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Analyse von Aiko Wagner und Thorsten Faas
Wie die Parteiensysteme der europäischen Demokratien insgesamt, so ist auch das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland seit einigen Jahren einem grundlegenden Wandel unterworfen. Die langfristigen Trends des sog. Dealignments, also rückläufiger Anteile von Menschen mit Parteiidentifikation in der Bevölkerung und in der Folge die Lockerung und Lösung von Partei-Wähler_innen-Bindungen, führen zu mehr Offenheit der Wähler_innen, mehr Wechselwahlverhalten und in Summe all dessen zu mehr Volatilität, d.h. zu größeren Veränderungen in den Sitzanteilen der Parteien zwischen zwei aufeinanderfolgenden Wahlen. Zugleich nimmt die Anzahl der Parteien in den Parlamenten zu und die Dominanz der Volksparteien ab.
Ein solcher Rückgang elektoralen Erfolgs kann allerdings sehr verschiedenen Gründe haben. Erstens kann das Wähler_innenpotenzial geschrumpft sein. Dann wäre die jeweilige Partei im Zeitverlauf weniger attraktiv für die Bürger_innen geworden. Viele von ihnen könnten sich heute im Gegensatz zu früher überhaupt nicht mehr vorstellen, dieser Partei ihre Stimme zu geben und hätten sich längerfristig anderen Parteien zugewandt. Zweitens kann der Partei in den letzten Bundestagswahlen schlicht die Ausschöpfung eines an sich stabilen Potenzials weniger gut gelungen sein. In diesem Falle wäre sie weiterhin für viele Bürger_innen eine grundsätzliche attraktive politische Option, am Wahltag entschieden sich viele potenzielle Wähler_innen jedoch für eine andere Partei.
In der Studie „Stabiles Potenzial – Schwankende Ausschöpfung“ werfen die Autoren Aiko Wagner und Thorsten Faas einen Blick hinter die Wahlergebnisse der Bundestagswahlen der Jahre 1998, 2017 und 2021 und fragen, welche Veränderungen sich hinsichtlich der Wähler_innen-Potenziale und ihrer Ausschöpfung in den zurückliegenden gut zwei Jahrzehnten ergeben haben. Als potenzielle Wähler_innen einer Partei werden dabei all diejenigen Menschen verstanden, die in Umfragen ein positives Gesamturteil über diese Partei äußerten. Konkret sind es diejenigen Personen, die bei den sogenannten Skalometerfragen mit ihrer typischen Skala von -5 („halte überhaupt nichts von der Partei“) bis +5 („halte sehr viel von der Partei“) positive Werte (größer null) für die jeweilige Partei angaben. Eine solche positive Bewertung kann als notwendige (wenngleich nicht hinreichende) Bedingung der Wahl einer Partei gelten: Nur, wenn eine Person einer Partei grundsätzlich positiv gegenübersteht und die Gesamtbewertung positiv ausfällt, kommt sie für die eigene Wahlentscheidung überhaupt in Frage. Zum realisierten („ausgeschöpften“) Potenzial zählen dann diejenigen potenziellen Wähler_innen, die bei der jeweiligen Wahl mit der Zweitstimme tatsächlich die Partei gewählt haben.
Das SPD-Potenzial bei den Bundestagswahlen 1998, 2017 und jüngst 2021 war annähernd gleich groß. Genau genommen zeigt sich sogar eine leicht gegenläufige Entwicklung zwischen Potenzial und Ausschöpfung: Im Falle der Bundestagswahl 2017 steht dem enttäuschenden Wahlergebnis von 20,5% ein Potenzial von rund 70% der Befragten (im Sinne der oben genannten Definition) gegenüber. 1998 steht einem Stimmenanteil von 40,9% ein SPD-Potenzial von 66% gegenüber. Auch 2021 liegt das Potenzial mit 64% unter jenem aus dem Jahr 2017. Die erheblichen Unterschiede in den Wahlausgängen über die drei Jahre hinweg zeigen somit deutlich, dass die Ursachen dafür in sich stark unterscheidenden Potenzial-Ausschöpfungen liegen, weniger in grundsätzlich Abkehrprozessen.
Dass dieses grundsätzliche Muster von recht stabiler Potenzialgröße der SPD und variabler – und am Ende über den Wahlerfolg entscheidender Ausschöpfungsquote keine parteiübergreifende Konstante ist, zeigt der Blick auf die Unionsparteien.
Im Zeitvergleich der Bundestagswahlen ist der Anteil derer, die zum potenziellen Wähler_innenkreis der Union gezählt werden können, erheblichen Schwankungen unterworfen. Waren es bei der Wahlniederlage 1998 noch 55 Prozent, stieg dieser Anteil bei der Bundestagswahl 2017 auf 68 Prozent und lag damit ähnlich hoch wie bei der SPD. 2021 schrumpfte das CDU/CSU-Potenzial: Nur noch die Hälfte der Bevölkerung kann hier als potenzielle Unions-Wähler_innenschaft angesehen werden. Interessanterweise war dagegen die Ausschöpfung bei den beiden letzten Wahlen mit ca. einem Drittel konstant (allerdings natürlich bezogen auf unterschiedliche Potenziale). Die Fragen von elektoralem Erfolg und Misserfolg sind bei der Union daher offenbar anderer Natur als bei der SPD.
In einem weiteren Schritt untersuchen die Autoren, welche gesellschaftlichen Gruppen sich von der Sozialdemokratie prinzipiell angesprochen fühlen und wie sich dies in Sachen Wahlentscheidung äußert. Auch hier zeigt sich, dass die Sozialdemokratie in Deutschland von allen Gruppen gleichermaßen und recht breit als wählbar erachtet wird. Hinsichtlich eigener Schichteinordnung, Bildungsabschluss, Geschlecht oder Ost-West-Herkunft, ist das Wähler_innenpotenzial recht gleich verteilt. Unterschiede finden sich eher bei der Ausschöpfung. Eine bessere Ausschöpfung erzielt die SPD bei Menschen, die sich den unteren sozialen Schichten zuordnen oder die über eine eher geringe formale Bildung verfügen. Positiv gesehen, kann die SPD also weiterhin als Arbeiter_innenpartei bezeichnet werden. Andererseits deutet dies auf eine steigende Konkurrenzsituation mit anderen Parteien bei der immer größer werdenden Gruppe der formal höher Gebildeten und der Mittelschicht hin.
Interessant ist auch ein genauer Blick auf die Unterschiede bei den Altersgruppen: Denn auch hier ist das Potenzial über alle Altersgruppen gleich verteilt. Also auch jüngere Wähler_innen können sich prinzipiell vorstellen, ihr Kreuz bei der SPD zu machen. Doch am Wahltag ist dies recht selten bei jungen Altersgruppen der Fall. Sie bevorzugen andere Parteien am Ende. Die SPD steht hier hinsichtlich der Ausschöpfung vor großen Herausforderungen. Die letzten Wahlerfolge der SPD basieren daher auf der demografisch starken Gruppe der Älteren. Das ist aktuell eine Stärke der Sozialdemokratie. Ihr Politikangebot kommt offensichtlich bei den stärksten Altersgruppen der Gesellschaft gut an. Doch mittel- und langfristig könnte dies eine große Herausforderung werden, wenn die nachwachsenden Jahrgänge sich zu Stammwähler_innen anderer Parteien entwickelt haben sollten.
Hinsichtlich der Ost-West-Herkunft findet die Studie recht ähnliche Ergebnisse für Potenzial und Ausschöpfung. Die Wahl 2017 bildet hier die Ausnahme mit einem erhöhten Potenzial im Westen. Dieses auf den ersten Blick eher unscheinbare Ergebnis gilt es dennoch hervorzuheben. Die meisten im Bundestag vertretenen Parteien geben im Osten und Westen ein sehr unterschiedliches Bild ab. Während die Union und die Grünen ihre Hochburgen im Westen haben, sind Die Linke und die AfD in den ostdeutschen Bundesländern stark. Auch die Ergebnisse dieser Studie unterstreichen den Charakter der SPD als gesamtdeutsch stark verankerte Partei.
Die multivariate Analyse am Ende der Studie bestätigt noch einmal, dass im Wahljahr 1998 die SPD in allen Gruppen der Gesellschaft gleichermaßen beliebt war. Nur die ideologische Selbstverortung auf der Links-Rechts-Skala zeigt die für eine linke Volkspartei erwartbaren Unterschiede: Links der Mitte ist das Potenzial größer, rechts der Mitte kleiner. Diesen Effekt findet man auch bei der Wahl 2017, aber es zeigen sich auch weitere sozialstrukturell begründete Unterschiede beim Potenzial. So zeigten sich 2017 Frauen und westdeutsche Personen der SPD mehr zugewandt. Der Effekt der Ost-West-Herkunft findet sich bei der Wahl 2021 nicht mehr. Stattdessen gibt es einen starken Alterseffekt. Wähler_innen im Rentenalter sind der SPD deutlich stärker zugeneigt als jüngere.
Eine Wandlung der SPD zeigt die multivariate Analyse hinsichtlich der Ausschöpfung. 1998 war diese recht gleichmäßig verteilt, mit leicht besseren Werten bei Personen, die sich links verorten oder eine geringe formale Bildung besitzen. Im Jahr 2017 finden sich dagegen vielseitige Schicht-, Bildungs-, Ost-West- und Altersunterschiede. Bei der letzten Bundestagswahl finden sich die deutlichsten Effekte in Sachen Ausschöpfung bei den über 45-Jährigen. Die ideologische Links-Rechts-Einstufung, aber auch Bildungs- und Ost-West-Effekte spielen kaum mehr eine Rolle.
Denkt man an die zahlreichen Abgesänge auf die SPD in den letzten Jahren, so überrascht dieser Blick auf die Daten zu den Bundestagswahlen: Trotz aller Veränderungen im Parteiensystem, ist das Potenzial der SPD erstaunlich stabil: 2/3 der Wahlberechtigten ziehen die SPD als Option in Betracht, dabei gibt es keine überragenden Unterschiede hinsichtlich der soziodemografischen Strukturen. Die SPD war und ist eine Partei des Volkes und hat weiterhin das Potenzial, eine führende Regierungsrolle zu übernehmen.
Dennoch hat sich etwas Grundlegendes verändert: Wahlentscheidungen sind zunehmend volatil und viele Wähler_innen können sich die Wahl unterschiedlicher Parteien vorstellen. Damit steigen die Anforderungen an einen gut vorbereiteten Wahlkampf, an das Angebot der Parteien und ihrer Spitzenkandidat_innen. Insbesondere die Wahlerfolge der deutschen Sozialdemokratie hängen an ihrer Fähigkeit, ihr Potenzial auch zu heben. Der Wahlkampf 2021 hat gezeigt, dass die SPD aus ihren Fehlern in der Vergangenheit gelernt hat. Dennoch werden die Herausforderungen nicht kleiner und diese Fähigkeit muss bei jeder Wahl wieder neu bewiesen werden. Insbesondere die geringe Ausschöpfung bei jüngeren Wähler_innengruppen zeigt, dass auch die Zukunft große Herausforderungen bereithält.
PD Dr. Aiko Wagner
ist Politikwissenschaftler am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin.
Thorsten Faas
ist Professor für Politikwissenschaft und Leiter der Arbeitsstelle „Politische Soziologie der Bundesrepublik Deutschland“ am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin.
Ansprechpartner in der FES: Jan.Engels(at)fes.de
Wagner, Aiko; Faas, Thorsten
Auswertung der SPD-Wahlergebnisse 1998, 2017 und 2021 / Aiko Wagner, Thorsten Faas ; Herausgeberin: Abteilung Analyse, Planung und Beratung. - Bonn : Friedrich-Ebert-Stiftung, 2022. - 25 Seiten = 3 MB, PDF-File. - (FES diskurs)Electronic ed.: Berlin : FES, 2022ISBN 978-3-98628-208-0
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