Die FES wird 100! Mehr erfahren

Ein überschätztes Schlüsselereignis? Warum der Anwerbestopp die Einwanderung nicht beendete sondern stärkte

Der Anwerbestoppstopp 1973 gilt als das durch die Ölpreiskrise ausgelöste Ende der ‚Gastarbeiter‘-Migration. Er war – wie dieser Beitrag zeigt – weder das eine noch das andere.

Bild: Jugoslawische Gastarbeiter bei den Deutz-Motoren-Werken in Köln, ca. 1972; Rechte: J.H. Darchinger/Friedrich-Ebert-Stiftung [6/FJHD011512].

Bild: Spanische Arbeiter rufen bei einer Demonstration zum Gewerkschaftseinritt auf, 01.05.1965; Rechte: Joachim Diederichs/AdsD [6/FOTB015416].

Bild: „Gastarbeiterinnen“ bei Klöckner-Humboldt-Deutz in Köln, 29.03.1973; Rechte: J.H. Darchinger/Friedrich-Ebert-Stiftung [6/FJHD018317].

Bild: Streik bei Ford, Köln, 28.8.1973; Rechte: J.H. Darchinger/Friedrich-Ebert-Stiftung [6/FJHD018319].

Bild: Streik bei Ford, Köln, 28.8.1973; Rechte: J.H. Darchinger/Friedrich-Ebert-Stiftung [6/FJHD018320].

Bild: Gaststätte mit Schild „Verboten für Gastarbeiter“; Rechte: J.H. Darchinger/Friedrich-Ebert-Stiftung [6/FOTB009037].

Bild: Türkische und jugoslawische Frauen bei der Mittags-Pause am Arbeitsplatz; In dem Betrieb werden Schaltschränke für die Post hergestellt, 17.10.1980; Rechte: Paul Glaser, Pressefoto [6/FOTB049401].

Bild: Türkische Arbeiterinnen, Mutter und Tochter, bei DeTeWe in Kreuzberg, 25.10.1980; Rechte: Paul Glaser, Pressefoto [6/FOTB049413].

Mythos Anwerbestopp

Als der Bundesarbeitsminister Walter Arendt (SPD) am 23.11.1973 die Bundesanstalt für Arbeit anwies, die Vermittlung „ausländischer Arbeitnehmer“ (Frauen waren mitgemeint, jedoch in der Regel nicht explizit benannt) über ihre Auslandsdienststellen vorerst auszusetzen begründete er einen Mythos, der sich als überaus langlebig erwies. Die Bundesregierung habe, so berichteten damals die Zeitungen, die Anwerbung der ‚Gastarbeiter‘ gestoppt und damit insbesondere die türkische Einwanderung unterbrochen. Eine Interpretation, die sich im Gedächtnis der Bundesrepublik als Ende der ‚Gastarbeit‘ festsetzte und bis heute in Darstellungen der deutschen Migrations- und damit Gesellschaftsgeschichte zu finden ist.

Das ‚Gastarbeiter‘-System

Bereits 1955 hatte die Bundesregierung mit Italien ein Abkommen über die Vermittlung von Arbeitskräften abgeschlossen, dem in den Folgejahren weitere mit Spanien, Portugal, Griechenland, Marokko, Tunesien, der Türkei sowie schließlich Jugoslawien folgen sollten. Hinzu kamen branchenspezifische bilaterale Vereinbarungen etwa mit Südkorea oder Indien bezüglich der Vermittlung von Bergarbeitern oder Krankenpflegerinnen. Die Abkommen sollten einerseits dazu dienen, der boomenden westdeutschen Wirtschaft – insbesondere der verarbeitenden Industrie – ausreichend Arbeitskraft zu sichern und andererseits die bereits bestehenden Migrationsbeziehungen rechtlich abzusichern. Insbesondere die deutschen Gewerkschaften hatten stets dazu gedrängt, die Anwerbung zusätzlicher Arbeitskräfte zu reglementieren, um somit Lohndumping ebenso zu verhindern wie den Einsatz von Arbeitsmigrant:innen als Streikbrecher:innen. Als mit dem Abbrechen der innerdeutschen Arbeitsmigration infolge von Grenzschließung und Mauerbau ab 1961 tatsächlich ein Arbeitskräftemangel drohte, stieg schlagartig auch das Interesse der Unternehmen an ausländischen Arbeitnehmer:innen und das ‚Gastarbeiter‘-System nahm an Fahrt auf.

In der Hochzeit der internationalen Arbeitsmigration gab es unterschiedliche Optionen, um in der Bundesrepublik eine Arbeit aufzunehmen. Waren die zukünftigen Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen bereits miteinander in Kontakt, konnten letztere bei einem deutschen Konsulat einen Sichtvermerk im Pass beantragen, der zur Einreise und Arbeitsaufnahme berechtigte. Dem folgte ein Prüfverfahren bei den zuständigen Arbeitsämtern und Ausländerbehörden, die bei Erfolg grünes Licht gaben. Deutlich flexibler war da der insbesondere Mitte der 1960er Jahre genutzte Weg, mit einem Touristenvisum einzureisen und nach erfolgreicher Arbeitsuche und -aufnahme den Aufenthalt formal abzusichern. Was später als irreguläre Migration gebrandmarkt wurde, war damals ein offiziell akzeptierter Weg, um den Arbeitskräftebedarf zu decken. Die eigentliche Anwerbung wiederum erfolgte über in den Anwerbestaaten eigens eingerichteten Auslandsdienststellen. Die für die Arbeitsvermittlung zuständige Bundesanstalt für Arbeit hatte diese Stellen etabliert, um neben medizinischen Checks auch Berufs- und Sprachkenntnisse zu erheben und Bewerber:innen mit allen nötigen Papieren – in der Regel sogar Zugtickets für die Anreise – auszustatten und an die designierten Arbeitgeber zu vermitteln. Ein Verfahren, das nicht für alle Beteiligten immer reibungslos funktionierte, für die Migrant:innen jedoch mit organisatorischen sowie finanziellen Vorteilen verbunden war, und den Arbeitsbehörden die Kontrolle über das Verfahren sicherte.

Das Grundprinzip der ‚Gastarbeiter‘-Anwerbung war das der temporären Beschäftigung: Arbeiter:innen kamen für ein paar Monate oder Jahre ins Land, um anschließend zurückzukehren oder weiterzuwandern. Dies war sowohl im Sinn Regierungen, es kam aber auch den Interessen von Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen entgegen. Dass das System im Prinzip auch im Sinne der wirtschaftlichen Interessen des Ziellandesfunktionierte, zeigt ein Blick auf die Zahlen: Seit Beginn der Anwerbung Mitte der 1950er Jahre kamen etwa 14 Millionen Arbeitskräfte in die Bundesrepublik, etwa 11 Millionen davon kehrten zurück oder wanderten weiter. Und auch als 1966/67 eine kleine Rezession das Wirtschaftswachstum ausbremste, reagierte der Arbeitsmarkt flexibel – sei es durch Entlassungen, aufgeschobene Neuanwerbung oder Fluktuation.

Von der temporären Arbeitsmigration zur Einwanderung

Der Erfolg des ‚Gastarbeiter‘-Systems schlug sich jedoch auch in längeren Aufenthaltszeiten nieder, die zu einer echten, wenn auch zunächst temporär gedachten, Einwanderung führten. Ausländische Arbeitnehmer:innen zogen mit längerem Aufenthalt aus Sammelunterkünften aus und in eigene Wohnungen ein, sie gründeten Familien oder holten Familienangehörige nach und mit der Zeit bemerkten zunächst die Kommunen, bald auch die Länder und die Bundesregierung, dass sich die Bundesrepublik ungewollt in einer Einwanderungssituation wiederfand, was mit Herausforderungen in der Wohnraumversorgung, der Beschulung von Kindern nichtdeutscher Muttersprache und anderen Bereichen der sozialen Infrastruktur einherging.

Auf allen föderalen Ebenen wurden Anfang der 1970er Jahre Arbeitsgruppen gebildet, Studien erstellt und Kommissionen gehört, die sich mit dem ‚Problem der Ausländischen Arbeitnehmer‘ befassten. Dabei war es zwar nicht überall Konsens, doch setzte sich mit der Zeit die Auffassung durch, dass die dauerhafte Anwesenheit, gar die Niederlassung (an Einbürgerung wurde in der Regel erst gar nicht erst gedacht) von sogenannten „Außereuropäern“ zu vermeiden sei. Der Begriff kaschierte nur schlecht die zugrundeliegenden rassistischen Überzeugungen, da damit keine dezidierte geographische Verortung einherging – ‚weiße‘ US-Amerikaner:innen, Kanadier:innen oder Australier:innen waren damit schließlich nicht gemeint. Vielmehr schien eine Einwanderung von als besonders fremd empfundenen Menschen aus Nordafrika, der Türkei, anderen arabischen oder asiatischen Staaten aufgrund deren vermeintlich ‚völliger Andersartigkeit‘, ihrer Sitten und Gebräuche als nicht wünschenswert. In den 1950er und frühen 1960er Jahren noch als besonders fremd wahrgenommene Italiener:innen, sowie sukzessive auch Menschen aus anderen Anrainerstaaten des nördlichen Mittelmeers, wurden nun zunehmend als Europäer:innen wahrgenommen, denen die Freizügigkeit entweder schon europarechtlich zustand oder zugestanden wurde. Vergleichbare Diskussionen wurden auch in anderen westeuropäischen Zielstaaten geführt und auf europäischer Ebene fanden regelmäßige Austauschrunden zu dem Thema statt.

Dabei zeigte sich eine gewisse Divergenz zwischen öffentlich geäußerten Überlegungen über eine Grenze der Aufnahmefähigkeit und der verwaltungsinternen Diskussionen: So mahnte beispielsweise Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) 1973 in seiner Regierungserklärung, dass angesichts von fast zweieinhalb Millionen ausländischen Arbeitskräften, die mit ihren Familien im Land lebten „wir sehr sorgsam überlegen, wo die Aufnahmefähigkeit unserer Gesellschaft erschöpft ist und wo soziale Vernunft und Verantwortung Halt gebieten“. Dagegen erklärte Innenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) im Innenausschuss des Bundestags im Februar 1973 ganz offen, die Bundesrepublik sei „in Wahrheit ein Einwanderungsland“, das folglich auch eine Einwanderungspolitik betreiben müsse. In dem von ihm geführten Ministerium wurde gar die Ansicht vertreten, die Bundesrepublik sei angesichts der Europäischen Freizügigkeit bereits „mehr als ein Einwanderungsland“; ein kompletter Stopp der Ausländerbeschäftigung sei daher weder möglich noch wünschenswert.

Arbeitskämpfe, Folgekosten, Ölpreisschock

Öffentliche Aufmerksamkeit erlangten 1972/73 hingegen zunehmend migrantische Arbeitskämpfe, die sich gegen strukturelle Benachteiligung durch diskriminierende Einordnung in untere Lohngruppen wehrten, die Anerkennung besonderer Bedürfnisse forderten, etwa längerer zusammenhängender Urlaubszeiten für die längeren Reisezeiten in die Heimatländer, die aber auch für den Inflationsausgleich für alle Beschäftigten streikten: „Eine Mark mehr für alle“. Besondere Aufmerksamkeit erhielt hier sicherlich der Kölner Fordstreik, der im Sommer 1973 über mehrere Wochen hinweg die Titelseiten der Boulevardpresse schmückte.

Schließlich mehrten sich auch die ökonomischen Einschätzungen, die ein Ende des schnellen Wirtschaftswachstums prognostizierten, vor der Gefahr von künstlich gering gehaltenen Arbeitskosten durch die Ausländerbeschäftigung warnten und auf die zunehmenden Kosten ihrer gesellschaftlichen Eingliederung – also dem Ende des Temporären der Gastarbeiterbeschäftigung – hinwiesen.

Einstellung der Vermittlung

Es war also eine Mischung wirtschafts-, sozial-, innen- und sicherheitspolitischer Faktoren, gepaart mit öffentlichen Diskussionen über die Probleme der ‚Gastarbeiter’beschäftigung, die im Herbst 1973 zu der massiven Verteuerung der Energiekosten hinzukamen und die Bundesregierung zum Handeln bewegten. Im Zuge des Jom-Kippur Kriegs hatten die arabischen OPEC-Länder den Ölpreis verteuert und damit die ökonomischen Aussichten weiter eingetrübt. Als nun auch Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände gemeinsam den Bundesarbeitsminister aufforderten, die Ausländerbeschäftigung zu verringern, nutzte Walter Arendt die Gelegenheit: Am 23. November 1973, einem Freitag, wies er den Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit an, die Vermittlung durch die Auslandsdienststellen – mit Ausnahme Italiens – vorrübergehend auszusetzen.

Die durch das Bundeskabinett ohne weitere Diskussion abgenickte Entscheidung kam für alle beteiligten Institutionen – insbesondere die vor Ort damit beschäftigten Konsulate – überraschend. Über das Wochenende gingen hilfesuchende Fernschreiben beim Auswärtigen Amt und dem Arbeitsministerium ein, die sowohl um eine offizielle Sprachregelung als auch um eine Prognose der Dauer der Regelung baten. Denn der Anwerbestopp war zunächst gar nicht auf Dauer geplant. Zugleich gingen in kürzester Zeit zahlreiche Bitten von Unternehmen und Verbänden aus besonders arbeitsintensiven Branchen ein, die um Ausnahmen bzw. die weitere Vermittlung von Arbeitskräften baten, während schließlich migrantische Arbeitnehmer:innen sich um die mögliche Wiedereinreise nach dem Weihnachtsurlaub sorgten oder gar kurzfristig auf diesen verzichteten. Die Sorge war nicht unbegründet, denn tatsächlich gab es Fälle, in denen Arbeitnehmer:innen die Wiedereinreise verwehrt, Verträge gekündigt oder nicht verlängert wurden.

Ein Schlüsseldatum der Einwanderungsgeschichte?

Insbesondere die öffentliche Kommunikation des Anwerbestopps weckte jedoch auch Erwartungen, die auf Dauer gar nicht erfüllt werden konnten. Denn entgegen der Ankündigung zielte die Maßnahme ja zunächst weder auf eine direkte Verringerung der Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer:innen noch gar auf ein Beendigung Ihres Aufenthalts. Im Gegenteil: Angesichts der drohenden Verwehrung der Wiedereinreise verlängerten Viele ihre ursprünglich für kürzere Zeit geplanten Aufenthalte – eine Verstetigung, die den Einwanderungsprozess noch forcierte. Auch war ein umfassender Stopp der Arbeitsmigration weder aus volkswirtschaftlichen noch aus europarechtlichen Gründen gewollt, wünschenswert oder gar möglich.

Gleichwohl konnte der Anwerbestopp vom 23. November 1973 in der deutschen Einwanderungsdebatte einen geradezu mythischen Stellenwert erhalten, die dem eigentlichen Ereignis nicht gerecht wird: So war der Ölpreisschock 1973 weniger Grund als vielmehr willkommener Anlass dafür, die stark wachsende Arbeitsmigration, wie es hieß, zu konsolidieren, um sich besser um die Herausforderungen der damit einhergehenden Einwanderung kümmern zu können. Und die zunächst vorübergehende, erst später auf Dauer gestellte Einstellung der Vermittlungstätigkeit der Auslandsdienststellen der Bundesanstalt für Arbeit, also der stark regulierten Arbeitsvermittlung ausländischer Arbeitskräfte an die westdeutsche Industrie, bedeutete nicht das Ende der Einwanderung. Vielmehr war sie ein Katalysator, der aus einem temporären Arbeitsmigrationsregime – der ‚Gastarbeit‘ – einen weiteren Baustein der zunächst west- und später gesamtdeutschen Einwanderungsgesellschaft bildete, wenngleich es mehr als ein Vierteljahrhundert dauern sollte, bis diese auch öffentlich und offiziell anerkannt wurde.

Dr. Marcel Berlinghoff, Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS), Universität Osnabrück

 

Quellen und Literatur

  • Marcel Berlinghoff: Das Ende der ‚Gastarbeit‘. Die Anwerbestopps in Westeuropa 1970–1974 (Studien zur Historischen Migrationsforschung, Bd.27), Paderborn 2013.
  • Bundesarchiv, B149 54458, Bundesarbeitsminister Arendt an den Präsidenten der BfA Stingl, 23.11.1973.
  • Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht, 7. Wahlperiode, 7. Sitzung, 18.1.1973.
  • Jochen Oltmer (Hrsg.): Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, Berlin 2016.

Wohnen auf weniger als sechs Quadratmetern

weitere Informationen

Lieferkettengesetz im Lockdown?

weitere Informationen

»Freiwilligkeit funktioniert nicht. Wir brauchen einen gesetzlichen Rahmen!«

weitere Informationen
nach oben