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Von Härten und Strapazen: Die wirtschaftliche Lage von Migrant_innen in Libyen

Trotz Bürgerkriegen und politischer Instabilität bleibt Libyen ein wichtiges Ziel- und Transitland für viele Migrant_innen, häufig mit prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen.


 

Ein Gespräch mit Thibaut Girault, Autor der gemeinsamen Studie "Crossing Borders, building livelihoods" des Mixed Migration Center und der Friedrich-Ebert-Stiftung zu den wirtschaftlichen Perspektiven von Migrant_innen in Libyen.

 

Herr Girault, für Migrant_innen auf dem Weg nach Europa ist Libyen ein wichtiges Transitland auf der zentralen Mittelmeerroute. Aus welchen Gründe entscheiden sich Menschen für Libyen und woher stammen die meisten von ihnen?

Thibaut Girault: Libyen ist für Migrant_innen auf der Suche nach wirtschaftlichen Chancen schon lange ein beliebtes Ziel- und Transitland, auch aufgrund konkurrenzfähiger Löhne. Unsere Studie zeigt, dass bei der Entscheidung, das eigene Herkunftsland zu verlassen, wirtschaftliche Faktoren den allergrößten Einfluss haben (77 Prozent). Das trifft besonders auf Menschen aus den Nachbarstaaten Libyens zu, etwa Ägypten, Niger, Tschad und Sudan, die drei Viertel der Migrant_innen in Libyen ausmachen. Sie lassen sich in Libyen wegen der wirtschaftlichen Chancen nieder, um an saisonaler Migration teilzuhaben oder um Geld zur Finanzierung ihrer weiteren Reise anzusparen. Unsicherheit und Gewalt im jeweiligen Herkunftsland sind jedoch auch ausschlaggebend (41 Prozent). So hat die Zahl sudanesischer Geflüchteter in Libyen seit Ausbruch des Krieges in Sudan im April 2023 stark zugenommen, zuletzt zählte das UNHCR im Januar 2024 33.481 Personen.

 

Wie gestaltet sich das wirtschaftliche und politische Umfeld für Migrant_innen, die nach Libyen kommen?

Wenngleich wirtschaftliche Chancen ein Anziehungsfaktor bleiben, schaffen neben der politischen Instabilität und Kriminalisierung von Migration auch Schutzrisiken, Menschenrechtsverstöße und prekäre Arbeitsbedingungen auf dem informellen Arbeitsmarkt Vulnerabilitäten. Laut Daten der Internationalen Organisation für Migration (IOM) ist der Bedarf an Unterstützung von Migrant_innen in Libyen in sämtlichen Bereichen akut, unter anderem im Gesundheits- und Wohnungswesen, bei Nichtlebensmitteln, Wasser- und Sanitärversorgung und Hygiene. Seit Oktober 2021 ist die Zahl willkürlicher Festnahmen von Migrant_innen in die Höhe geschnellt. Eine unabhängige Erkundungsmission unter Aufsicht der UN hat über zahlreiche Verstöße gegenüber Migrant_innen berichtet, die zwischen Januar 2021 und Dezember 2022 in Abschiebehaftanstalten gebracht wurden, wo sie unmenschlichen Bedingungen ausgesetzt waren, Folter, Zwangsausweisungen und Verschwindenlassen. Auch Entführungen sind in Libyen im breiteren Kontext des Menschenhandels verbreitet, da Migrant_innen gegenüber Erpressung durch nichtstaatliche Akteure ungeschützt sind.

 

 

Welchen Beitrag leisten Migrant_innen zur libyschen Wirtschaft?

Migrantische Arbeiter_innen nehmen in Libyens Wirtschaft eine wesentliche Rolle ein: Sie füllen in von lokalen Arbeitskräften oftmals übergangenen Sektoren Lücken und bedienen somit eine anhaltende Nachfrage an gering qualifizierten Arbeitskräften. In der gemeinsamen Forschung der FES und des MMC berichten die Befragten, während ihres Aufenthalts in Libyens vor allem in Sektoren manueller Arbeit tätig gewesen zu sein, etwa in der Gastronomie (47 Prozent), auf dem Bau (34 Prozent) oder in der Hausarbeit (31 Prozent). Zudem agieren sie als Konsument_innen und kurbeln durch ihre Ausgaben die Wirtschaft vor Ort an. Und durch Geldsendungen nach Hause unterstützen sie ihre Familien in den Herkunftsländern und tragen zu dortigen Entwicklungsbemühungen bei. Neuerdings erkennen die libyschen Behörden den Bedarf an migrantischen Arbeitskräften im Land stärker an und zeigen sich gegenüber einer potenziellen Legalisierung eines bestimmten Aufenthaltsstatus offener, beispielsweise zur Unterstützung des Bausektors.

 

Was sind für Migrant_innen in Libyen die größten Herausforderungen im Hinblick auf angemessene Arbeit, Lebensbedingungen oder Belastungen wie Menschenrechtsverstöße?

Wenngleich sich in Libyen ein rascher Zugang zum Arbeitsmarkt bietet, kann es eine Herausforderung sein, dort menschenwürdige Arbeit zu finden. Unsere Untersuchungen zeigen, dass die große Mehrheit der Befragten (82 Prozent), die in Libyen Geld verdienten, keinen schriftlichen Arbeitsvertrag hatte und somit ungeschützt war gegenüber Risiken am Arbeitsplatz, Ausbeutung und Missbrauch. Durch informelle Arbeit sind diese Menschen Lohndiebstahl ausgesetzt (66 Prozent), verbalem Missbrauch (60 Prozent), mangelnder Arbeitsplatzsicherheit (49 Prozent), körperlichem Missbrauch (42 Prozent) und beschränkten sozialen Sicherheitsnetzen. 76 Prozent der Befragten verdienten Geld mit Gelegenheitsarbeiten und hatten dadurch kein kalkulierbares Einkommen. Dementsprechend konnten nur 20 Prozent der Befragten ihre Lebenshaltungskosten im Land decken; entscheiden sich Migrant_innen für Libyen als Ziel- oder Transitland, scheinen sich ihre wirtschaftlichen Bestrebungen also überwiegend nicht zu erfüllen.

 

Sehen sich Frauen zusätzlichen Herausforderungen gegenübergestellt?

Auf dem libyschen Arbeitsmarkt, wo die Beschäftigung von Frauen weiterhin ein Tabu darstellt, steht weiblichen migrantischen Arbeitssuchenden nur eine geringe Bandbreite an Sektoren offen. Unsere Untersuchungen zeigen, dass weibliche Befragte am häufigsten Arbeit in den Bereichen Hausarbeit und Gastronomie fanden. Da migrantische Arbeiterinnen eher in weniger sichtbaren Sektoren arbeiten, erhöht sich ihr Risiko der Ausbeutung, und sie geraten schneller in schutzbedürftige Situationen, etwa Zwangsarbeit, mangelnde Bezahlung, Konfiszierung von Ausweispapieren und geschlechtsbezogene Gewalt. So berichtet fast ein Drittel der befragten Frauen, am Arbeitsplatz sexuelle Ausbeutung oder sexuellen Missbrauch erfahren zu haben.

 

Welchen Einfluss hat die EU-Politik auf das Leben von Migrant_innen in Libyen?

Die Migrationspolitik der EU wirkt sich hier vielschichtig und häufig nachteilig aus. Die EU konzentriert sich auf die Eindämmung irregulärer Migration und beschränkt dazu Migrationsströme, verstärkt Rückführungen in die Herkunftsländer und lagert Grenzsicherung aus. Wenngleich die menschenrechtliche Situation von Migrant_innen in Libyen durch die Vereinten Nationen scharf verurteilt wurde, schafft es die kurzfristige Eindämmungsstrategie der EU weiterhin nicht, dem Schutz von Migrant_innen und ihrem Bedarf an Unterstützung angemessen nachzukommen. Parallel dazu befördern die mangelnden Investitionen in legale Migrationswege die Nachfrage an Schleusernetzwerken, wodurch sich die irreguläre Migration fortsetzt.

 

Wie lassen sich vor Ort das Leben und der Schutz von Migrant_innen verbessern, insbesondere von Frauen?

Unsere Untersuchungen weisen Wege auf, wie sich in Libyen ein sichereres und formalisierteres Umfeld für Migrant_innen schaffen ließe. Die libyschen Behörden könnten einen Dialog anführen, um den Wert von Migrant_innen anzuerkennen und deren Arbeitsmarktsicherheit zu verbessern. Durch bilaterale Abkommen mit Herkunftsländern könnten Pfade für reguläre Beschäftigung und den Zugang zum Sozialwesen geschaffen werden. In Regierungsgesprächen müssen migrantische Gemeinden unbedingt mitgedacht werden, und auch die Privatwirtschaft muss etwas beitragen, indem sie für sichere Arbeitsumfelder sorgt und sich für Arbeitsgenehmigungen einsetzt. Ausländische Geber sollten weiterhin den Schwerpunkt auf Schutzmaßnahmen für Migrant_innen legen, während humanitäre Organisationen mit psychologischer Betreuung und mit Informationen zu und Anträgen für Arbeitsbewilligungen unterstützen können. Um sozial besonders schutzlose migrantische Arbeiter_innen zu erreichen – insbesondere Frauen, die als Hausangestellte arbeiten –, sollte man mit Multiplikator_innen und Mittelsleuten migrantischer Gemeinden zusammenarbeiten und hierzu auch mobile Einheiten entwickeln.

 

Girault, Thibaut

Crossing borders, building livelihoods

The insecure economic lives of migrants in Libya
LaMarsa, 2024

Zum Download (PDF) (5,5 MB PDF-File)



Zur Person

Als regionaler Forschungskoordinator am Mixed Migration Centre ist Thibaut Girault zuständig für die Forschungsförderung mit Relevanz für Migrationspolitik und -programme in West- und Nordafrika. Er verfügt über breitgefächerte Erfahrungen im Projekt- und Forschungsmanagement sowie in der Zusammenarbeit mit internationalen NGOS als auch UN-Einrichtungen. In seinen bisherigen Arbeitskontexten (u. a. Senegal, Tunesien, Jordanien, Zentralafrikanische Republik, Ruanda, Libanon) war er aktiv am Aufbau eines evidenzbasierten, nuancierten und gemeinschaftlichen Verständnisses sensibler Themen beteiligt, wie etwa gemischter Migrationsströme, gesellschaftlichem Zusammenhalt, gewalttätigem Extremismus und Konflikt.

 

Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen der Gastautor_innen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.


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