wandelte sich die anfängliche Loyalität in Überzeugung und Bewunderung.

Auftakt: Vom Amtsantritt zur Aufnahme der Beziehungen mit Rumänien

Unmittelbar nach Amtsantritt setzte Brandt die Marksteine der künftigen bundesdeutschen Außenpolitik: Wiederherstellung des Vertrauens, Glaubwürdigkeit und Friedenssicherung. Neben der ausdrücklichen Einbeziehung der Sowjetunion in Gespräche und der Akzeptanz der DDR als „quasi-staatliches Gebilde“, ließ er auch Kompromissbereitschaft bezüglich des umstrittenen Nichtverbreitungsvertrags, besser bekannt als Atomwaffensperrvertrag, erkennen.

Schnell stellten sich Erfolge ein: Das Verhältnis zu Paris, Washington und London verbesserte sich. Das geschah trotz äußerst schwieriger Verhandlungen über den Nichtverbreitungsvertrag, der auch innerhalb der Koalition für Unfrieden sorgte. Vor allem Strauß lehnte ein solches Vertragswerk rundheraus ab.

Vorbedingungen für erste Gespräche mit Moskau wurden ausgelotet. Mit zahlreichen osteuropäischen Staaten wurde die Möglichkeit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen diskutiert, was zumindest einer Relativierung der Hallstein-Doktrin gleichkam. Brandt machte überall eine gute Figur und kam an.

Innerhalb der ersten 60 Tage seiner Amtszeit war es Brandt gelungen, den „Anfang vom Anfang einer neuen, realistischen und aktiven Politik“ zu machen. Die Bundesrepublik hatte ihre Position und Glaubwürdigkeit gefestigt und ihren diplomatischen Handlungsspielraum erweitert.

Zwischen Bilateralismus und Multilateralismus: Politik in den Bündnissen und gegenüber Verbündeten

Brandt stand einer weitreichenden europäischen Integration mit supranationalen Institutionen offen gegenüber, hielt aber einen europäischen Bundesstaat nicht für realistisch. Aber es gab keine stimmige oder abgestimmte Europastrategie der Bundesregierung. Stattdessen entsprach es Brandts Pragmatismus, stets den nächstmöglichen Schritt hin zu einer europäischen Einigung im Blick zu haben und umzusetzen.

Als erhebliches Hindernis erwies sich Charles de Gaulle, der sich, trotz anfänglichen Wohlwollens, auch nicht als Partner für eine neue Ostpolitik gewinnen ließ. Gleichzeitig wurde jede deutsch-französische Annäherung von den USA argwöhnisch beäugt. Brandt gelang es in vielen Gesprächen, die Befürchtungen zu zerstreuen, ein engeres Verhältnis Bonn/Paris könne zu einer Entfremdung zu Washington führen. In dieser Situation wagte er nur vorsichtige Kritik am amerikanischen Engagement in Vietnam, was ihm erheblichen Gegenwind in der eigenen Partei einbrachte.

Noch größer war die Gratwanderung bei den langwierigen Verhandlungen zum Atomwaffensperrvertrag. Trotz intensiver Bemühungen Brandts verhinderten Kiesingers Verzögerungstaktik und die Fundamentalopposition der CSU unter Strauß eine deutsche Unterschrift.

Dagegen hatte Brandt dank intensiver diplomatischer Bemühungen erheblichen Anteil daran, dass die Ideen des Harmel-Berichts bezüglich einer abgestimmten Entspannungspolitik der NATO-Partner gegenüber den Staaten des Ostblocks erfolgreich in der neuen NATO-Sicherheitsstrategie des flexible response umgesetzt wurde. Die Anregungen des Warschauer Paktes im Budapester Appell zur Bildung einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa griff er auf und arbeitete gleichzeitig mit Egon Bahr am Konzept einer europäischen Friedensordnung, in der die Deutsche Frage integriert war.

 

Willy Brandt und die „neue“ Ost- und Deutschlandpolitik der Großen Koalition

In der Frage des Umgangs mit der DDR und den osteuropäischen Staaten traten die programmatischen Dissonanzen zwischen den Koalitionspartnern immer wieder deutlich zutage. Für einen fruchtbaren Ost-West-Dialog notwendige Neuansätze wie die Abkehr von der Hallstein-Doktrin und eine De-facto-Anerkennung der DDR fielen Kiesinger schwer zu akzeptieren, und noch schwerer seiner Fraktion.

In vielen Aspekten hieß es daher „Zwei Schritte vor, einer zurück“ – und manchmal auch anderthalb. So etwa bei dem schleppend einsetzenden Briefwechsel Kiesingers mit dem Vorsitzenden des Ministerrats der DDR Willi Stoph, dem Handelsabkommen mit der ČSSR, der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen mit Jugoslawien und dem deutsch-sowjetischen Gewaltverzichtsdialog.

Der Einmarsch des Warschauer Paktes in die ČSSR machte die begrenzten diplomatischen Einflussmöglichkeiten unter den Rahmenbedingungen des Kalten Krieges deutlich. Brandt sah sich auf tragische Weise bestätigt, dass Schritte der Annäherung zwischen Ost und West nur in homöopathischen Dosen und mit Moskaus Zustimmung erfolgen konnten, ohne dabei den kommunistischen Osten allein auf Moskau zu reduzieren. Während sich zahlreiche Skeptiker in der Union bestätigt und den Eisernen Vorhang gewissermaßen betoniert sahen, rückten Brandt und die SPD-Führung vom Ziel der Entspannung, des „Wandels durch Annäherung“ nicht ab. Man achtete aber nun auf leise Töne.

So nutzte Brandt die schwierigen Verhandlungen mit DDR und UdSSR über die Durchführung der Bundesversammlung zur Wahl des Bundespräsidenten 1969, um vorsichtige Annäherungen im deutsch-deutschen Verhältnis zu erreichen, und initiierte eine neue Berlin-Initiative der Westmächte.

Diese Beharrlichkeit zahlte sich aus: Moskau, Budapest und Warschau signalisierten Bereitschaft zu weitergehenden Schritten. Konkrete Verhandlungen wurden vorbereitet, ihr Startschuss erfolgte aber erst unter Bundeskanzler Willy Brandt.

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Das Buch ist kein unterhaltsamer Schmöker für trübe Herbstabende im Ohrensessel. Aber es gehört zweifellos in die Bibliothek von jedem, der sich mit politischen und historischen Wissenschaften beschäftigt, über Parteigrenzen hinweg.

Der Detailreichtum ist beeindruckend. Qualität und Quantität der ausgewerteten Quellen, insbesondere die zahlreichen Zeitzeugengespräche, machen das Buch zu einem unverzichtbaren Standardwerk für das Verständnis der brisanten diplomatischen Lage der Jahre 1966-1969. Sie gewähren aber auch intime Einblicke in das von Anfang an problematische Verhältnis der Koalitionspartner.

Die Strukturierung – teils chronologisch, teils thematisch, – ist sinnvoll und erleichtert den Zugang. Die Darstellung selbst ist überwiegend deskriptiv, geht aber immer wieder auf zentrale Forschungsdiskussionen ein. Kontroversen werden diskutiert, ohne allzu pointierte Positionierungen vorzunehmen.

Ohne in naive Heldenverehrung zu verfallen, wird Willy Brandts Zeit als Außenminister fachlich fundiert und sachlich argumentiert in allen Details ausgeleuchtet. Es wird deutlich, dass sie in all ihren Facetten fundamental war für die weitere Entwicklung der Persönlichkeit und des Politikers Willy Brandt, der in seiner Kanzlerschaft in den Olymp der herausragendsten Gestalten des 20. Jahrhunderts aufsteigen sollte.


Ivan Krastev (2020): Europadämmerung, Berlin: Suhrkamp.

Eine Buch-Essenz der Friedrich-Ebert-Stiftung,

kurzgefasst und eingeordnet von Stephan Schmauke

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Ivan Krastevs Essay Europadämmerung analysiert die Krise der Europäischen Union nicht aus ökonomischer Perspektive oder von der Warte der politischen Theorie. Er stellt vielmehr zwei konkrete Fragen in den Mittelpunkt:

  • In welcher Weise hat die seit 2015 bestehende Flüchtlingskrise die europäische Gesellschaft verändert? Und:
  • Warum verachten große Teile der EU-Bürger_innen die Brüsseler Eliten?

Der Schlüssel zum Verständnis seiner Antworten auf diese Fragen liegt in seiner osteuropäischen Perspektive. Im Kern geht es ihm darum, die drohende Spaltung der Europäischen Union in ein (westliches) Kerneuropa und osteuropäische Abtrünnige abzuwehren. Die Gefahr der europäischen Desintegration sieht er weniger darin, dass sich etwa Polen und Ungarn – die sogenannten illiberalen Demokratien – von der Union abwenden, sondern vielmehr darin, dass die Bereitschaft der liberalen Demokratien schwindet, diese Staaten weiterhin in die Union zu integrieren.

Ansatzpunkte für eine an der sozialen Demokratie orientierte Politik gibt es in Krastevs Essay gleich mehrere:

  • die ideologische Leere, die nach dem Ende der Systemkonfrontation zwischen Kapitalismus und Kommunismus entstanden ist – sowie das Unvermögen des Liberalismus, sie zu füllen;
  • die Skepsis Mittel- und Osteuropas gegenüber kosmopolitischen, multikulturalistischen und globalisierungsoffenen Politikansätzen;

die Auseinandersetzung mit Gründen für das Erstarken des Rechtspopulismus.

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Ivan Krastev, geboren 1965 in Bulgarien, ist Politologe und Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies in Sofia und Permanent Fellow im Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien. Aktiv als Publizist und Politikberater schreibt er unter anderem für die Zeitschrift die Zeitschrift Transit – Europäische Revue und die New York Times. 2020 bekam er den Jean-Améry-Preis für europäische Essayistik.

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Europa in der Krise: Explosion oder Erosion?

Auch wenn er den Essay mit einer Reminiszenz an das Ende der Habsburger Monarchie einleitet, ist Krastev nicht der Meinung, dass Europa mit einem Knall auseinanderspringen wird. Trotz des Brexits sieht er auch nicht die Gefahr, dass sich weitere Teile der Peripherie vom europäischen Zentrum – das für ihn ganz klar aus Frankreich und Deutschland besteht – abspalten werden. Die Gefahr sieht er eher als eine fortgesetzte Funktionsstörung der europäischen Institutionen, die zur Folge haben könnte, dass das Zentrum gegen die Peripherie rebelliert. Europa wird am Ende sein, wenn Frankreich und Deutschland Teile Osteuropas nicht mehr in der Union haben wollen.

Europa – eine „Idee auf der Suche nach einer Realität“

Was hat die EU bisher zusammengehalten? War es die Sorge, einen zukünftigen Krieg zwischen europäischen Nationalstaaten unmöglich zu machen? War es das geostrategische Interesse der USA, das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion offensichtlich nicht mehr als besonders dringlich angesehen wird? War es das Sozialstaatsmodell, mit dem Europa einen besonderen Akzent innerhalb der westlichen Wertegemeinschaft setzen konnte, das sich aber heute in der Krise befindet?

Jedenfalls stammen die Legitimationserzählungen des Modells Europa aus der Zeit des Kalten Krieges und galten ohnehin nur für den westlichen Teil Europas. Sie sind durch die geopolitische Veränderungen seit 1989 und die Globalisierung der Märkte in den Neunzigern obsolet geworden. Die europäische Idee der Universalität der Menschenrechte, verbunden mit dem Modell des (sozial-)liberalen Wohlfahrtstaats war das europäische Erfolgsmodell – und dessen Strahlkraft ist vergangen. Nach Europa– so die wortgetreue Übersetzung des Originaltitels von Krastevs Essay – bedeutet nicht, dass die Europäische Union zerbricht, sondern deutet darauf, dass Europa kein weltweites politisches Vorbild mehr ist, dass der politische Einfluss Europas in der Welt gering ist und dass die europäischen Bürger_innen die Zuversicht verloren haben, dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern könnte.

Weltweite Migrationsbewegungen als Herausforderung an den europäischen Zusammenhalt

Krastev verwendet die Ausdrücke „Migrationskrise“ und „Flüchtlingskrise“ synonym, um auf die zentrale Bedeutung der weltweiten Migrationsbewegung für das europäische Selbstverständnis aufmerksam zu machen, die in der „Flüchtlingskrise“ 2015 nur ihren ersten medienwirksamen Höhepunkt hatte: „Seit dem Fall der Berliner Mauer, der als Vorbote einer offenen Welt empfunden wurde, hat Europa 1200 Kilometer Grenzzäune errichtet oder zu errichten begonnen, die andere fernhalten sollen. […] Die Flüchtlingskrise erweist sich als Europas 11. September.“ Flüchtende, die in ihrem Heimatland von Verfolgung bedroht sind oder in deren Heimat Krieg herrscht, machen ja nur einen Teil der weltweiten Migrationsbewegung aus. Die meisten Migrant_innen suchen sich Europa nicht aus ideologischen Gründen als Zielort aus, sondern um der Armut in ihren Heimatländern zu entkommen: „Der Weg in die Europäische Union ist heute attraktiver als jede Utopie. Für viele ‚Verdammte dieser Erde‘ bedeutet Veränderung heute, wegzugehen und das Land zu wechseln, anstatt zu bleiben und die Regierung auszuwechseln.“

Das Entscheidende ist nun, dass die Reaktionen auf die Herausforderung der weltweiten Migrationsbewegung innerhalb der europäischen Politik unterschiedlich ausfallen: Im Westen gehen die Regierungen im Großen und Ganzen tolerant mit der Migration um, obwohl sie sich natürlich auch rechtspopulistischer Bewegungen erwehren müssen, die sich der Flüchtlingskrise als Agitationsmittel bedienen. Hingegen befürchten mittel- und osteuropäische Regierungen in offenbarer Übereinkunft mit der Wählermehrheit eine „Invasion der Barbaren“ und empfinden dies als existenzielle Bedrohung.

Die osteuropäische Perspektive

Dies gilt es zu verstehen. Zunächst muss es befremden, warum die Ressentiments gegen Flüchtende in den Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes ungleich stärker ausgeprägt sind als im Westen: Erstens haben sie je eigene Auswanderungstraditionen, sodass sie für die Sorgen und Nöte von Migrant_innen aufgeschlossener sein sollten; zweitens sind die absoluten Zahlen von Migrant_innen in den mittel- und osteuropäischen Ländern niedrig; und drittens schließlich würde ihre demografische und wirtschaftliche Lage es geradezu erfordern, Migrant_innen in großem Maßstab aufzunehmen.

Der erste Erklärungsansatz Krastevs besteht im Hinweis auf das stark ausgeprägte osteuropäische Geschichtsbewusstsein. Beispiel Polen: Zwischen den Kriegen war Polen eine multikulturelle Gesellschaft, heute ist Polen eine der „ethnisch homogensten Gesellschaften der Welt“. Multikulturalismus erscheint vor dieser Faktenlage als Erinnerung an dunkle Zeiten.

Ein weiterer Ansatz ist die osteuropäische Übernahme der französischen zentralistischen Staatsidee zusammen mit der deutschen Auffassung von Nation, die auf der Abstammung gründet. Andersherum wäre es vielleicht besser gewesen: eine föderalistische Struktur des Staates, verbunden mit dem Konzept, dass sich die Nation durch die Loyalität zu den republikanischen Institutionen gründet.

In diesem Zusammenhang spielt das historische Erbe des Kommunismus wie auch dessen Zusammenbruch eine große Rolle: „Mitteleuropa ist Weltmeister im Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen.“ Während kosmopolitisches Denken nach der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wie ein Befreiungsschlag wirkte, empfanden die Menschen im Stalinismus Internationalität eher als oktroyierte Zwangsmaßnahme: „In Westeuropa symbolisiert 1968 das Engagement für kosmopolitische Werte, während dieses Jahr im Osten für die Wiedergeburt nationaler Gefühle steht.“ Während nach dem Zusammenbruch des Kommunismus Politiker wie Václav Havel die europäische Integration vorantrieben, wird der Duck zur Übernahme europäischer Normen und Institutionen von der gegenwärtigen Politikergeneration eher als nationale Demütigung aufgefasst. Und damit stehen sie den Bürger_innen nicht unbedingt fern. Beispiel Bulgarien: Hier findet seit Jahren eine Massenemigration in den Westen statt, die nicht nur den bulgarischen Arbeitsmarkt erschüttert, sondern auch für einen Abfluss der Intelligenzia sorgt: Es ist „einfacher, nach Deutschland zu gehen, als dafür zu sorgen, dass Bulgarien wie Deutschland funktioniert.“

Vor diesem Hintergrund wird es verständlich, dass vor allem die mittel- und osteuropäische Landbevölkerung angesichts der eigenen Marginalisierung in der Migration eine Bedrohung ihrer ethnischen Identität zu sehen vermag. „Die Spaltung zwischen dem Westen und dem Osten Europas in den Einstellungen zu Diversität und Migration hat große Ähnlichkeit mit der Spaltung zwischen den kosmopolitischen Großstädten und ländlichen Gebieten innerhalb der westlichen Gesellschaften.“ Schließlich gibt es auch einschlägige osteuropäische Erfahrung mit gescheiterten Integrationsversuchen. Krastev bezieht sich dabei auf die problematische Geschichte der Roma.

Die Verachtung der Brüsseler Eliten

„Sie, das Volk“ – diese verfremdende Wendung des Slogans „Wir sind das Volk!“ weist auf das Thema des zweiten großen Abschnitts von Krastevs Buch hin: Die Perspektive des europäischen politischen Establishments, dem die zu Regierenden scheinbar fremd geworden sind. Den Auftakt macht eine Rekapitulation der Geschehnisse rund um den drohenden Staatsbankrott Griechenlands, der zunächst zur Abwahl des griechischen Ministerpräsidenten Giorgos Papandreou führte, dann zum kurzen Kampf von Alexis Tsipras' Syriza-Partei gegen das austeritätspolitische Diktat der „Troika“, bestehend aus IWF, Europäischer Zentralbank und der Europäischen Kommission, und schließlich mit einer Niederlage von Tsipras endete, der die harten Sparauflagen akzeptieren musste.

„Die zeitweilige Lösung der Griechenlandkrise war in einem fundamentalen Punkt lehrreich. Wenn die gemeinsame europäische Währung überleben soll, muss den Wählern der Schuldnerstaaten das Recht zu einem Kurswechsel in ihrer Wirtschaftspolitik genommen werden, auch wenn sie durchaus das Recht behalten, ihre Regierung auszuwechseln.“

Die harte Haltung der „Troika“ gegenüber Griechenland erklärt sich zum Teil aus dem Dilemma, weder den griechischen Staatsbankrott zulassen, noch ein Signal an andere europäische Staaten senden zu wollen, indem man Tsipras Zugeständnisse gemacht hätte. Die drakonischen Bedingungen der Neuorganisation des griechischen Staatshaushaltes hatten ihr Drohpotenzial in Richtung anderer populistischer Regierungen bewiesen. „Aber hat der Sieg der ökonomischen Vernunft über den Willen der [griechischen] Wähler einen Beitrag zum Überleben der Union geleistet? […] Statt dass Brüssel den Glanz eines gemeinsamen europäischen Heims symbolisiere, steht die Hauptstadt der EU längst für die unkontrollierte Macht der Märkte und die zerstörerische Kraft der Globalisierung.“

Warum hassen (oder verachten) Europas Bürger die Europapolitiker? Brüsseler Politiker gelten als meritokratische Elite, die als solche die unangenehme Eigenschaft hat, alle auszuschließen, die es nicht „verdient“ haben, in ihren Kreis aufzusteigen. „Meritokratie“ ist ein vom Soziologen Michael Young geprägter Begriff, der von Anfang an davor warnte, dass eine meritokratische Rechtfertigung von gesellschaftlicher Ungleichheit dazu tendiert, diese Ungleichheit, da an „Verdienst“ und „Leistungsfähigkeit“ gekoppelt, zu zementieren. Krastev vergleicht die Meritokraten mit den hochbezahlten Stars im internationalen Fußball: Die Vereine kaufen sie ein, um zu gewinnen, aber die Fans bedauern sie nicht, wenn sie verlieren.

Eine Erklärung für die wachsende Illiberalität vor allem mittel- und osteuropäischer Staaten ist das Gefühl ihrer Bürger, zu bedrohten Mehrheiten zu gehören: „Der eigentliche Reiz der liberalen Demokratie liegt darin, dass sie nicht nur das Privateigentum und das Recht der politischen Mehrheit, die Regierung zu stellen, sondern auch das Recht der Minderheiten schützt und sicherstellt, dass die Wahlverlierer bei den nächsten Wahlen erneut antreten können und nicht ins Exil oder in den Untergrund gehen müssen, während die Sieger ihren Besitz konfiszieren.“

Der von liberalen Demokratien garantierte Minderheitenschutz wird in Osteuropa als Instrument zur Entmächtigung politischer, ethnischer und religiöser Mehrheiten empfunden. „Populistische und radikale Parteien […] versprechen ihren Wählern etwas, das in der liberalen Demokratie ausgeschlossen ist: das Gefühl eines Siegs, der es den Mehrheiten […] erlaubt, nun zu tun, was ihnen gefällt.“

Ausblick: Annäherung von West und Ost als Demonstration der Überlebensfähigkeit der EU

Die Probleme Osteuropas zu ignorieren wird der Europäischen Union nicht guttun. Statt auf ideologische Konfrontation mit den Regierungen zu setzten, wirbt Krastev für einen verständnisvollen Umgang mit den Sorgen und Nöten der osteuropäischen Bürger_innen: „Nur Kompromissbereitschaft wird die Wahrscheinlichkeit eines Überlebens der EU erhöhen. Wenn uns die Union am Herzen liegt, sollten wir der Versöhnung die höchste Priorität einräumen. Die EU sollte nicht versuchen, ihre zahlreichen Feinde zu besiegen, sondern sie zu erschöpfen und dabei auch gelegentlich auch Teile ihrer Politik (einschließlich der Forderung nach gut geschützten Außengrenzen) und sogar einige ihrer Einstellungen zu übernehmen (freier Handel ist nicht immer ein Win-win-Spiel). Linear ist der Fortschritt nur in schlechten Geschichtsbüchern.“

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Die Lektüre Krastevs ist immer dann besonders produktiv, wenn er sich auf die unterschiedlichen Sichtweisen der Bürger_innen Ost- und Westeuropas bezieht bzw. den osteuropäischen Standpunkt jenseits des Stereotyps der „illiberalen Demokratien“ deutlich zu machen versucht. Denn es wäre viel zu einfach, den Osteuropäern vorzuwerfen, sie hätten wegen der kommunistischen Vergangenheit immer noch Defizite an gelebter Demokratie und würden deswegen viel eher dem Rechtspopulismus zuneigen als die Bürger_innen westeuropäischer Staaten. (Immerhin schaffen es die Wähler_innen der meisten westeuropäischen Staaten bisher noch, wenigstens eine rechtspopulistische Regierung zu verhindern.)

Dass politische Parteien im Spektrum der sozialen Demokratie in ganz Europa seit der Integration neoliberaler Positionen an Wählerakzeptanz verloren haben, ist ja kein Geheimnis. Dass Teile ihrer Wählerschaft massiv ins rechtspopulistische Lager abgewandert sind, ist ein Trend, der zumindest aufgehalten werden könnte. Dafür reicht es aber nicht, sie als illiberal oder als autoritäre Charaktere abzustempeln, vielmehr sollte man sich ihre Sorgen und Nöte bewusst machen. Und Krastevs Essay bietet dazu einen um Verständnis werbenden Ansatz. 


Winfried Veit (2020): Europas Kern. Eine Strategie für die EU von morgen. Bonn: Dietz Verlag.

Eine Buch-Essenz der Friedrich-Ebert-Stiftung,

kurzgefasst und eingeordnet von Hans-Peter Schunk

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Kernaussagen

Die EU, die ursprünglich nicht für 27 Mitglieder ausgelegt war, ist infolge innerer Krisen und fortwährender divergierender Interessenslagen träge geworden und somit nicht mehr hinreichend handlungsfähig. Insbesondere im Bereich Sicherheits- und Außenpolitik sowie Wirtschafts- und Finanzpolitik bedarf es eines kleineren Kerns an Staaten, der souverän mit vereinigter Stimme spricht und einer Lokomotive gleich die übrigen Staaten nach sich zieht. Dieses Konzept geht von einem „Kerneuropa“ aus, welches – anknüpfend an das 1991 ins Leben gerufene „Weimarer Dreieck“ – von Deutschland, Frankreich und Polen gestützt wird.

Einordnung aus Sicht der Sozialen Demokratie

Die Soziale Demokratie setzt sich stets für ein einiges und starkes Europa ein. Ein Nachdenken über ein grundlegend neu strukturiertes, handlungsfähigeres Europa kann somit als wichtiger Impuls erachtet werden, wenngleich eine zu starke Gewichtung der Rolle einzelner Staaten aus Sicht der Sozialen Demokratie problematisch sein kann.

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Winfried Veit, geboren 1946, ist Politikwissenschaftler und Publizist sowie Dozent für internationale Beziehungen an der Universität Freiburg. Von 1976 bis 2011 war er Mitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stiftung und dort u.a. tätig als Referatsleiter für Osteuropa und Zentralasien.

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Die Zukunft Europas auf Messers Schneide

Die Welt scheint aus den Fugen geraten zu sein. Eine neue Weltordnung ist am Werden. Bisher bleibt unklar, ob sich eine bipolare Ordnung mit den USA und China oder eine multipolare Ordnung herausbildet. Die EU ist dabei nur eine von vielen Akteuren, die sich zahlreichen Herausforderungen ausgesetzt sehen. Islamistische Terroranschläge wie die von Madrid, London, Paris und Berlin sind neben der Radikalisierung dschihadistischer Gruppen in Nahost und der Sahelzone eine ernste Bedrohung für Europa. Darüber hinaus führen der weltweite demografische Wandel, Bürgerkriege und zerfallende Staaten zu Migrationsströmen nach Europa.

Der Klimawandel und drohende Verteilungskonflikte um Ressourcen sowie eine verfehlte Entwicklungspolitik im Bereich der Agrarsubventionen und eine erzwungene Öffnung von Märkten, die den Nord-Süd-Konflikt verschärfen, zementieren das Problem fortwährend. Die Folgen der Migrationen besitzen bisweilen das Potenzial, „Räume begrenzter Staatlichkeit“ zu schaffen. Durch die Verschärfung der sozialen Kluft wird so eine kulturelle Spaltung erzeugt, die nicht zuletzt bei osteuropäischen Staaten zu einer Furcht vor Zuständen führt, wie sie sich vermeintlich in anderen europäischen Ländern vorfinden lassen.

Überdies kommt es seit einigen Jahren zu einer Rückkehr der Geopolitik auf der Weltbühne. Aufsteigende Mächte wie China, Indien, Brasilien oder auch Russland setzen dem Westen zunehmend Widerstand entgegen und betrachten dabei die internationale Politik als „Nullsummenspiel“ unter den Mächten. Die Annexion der Krim oder der fortwährende Druck auf Taiwan zeugen davon. Ferner wirkt sich die Geopolitik aber auch durch eine Handelspolitik mithilfe von Präferenzabkommen aus, welche auf Macht- und Einflussgewinn abzielt.

Laut Samuel Huntington kommen zudem seit Ende des 20. Jahrhunderts zu ideologischen und ökonomischen Konfliktherden noch Auseinandersetzungen zwischen Ländern und Gruppen unterschiedlicher Kultur hinzu. Folglich stellt sich unter diesen Bedingungen die Frage, wie die EU den selbst auf die Fahnen geschriebenen Multilateralismus aufrechterhalten kann. Eklatante Probleme bestehen aber vor allem in der Außen- und Sicherheitspolitik. Insbesondere die 1997 beschlossene NATO-Osterweiterung oder die Nichtbeachtung eines 2009 von Dimitri Medwedew vorgelegten Konzepts über die Sicherheitsarchitektur vom Atlantik bis Wladiwostok schürten Misstrauen Russlands gegenüber der EU, ebenso wie deren Bemühungen, sechs ehemalige Sowjetrepubliken an sich zu binden.

Unter Trump hat sich außerdem gezeigt, dass die USA nicht bereit sind, ohne ein hinreichendes finanzielles Engagement weiter als Sicherheitsgarant der westlichen Staaten aufzutreten. China ist jedoch der größte Konkurrent, gegen den es sich zu behaupten gilt. Nach dem „Jahrhundert der Demütigung“ möchte China den Zustand der Führungsrolle in Ostasien und darüber hinaus wiederherstellen. Seit 2010 ist China die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt und setzt mit dem 900 Milliarden Dollar teuren Projekt der „Neuen Seidenstraße“ einen neuen Standard infrastruktureller Vernetzung.

Indien ist für die EU als größte Demokratie der Welt nicht nur ein potenziell wichtiger Handelspartner, sondern vor allem auch ein Verbündeter in der Auseinandersetzung um die Erhaltung des Multilateralismus und damit einer regelbasierten globalen Ordnung. Insbesondere auch aufgrund des Klimawandels darf Brasilien – in welchem sich große Teile des Amazonas Regenwald befinden – als relevanter Faktor in Südamerika nicht vergessen werden.

Nach ihrer ökonomisch-funktionalen Gründung ist eine wirkliche politische Integration ausgeblieben. Die weit ausufernde Bürokratie-Maschinerie, die fehlende Möglichkeit, die Regierung selbst wählen zu können, und das Missachten einer geistig-kulturellen Grundlage erschweren eine nachhaltige Identifikation mit der EU. Vielmehr wird sie als ein technokratisch-blutarmes Konstrukt ohne Tiefenbasis erachtet. Diese strukturellen Defizite bildeten dabei Katalysatoren der sich seit 2008 ereignenden Krisen.

Um der genannten Probleme und anschwellenden Konfliktherde Herr zu werden, bedarf es daher einer souveränen Handlungsfähigkeit nach außen. Aufgrund divergierender Interessen von 27 Staaten verharrt die EU jedoch in inneren Krisen und einer zwieträchtigen Schwerfälligkeit. Zentral ist dabei, dass sich die EU ihrer eigenen Identität mitsamt klarem Wertekanon nicht mehr sicher ist. Die Berufung auf die Aufklärung als zentralem Fundament der Wertetradition bei Nichtachtung der christlichen Vergangenheit hat ein „geistiges Vakuum“ erzeugt, das bei nichtwestlichen Kulturkreisen zu Gegenreaktionen führt.

Ausgelöst durch die fehlende Einigkeit ist nicht die Chiffre der kampfbereiten Verteidigung universeller Werte als einheitliche Moral übrig geblieben, sondern lediglich ein Label über Diskussion um volle Supermärkte oder die Geschäftspraktiken von Amazon. Nicht Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, sondern Frieden und Sicherheit stehen zu Beginn des 21. Jahrhunderts an erster Stelle. Europa muss sich deshalb mit dem Export europäisch-westlicher Werte zurückhalten, da in Europa selbst in Form von Populismus- und Illiberalismusdebatten Uneinigkeit herrscht.

Was nun im Westen aufgrund der Auflösung der eigenen kulturellen Dominanz als „Kosmopolitismus“ verkauft wird, erscheint außerhalb als „Kolonialismus mit anderen Mitteln“. Dass im Kosovo das Recht auf Selbstbestimmung mit Waffen durchgesetzt wurde, während im Falle der Krim auf die territoriale Integrität der Ukraine bestanden wird, zeigt weitere Ungereimtheiten auf. Die Postcolonial Studies zeigen darüber hinaus, wie die kulturelle Dominanz Europas einer Provinzialisierung weicht. Diese kann jedoch gleichsam als Chance begriffen werden, mithilfe der eigenen Werte ein kleineres, schlagkräftigeres Europa zu schaffen.

Eine Strategie für die EU von morgen

In Paneuropaideen von Nietzsche, Napoleon und Victor Hugo können erste Vorläufer des Kerneuropakonzepts identifiziert werden. Mit dem Konzept von Nicolaus Coudenhove-Kalergi findet sich dann in der Zwischenkriegszeit ein wirklicher Vorläufer des Kerneuropagedankens. Damit nicht die europäische Seele preisgegeben werde, hielt er am nationalen Individualismus fest.

Als tatsächliche „Geburtsurkunde“ von Kerneuropa gilt das Schäuble-Lamers-Papier von 1994. Ziel war die Bildung einer Kerngruppe, die eine Erweiterung und vor allem Vertiefung vereinbaren sollte. Der Kern sollte nicht abgeschlossen, sondern für jedes Mitglied, das diverse Anforderungen erfüllt und zugleich teilnehmen möchte, offen sein. Joschka Fischer sprach 2000 in ähnlichem Geiste in der Humboldt-Universität von einem „Gravitationskern“, der nach dem 11. September jedoch nicht weiterverfolgt wurde. Mit dem ehemaligen Finanzminister Jacques Delors fand sich auf der französischen Seite nur vereinzelt ein Befürworter des Kerneuropagedankens. Mit seiner Rede in der Sorbonne 2017 plädierte Präsident Emmanuel Macron in verwandtem Sinne für eine Neugründung Europas.

Als Grundlage für Europa ist die deutsch-französische Zusammenarbeit ein gutes Vorbild. Die Montanunion zum einen und der Élysée-Vertrag zum anderen begründeten den Anfang einer wichtigen Staatenkooperation und des modernen institutionellen Europas. Heute herrscht eine hohe institutionelle Verflechtung der beiden Staaten vor und sowohl die Ideen der Französischen Revolution sowie Deutschlands wirtschaftliche Stärke bieten dafür ein solides Fundament.

Als drittes Land für den inneren Kern ist Polen – Europas „östliche Schwinge“ – vorgesehen. Polen ist das fünftgrößte Land der EU, nimmt eine Führungsrolle im ostmitteleuropäischen Raum ein und hat sich trotz historischer Komplikationen stets dem Westen zugehörig gefühlt. Polen war mit seiner privaten Landwirtschaft, starken Kirche, liberalen Kulturpolitik und quasi tolerierten Opposition ein Sonderfall im Ostblock. Polen soll gleichsam wieder zurück, wo es politisch und historisch hingehörte: ins Zentrum Europas.

Mit der Gründung des „Weimarer Dreiecks“ im Jahre 1991, das sich aus den Ländern Deutschland, Frankreich und Polen zusammensetzt, war der lange Weg Polens in die EU geebnet worden. Einstweilen erscheint eine tiefere europäische Integration Polens gegenwärtig unwahrscheinlich. Die rechtspopulistische PiS verfolgt eine Europa-kritische Haltung und ihre Politik offenbart fortwährend rechtsstaatliche Defizite. Durch den Brexit und Trumps „America first“-Politik sind wichtige Eckpfeiler der polnischen Außenpolitik weggefallen. Trotz der Beteiligung am europäischen Verteidigungsprojekt PESCO sind aus polnischer Sicht lediglich die USA und die NATO ein wirklicher Sicherheitsgarant gegenüber einer russischen Aggression.

Gegenüber Deutschland besteht ein historisches Misstrauen, das jüngst durch Nord Stream 2 bestätigt wurde. Dennoch ist Deutschland der wichtigste Handels- und Investitionspartner Polens und war 2004 der stärkste Befürworter des polnischen EU-Beitritts. Frankreich genießt in Polen historisch begründete Sympathien seit der Zeit Napoleons. Auch wenn Frankreich skeptisch bei der Ausdehnung der EU nach Osten war und es zu einer Abkühlung mit PiS kam, zeichnete sich durch Bemühungen Emanuel Macrons 2020 eine Wende der Beziehung zwischen beiden Ländern ab. Da die polnischen Bürger_innen pro-europäisch eingestellt sind, ist langfristig eine Kooperation möglich, insbesondere, sobald die PiS das Regierungszepter abgeben sollte. Folglich gilt:

„In sozusagen idealtypischer Weise repräsentieren diese drei Länder alles, was Europa ausmacht: östliche, westliche und kontinentale Perspektiven; konservativ-religiöse, pazifistisch-ökologische und säkulare-patriotische Traditionen; Kampf um das Überleben als Nation, verspätete Nationsbildung, und frühzeitlicher Nationalstaat, geteiltes Land, föderalistische Struktur und Zentralismus pur.“

Für die neue europäische Ordnung ist das Konzept der „konzentrischen Kreise“ vorgesehen. Neben den drei genannten Staaten soll Kerneuropa aus insgesamt acht bis zehn integrationswilligen Ländern bestehen. Eine Teilhabe ist sinnvoll, wenn die geografische Lage der Länder, konkrete historische Entwicklungen sowie die daraus hervorgegangenen unterschiedlichen sozioökonomischen und kulturellen Strukturen gegeben sind.

Der Kern besteht aus einer weitgehend integrierten fiskalischen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Union; der erste Kreis zeichnet sich durch einen starken Binnenmarkt aus, der auch digitale und sicherheitspolitische Aspekte aufgreifen könnte; der zweite Kreis sieht sich als Gemeinschaft von Werten und wirtschaftlicher Freiheit.

In diesem Staatenbund, der weiterhin unter dem Etikett der EU liefe, würde ein Rückbau der bürokratischen Strukturen, Verordnungen und Einmischungen im Sinne des Subsidiaritätsprinzips als oberstes Leitmotiv stattfinden. Alles was auf einer unteren Ebene im Rahmen von Familie, Gemeinde, Verband, Region etc. geregelt und entschieden werden kann, sollte auch dort geregelt werden. Handlungsfähigkeit nach außen und nicht Einmischung nach innen soll hergestellt werden.

Im innersten Kern werden jedoch Souveränitätsrechte im Bereich Wirtschaft, Finanzen und Verteidigung abgegeben. Ein gemeinsamer Haushalt und eine Bankenunion samt Ausgleichsmechanismus zwischen Gläubiger und Schuldner sind dabei vorgesehen. Nach dem Vorbild der Schweiz ist eine Union von Völkern in föderativer Ordnung geplant oder anders gewendet ein „Europa der Regionen“.

Dies spiegelt sich auch institutionell im vorgesehenen Parlament wider. Eine nach einheitlichem Wahlrecht direkt gewählte Nationenversammlung zum einen und ein Senat zum anderen – bei dem die gleiche Anzahl Mitglieder aus nationalen Parlamenten entsandt werden – verzahnen die föderale mit der nationalen Ebene. Weiterhin im Geiste der Schweiz könnten Volksabstimmungen dazu beitragen, das Zugehörigkeitsgefühl zu einer „Staatsnation“ zu festigen.

In einem Kerneuropa würden Abstimmungen sodann nicht nur auf nationaler, sondern auch auf föderaler Ebene erfolgen. Anhand der Verteidigungspolitik zeigt sich zuletzt, dass die Außenpolitik der Kerneuropa-Idee an erster Stelle steht. Beim ersten Schritt wäre die Bündelung von vorhandenen Kapazitäten und der Rüstungsindustrien vorgesehen. Als Fernziel stände schließlich die Schaffung einer Europäischen Armee mit einem gemeinsamen Generalstab. Europa soll ein Sicherheitsgarant gegen Migrationsprobleme und Terrorismus werden. Auf der Tagesordnung steht ein Europa, das schützt, das auch in der Lage ist, seine Nachbarschaft zu schützen, die im Vorhof von Kerneuropa keine engere politische Integration wünschen.

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Das Buch bietet wertvolle Anregungen und Perspektiven, um in einen fruchtbaren Dialog über eine Reformierung der EU einzutreten. Weiterhin liefert Veit einen substanziellen Überblick über verschiedene historische Europakonzeptionen. Durch eine etwas konzisere Schreibweise hätte das Essay kürzer ausfallen können, da es sich zuweilen in Anekdoten verliert. Es bleibt Veits Verdienst, die wichtige Denkfigur Kerneuropas als durchaus legitime Alternative erneut in den Vordergrund zu spielen und somit in den Diskurs einzuspeisen. Damit es nicht lediglich bei einer Wiederaufnahme des Schäuble-Lamers Papier inklusive einiger zusätzlicher Ausführungen bleibt, wäre es wünschenswert, wenn Veit – vielleicht in Zusammenarbeit mit Europapolitiker_innen – noch einen zweiten, weiterführenden Teil vorlegen würde.

Auch wenn sich Willy Brandt schon früher für ein Europa der „verschiedenen Geschwindigkeiten“ ausgesprochen hatte und Heiko Maas sich in einem Interview mit dem Deutschlandfunk 2018 für eine Wiederbelebung des „Weimarer Dreiecks“ ausgesprochen hatte, scheint das Konzept Kerneuropa in der SPD jedoch aktuell keinen weiter reichenden Anklang zu finden. Für Europa-Staatsminister Michael Roth handelt es sich beim Kerneuropa-Konzept vielmehr um einen „exklusiven Klub vereinzelter Staaten“, was in dieser Form nicht funktionieren wird.

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