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Wie kann das VN-Menschenrechtssystem vor Menschenrechtsverletzungen schützen? Ein Artikel der Blogreihe „75 Jahre Menschenrechte“.
Jeder Mensch hat Rechte, und Staaten sind verpflichtet, diese Menschenrechte zu achten, zu schützen und zu gewährleisten. Dazu gehört auch der Schutz vor Dritten, wie z.B. Unternehmen. Denn in der Praxis missachten Unternehmen oft die Menschenrechte und beeinträchtigen damit die Rechte von Arbeitnehmer_innen, ihren Familien und lokalen Gemeinschaften. Die Ausbeutung von Arbeitnehmer_innen beispielsweise verstößt gegen das Recht auf menschenwürdige Arbeitsbedingungen sowie gegen das Recht, nicht in Sklaverei oder Zwangsarbeit zu geraten. Die Belastung durch giftige Chemikalien und Umweltverschmutzung hat dagegen Auswirkungen auf das Recht auf Leben, Wasser sowie eine gesunde und nachhaltige Umwelt. Die Rechte des Kindes und das Recht auf Bildung werden verletzt, wenn von Kinderarbeit profitiert wird. Die Liste solcher Verstöβe lässt sich fortsetzen; oft werden sogar mehrere Rechte, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) und anderen internationalen Menschenrechtskonventionen verankert sind, gleichzeitig verletzt.
Derartige Praktiken deuten darauf hin, dass die Staaten ihren Menschenrechtsverpflichtungen nicht nachkommen, wenn es darum geht, Gesetze zu verabschieden und durchzusetzen, die Unternehmen zur Verantwortung ziehen. Seit den 1970er Jahren versucht die Debatte über Wirtschaft und Menschenrechte (Business and Human Rights, B&HR), diese Lücke zu schliessen. Ein Schwerpunkt liegt seit jeher auf transnationalen Konzernen (TNCs) und anderen Unternehmen, die in globalen Wertschöpfungsketten tätig sind. Diese sind häufig an Menschenrechtsverletzungen in ihrem so genannten „Gastland“ beteiligt und entziehen sich dabei jeglichen rechtlichen Konsequenzen. In den letzten Jahren hat das Thema in den Genfer Menschenrechtsinstitutionen an Bedeutung gewonnen. Diese spielen eine zentrale Rolle bei der Klärung der Sorgfaltspflichten von Staaten und der Rolle von Unternehmen. Derzeit werden zwei Arbeitslinien verfolgt.
Die erste Arbeitslinie nahm 2011 an Fahrt auf, als der damalige Sonderbeauftragte des Generalsekretärs für die Frage der Menschenrechte und transnationale Konzerne sowie andere Wirtschaftsunternehmen, John Ruggie, die „Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte“ (Guiding Principles on Business and Human Rights; UNGPs) vorstellte, die vom Menschenrechtsrat (MRR) einstimmig angenommen wurden. Die Leiprinzipien bilden ein maβgebendes globales Regelwerk, das auf drei Säulen beruht. Schutz: Bestätigung der Pflicht von Staaten, Menschenrechte zu schützen und das Handeln von Unternehmen zu regulieren. Achtung: Zum ersten Mal wird die Verantwortung aller Unternehmen klargestellt, Menschenrechte zu achten, und zwar nicht nur diejenigen Rechte, die in den nationalen Gesetzen ihres „Gastlandes“ beschrieben sind, sondern auch die, die in internationalen Menschenrechtsverträgen verankert sind. Abhilfe: Sowohl Staaten als auch Unternehmen werden aufgefordert, Opfern von Verstöβen wirksamen Zugang zu Rechtsmitteln zu verschaffen.
Darüber hinaus hat der MRR als eines seiner Sonderverfahren die „VN-Arbeitsgruppe für Wirtschaft und Menschenrechte“ und das jährliche „VN-Forum für Wirtschaft und Menschenrechte“ in Genf eingerichtet. Sowohl die Arbeitsgruppe als auch das Forum wurden geschaffen, um die Leitprinzipien und deren Umsetzung zu fördern sowie Dialog und Zusammenarbeit rund um das Thema Wirtschaft und Menschenrechte weiter voranzutreiben.
Allerdings sind die Leitprinzipien rechtlich nicht bindend. Obwohl sie die Pflichten der Staaten bekräftigen, bleibt es wiederum den Staaten überlassen, ob sie sie durch eine entsprechende Gesetzgebung umsetzen. Die Leitprinzipien können also nur so stark sein wie Staaten es zulassen. Verbunden mit anhaltenden Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen bestehen die Forderungen nach einem rechtlich verbindlichen Instrument weiter. Forderungen, die zu einer zweiten Arbeitslinie führten.
Im Jahr 2014 setzte der MRR eine „zwischenstaatliche Arbeitsgruppe“ (OEIGWG) ein, um einen Entwurf für ein internationales Abkommen (UN-Treaty) im Bereich Wirtschaft und Menschenrechte zu erarbeiten. Am 23. Oktober 2023 wird die OEIGWG in ihre neunte Verhandlungsrunde gehen, um ihren jüngsten Entwurf zu diskutieren. Viele Punkte sind nach wie vor umstritten. Die intensiven Verhandlungen zwischen Staaten und weiterer Akteur_innen werden sich unter anderem um die Fragen drehen, auf welche Art von Unternehmen der Vertrag angewandt werden soll (nur auf transnationale Unternehmen oder auch auf andere), ob Umweltfragen mit abgedeckt werden und wie der Zugang zu Rechtsmitteln geregelt werden soll.
Nach der Einführung dieser beiden Arbeitslinien auf internationaler Ebene wurden auch auf nationaler und regionaler Stufe wichtige Gesetzesinitiativen ergriffen (z. B. Frankreich (2017): Loi de vigilance; Deutschland (2021): Lieferkettengesetz; EU (laufend): Corporate Sustainability Due Diligence Directive - CSDDD). Es wird jedoch immer deutlicher, dass nationale und regionale Gesetze durch internationale rechtliche und politische Regelwerke ergänzt werden müssen, um wirksam sein zu können. Eine entscheidende Rolle bei der Ausarbeitung dieser Regelwerke kommt dabei den internationalen Menschenrechtsinstitutionen zu. Im Gegenzug können Erfahrungen aus nationalen und regionalen Initiativen die Arbeit im internationalen Bereich befruchten.
In einer sich ständig wandelnden Welt werden sich auch die Unternehmensaktivitäten und ihre Auswirkungen auf Menschenrechte stetig verändern. An diese Veränderungen wiederum müssen die Menschenrechtsinstrumente adäquat angepasst werden. In Zusammenarbeit mit ihren Partner_innen unterstützt die FES Genf weiterhin die in Genf ansässigen VN-Menschenrechtsinstitutionen in ihrer Normsetzungs- und Überwachungsfunktion sowie bei der Anleitung zur Umsetzung von Standards, um Staaten und Unternehmen zur Verantwortung zu ziehen. Ein weiterer Ansatzpunkt ist die Verankerung von Menschenrechten in Handelsabkommen, wie z.B. der Afrikanischen Kontinentalen Freihandelszone (AfCFTA). Obwohl Handelsabkommen zwischen Staaten abgeschlossen werden, haben sie direkte Auswirkungen auf Unternehmen und können daher die oben beschriebenen Arbeitslinien im Bereich Wirtschaft und Menschrechte ergänzen.
Es liegt auf der Hand, dass die nationale, regionale und internationale Sphäre nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können. Die Zivilgesellschaft wird weiterhin eine zentrale Rolle bei der Verknüpfung der verschiedenen Ebenen und Politikfelder spielen. Beispielsweise muss sie die verschiedenen Initiativen einer Realitätsprüfung unterziehen: Welche Auswirkungen haben die umgesetzten Gesetze vor Ort, wie müssen sie nachjustiert werden, welche Lehren können für die noch im Entstehen begriffenen Mechanismen gezogen werden. Letztlich wird es auch darum gehen, solche Prozesse vor der Vereinnahmung durch Unternehmen zu schützen. Nur so wird es möglich sein, dass die oben beschriebenen Initiativen die derzeitige offensichtliche Schutzlücke schließen können. Lasst uns das Thema ganzheitlich angehen!
Der 10. Dezember wird jährlich als Internationaler Tag der Menschenrechte begangen. Im Jahr 2023 konzentriert sich die UN-Initiative „Human Rights 75“ im Vorfeld des Jahrestages jeden Monat auf ein anderes Thema. Im Oktober liegt der Schwerpunkt auf „Wirtschaft und Menschenrechte“. Diese monatlichen Themenschwerpunkte sollen über verschiedene Fragen im Zusammenhang mit den Menschenrechten informieren, Diskussionen bereichern und konkrete Wege zur Umsetzung verschiedener Aspekte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aufzeigen. Es wird erwartet, dass das High Level Event der Vereinten Nationen am 11. und 12. Dezember durch konkrete Versprechungen von Staaten und Organisationen der Zivilgesellschaft zu Veränderungen und Fortschritten führen und in den Zukunftsgipfel 2024 einfließen wird.
Weitere Informationen zu den Feierlichkeiten zum Jahrestag der AEMR:
Dieser Artikel erschien am 09.10.23 in englischer Sprache auf geneva.fes.de.
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Koordination Dr. Cäcilie Schildberg
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