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Fluchtursachen angehen - aber richtig!

Die Fachkommission Fluchtursachen schlägt 15 Maßnahmen zur Minderung von Ursachen von Flucht vor. Ein Interview mit Steffen Angenendt (SWP)



Die unabhängige Fachkommission der Bundesregierung hat 15 Empfehlungen zur Minderung von Ursachen von Flucht vorgestellt. Konkret fordern die 24 Mitglieder der Kommission zum Beispiel eine entschiedenere Unterstützung von Aufnahmeländern, mehr Engagement beim Kampf gegen die Klimakrise sowie eine bessere Berücksichtigung der besonderen Lage von Binnenvertriebenen.

Die im Juli 2019 eingesetzte Kommission ist beim Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) angesiedelt. Am 18. Mai 2021 wurde der Bericht auf einer Pressekonferenz offiziell an den Bundesentwicklungsminister Gerd Müller übergeben.

Über den Bericht sprachen wir mit Dr. Steffen Angenendt, Leiter der Forschungsgruppe „Globale Fragen“ bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und Mitglied der Fachkommission Fluchtursachen.

 

FES: In den letzten Jahren ist der Begriff „Fluchtursachen“ zum politischen Mantra geworden – mit sehr unterschiedlichen Interpretationen. Der Auftrag an die Fachkommission war deswegen auch die Ursachen von Flucht und irregulärer Migration zu identifizieren und zu systematisieren. Welche Definition von Fluchtursachen schlägt die Kommission vor?

Uns war wichtig, das Thema in der gesamten Breite zu betrachten, so wie es der Auftrag der Bundesregierung auch vorsah – und zwar nicht nur die Ursachen von Flucht, sondern auch von irregulärer Migration. Denn beide hängen oft zusammen. Wir machen in unserem Bericht deutlich, dass Menschen ihre Heimat oft nicht nur aus einem einzigen Grund verlassen. Gewaltsame Konflikte, Verfolgung, Perspektivlosigkeit sind direkte Ursachen, aber hinzu kommen Ursachen, die oft eher indirekt wirken, wie Bevölkerungswachstum, Umweltzerstörung und Klimawandel. Und es gibt Faktoren, die die Wahl des Ziellandes und des Wanderungsweges beeinflussen. Dazu gehören fehlende Schutzsysteme für Flüchtlinge, aber auch Schleusernetzwerke. Im konkreten Einzelfall können viele dieser Faktoren zusammenwirken. Deswegen lehnen wir politische Ansätze ab, die nur eine Einzelursache in den Blick nehmen.

Sie unterscheiden also zwischen direkten und indirekten Ursachen, schlagen aber vor, dass bei der Minderung von Fluchtursachen auch die Wechselwirkungen beachtet werden?

Richtig. Wir empfehlen ein umfangreiches Maßnahmenpaket, dass die Ursachen von Flucht und irregulärer Migration umfassend angeht. Dabei ist uns klar, dass die Umsetzung der Vorschläge einen langen Atem und beträchtliche Anstrengungen und Ressourcen erfordert, nicht nur von Deutschland, sondern von der ganzen Staatengemeinschaft. Wir machen deutlich, dass ein so komplexes Problem wie Wanderungsursachen nicht mit simplen Methoden und auch nicht kurzfristig gelöst werden kann. Die Minderung der Ursachen von Flucht und irregulärer Migration ist eine Daueraufgabe. Trotzdem kann man mit den richtigen Ansätzen auch kurzfristig viel bewirken.

Aus den fünfzehn Empfehlungen, die der Bericht auflistet, welche Maßnahmen sollten ihrer Meinung nach von der Bundesregierung prioritär umgesetzt werden?

Wir haben uns nach sehr intensiven Diskussionen auf 15 Weichenstellungen geeinigt, die die neue Bundesregierung vordringlich in der neuen Legislaturperiode angehen sollte. Das heißt aber nicht, dass die anderen Empfehlungen des Berichtes weniger wichtig sind. Grundlegend für alle Vorschläge ist, dass die Bundesregierung viele Empfehlungen nur in Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft, der Privatwirtschaft, den Bundesländern und den Kommunen umsetzen kann. Einige Maßnahmen müssen bei uns selbst ansetzen, weil unsere Arbeits- und Lebensweise und unsere Politik zu den Ursachen von Flucht, Vertreibung und irregulärer Migration beitragen können – Beispiele dafür sind Klimapolitik und Rüstungsexporte. Zu den Grundsätzen gehört natürlich auch, dass die Bundesregierung viele Maßnahmen nicht im nationalen Alleingang verwirklichen kann, sondern nur in Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Aufnahmeländern und mit der EU und internationalen Organisationen.

Und welche drei Empfehlungen sind Ihnen besonders wichtig?

Für mich persönlich sind drei Empfehlungen besonders drängend: Erstens, eine mehrjährige, flexible und verlässliche Unterstützung der Erstaufnahmeländer von Geflüchteten, wie zum Beispiel die Türkei, Libanon, Jordanien aber auch Kolumbien und afrikanische Länder wie Sudan und Uganda. Zweitens, mehr legale Wege für Flüchtlinge und Migranten. Dazu gehören eine neue und wirksame internationale Kampagne für das Resettlement von Flüchtlingen, aber auch mehr legale Wege für Migranten. Drittens, ein neuer Anlauf für faire und wirksame Partnerschaften zwischen EU und Herkunftsländern, die Schaffung von Möglichkeiten für Arbeits- und Bildungsmigration, und die Verbindung der Unterstützung bei freiwilliger Rückkehr mit der Reintegration.

Aber ich möchte nochmals betonen, dass diese drei Schwerpunkte nur dann Wirkungen versprechen, wenn auch die anderen Empfehlungen verfolgt werden. Ohne eine Unterstützung von guter Regierungsführung sind wirksame und nachhaltige Partnerschaften nicht denkbar, und ohne mehr Bemühungen um die Bewältigung des Klimawandels lassen sich in besonders betroffenen Gebieten auch keine Perspektiven für die Menschen schaffen.

Warum ist eine internationale Kampagne für das Resettlement von Flüchtlingen so wichtig?

Man muss einfach sehen, dass derzeit der Großteil der weltweiten Flüchtlinge von einigen wenigen Ländern aufgenommen wird, meist von Nachbarstaaten der Herkunftsländer. Diesen Ländern – wie zum Beispiel Türkei und Libanon, aber auch Kolumbien – bereitet die Aufnahme und Versorgung der Flüchtlinge oft enorme Probleme. Eine sehr wirksame Möglichkeit, diese Länder zu entlasten und Flüchtlingen Schutz zu bieten, ist eben das Resettlement, also die Aufnahme von Flüchtlingen, die schon durch das UNHCR als besonders schutzbedürftig identifiziert wurden.

Die Kommission fordert die Bundesregierung auf, eine Allianz für Resettlement zu bilden, die substantielle und langfristige Zusagen über Kontingente anerkannter Flüchtlinge macht. Wie genau könnte so eine Allianz aussehen?

Nach 2016 hatte das Resettlement stark abgenommen, vor allem weil Trump die US-Resettlement-Programme gestrichen hatte. Das will die neue US-Regierung ändern und wieder 120.000 Plätze jährlich anbieten. Aus Sicht der Fachkommission ist das eine gute Gelegenheit für einen neuen multilateralen Vorstoß im Flüchtlingsschutz: Die Kommission empfiehlt, dass Deutschland gemeinsam mit den USA, Kanada und anderen Staaten eine internationale Koalition ins Leben ruft, die sich zu einer jährlichen Neuansiedlung von Flüchtlingen in Höhe von mindestens 0,05 Prozent ihrer Bevölkerung im Aufnahmeland verpflichtet. Für Deutschland wären das etwa 40.000 Flüchtlinge im Jahr. Gemeinsam mit einigen anderen EU-Staaten könnten so in der EU wie in den USA 120.000 Resettlement-Zusagen pro Jahr für besonders gefährdete Menschen, insbesondere Frauen, Kinder und Opfer sexualisierter Gewalt aus den größten humanitären Krisengebieten gegeben werden.

Die Bundesregierung könnte dazu auch private Sponsorenprogramme für Flüchtlinge und ihre Familien unterstützen, womit es in Deutschland auch schon gute Erfahrungen gibt. Und die Bundesregierung sollte ihre Vorbehalte gegenüber einem Engagement von Kommunen bei der Flüchtlingsaufnahme überdenken: In Zusammenarbeit mit den bislang über 220 deutschen Gemeinden, die eine Aufnahme von Flüchtlingen angeboten haben, sollte sie nach Wegen suchen, dieses Engagement zu würdigen und zu nutzen.

 

Dr. Steffen Angenendt

ist seit 2006 Senior Associate der Stiftung Wissenschaft und Politik und leitet die Forschungsgruppe Globale Fragen. Er ist Mitglied der Fachkommission Fluchtursachen der Bundesregierung.


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