Strategiedebatten der französischen Präsidentschaftskandidaten 2017
Stichwahl: Die strategische Lage von Emmanuel Macron und Marine Le Pen
Negativrekord für die etablierten Parteien
Das Ergebnis der französischen Präsidentschaftswahlen 2017 war ein Debakel für die etablierten Parteien. Dabei hatten zwei Parteien die Politik in der Geschichte der fünften Republik maßgeblich geprägt: Die Republikaner (LR) (und ihre gaullistischen Vorgängerparteien) sowie die Parti Socialiste (PS). Allerdings stellten die beiden Kandidaten der PS und der LR - Benoît Hamon (6,3 Prozent) und François Fillon (20%) - einen neuen Negativrekord auf und kamen zusammen auf lediglich 26,3 Prozent. Zum Vergleich: Im Jahr 2007 erzielten die Kandidaten der PS und der LR zusammen 66 Prozent und 2012 immerhin noch 55,8 Prozent. Insbesondere Benoît Hamon verlor in der ersten Runde 20 Prozent gegenüber dem Ergebnis von François Hollande im Jahr 2012.
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Erste Runde: Die strategische Lage der wichtigsten Präsidentschaftskandidaten
Der Wahlkampf der Außenseiter
Der französische Präsidentschaftswahlkampf 2017 war in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich. Zum einen bemühte sich erstmals in der Fünften Französischen Republik der amtierende Präsident vom Parti Socialiste (PS), François Hollande, nicht um eine zweite Amtszeit.
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Die einzelnen Parteien in der Übersicht
Die strategische Lage von Benoît Hamon (Parti Socialiste)
Unter François Hollandes Präsidentschaft teilte sich die Sozialistische Partei in zwei Gruppen: die sozialliberale Mehrheit, die hinter der Wirtschaftspolitik der Regierung stand, und eine Minderheit „linksgerichteter Rebellen“, die regelmäßig wirtschaftliche Strukturreformen ablehnt und der Regierung sogar mit einem Misstrauensantrag drohte. Diese beiden Gruppierungen vertreten vor allem in Hinblick auf die Deregulierung des Arbeitsmarktes und die Senkung der Staatsverschuldung unterschiedliche Positionen. Im letzten Punkt erstreckt sich die Uneinigkeit auch auf den Umgang mit der Staatsschuldenkrise in der Eurozone: Die „Rebellen“ sehen diesen kritisch und befürworten höhere öffentliche Investitionen und mehr sozialpolitische Maßnahmen auf europäischer Ebene. Diesem Lager gehört Benoît Hamon an. Er war 2012 bis 2014 Regierungsmitglied, trat aber gemeinsam mit weiteren Kollegen zurück, weil er mit der damaligen Wirtschaftspolitik nicht einverstanden war (im Zuge der Kabinettsumbildung, die durch den Rücktritt Hamons und anderer Minister nötig wurde, gelangte Emmanuel Macron in die Regierung).
Der Sieg Hamons in der Vorwahl der Sozialistischen Partei und ihrer Verbündeten im Januar 2017 markiert eine ideologische Neuausrichtung der Partei. Hamon warb im Vorfeld intensiv für die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens, den ökologischen Wandel, die Sicherung von Arbeitsplätzen, eine Robotersteuer, die Abschaffung des unter Manuel Valls eingeführten Arbeitsrechts und schließlich die Einführung humanitärer Visa für Flüchtlinge. Die wichtigsten Punkte seines Wahlprogramms waren nicht dazu angetan, den sozialliberalen Sozialisten die Hand zu reichen, sondern sollten die Partei stärker links und ökologisch positionieren. Im Zuge dieser ideologischen Verlagerung und nach einer Absprache für die Parlamentswahl gab der Kandidat der Grünen Yannick Jadot seine Kandidatur auf und unterstützte Hamons Wahlkampf. Diese neue Allianz brachte es jedoch mit sich, dass immer mehr sozialistische Parlamentarier Hamon ihre Unterstützung entzogen und sich Macron zuwandten. Einer der namhaftesten ist der frühere Ministerpräsident Manuel Valls, der in der zweiten Vorwahlrunde gegen Hamon angetreten war. In der Vorwahldebatte hatte Valls noch erklärt, er werde Hamon unterstützen, sollte dieser die Vorwahl gewinnen.
Nachdem er die Vorwahl der Sozialisten gewonnen hatte, führte Hamon vor Jean-Luc Mélenchon. Mittlerweile haben sich die Werte der beiden aber umgedreht: Mélenchon liegt bei 18 Prozent, während Hamon auf unter 10 Prozent gesunken ist. Dieser wahlkampfdynamische Umschwung hängt damit zusammen, dass sich einerseits die Wahlprogramme der beiden linken Kandidaten stark ähneln (ökologischer Wandel, die Sicherung von Arbeitsplätzen, progressive Werte und der Ruf nach einer Sechsten Republik), andererseits Hamon seine Wahlkampagne nicht personalisiert hat, die Dynamik der Präsidentschaftswahl in der Fünften Französischen Republik dies aber geradezu zwingend erfordert.
Die strategische Lage von François Fillon (Les Républicains)
Abgesehen von der kurzen Zeitspanne zwischen 1986 und 1988 konnte die konservative Partei Frankreichs (RPR in den 1990er Jahren, UMP in den 2000ern und Les Républicains heute) aufgrund ihres staatszentralistischen gaullistischen Erbes nie eine gänzlich wirtschaftsliberale Politik betreiben. Auch Nicolas Sarkozy, der 2007 mit einem relativ wirtschaftsliberalen Programm Präsident wurde, zwang die Finanzkrise 2008 zu staatlichen Interventionen. Der Sieg Fillons in den Vorwahlen im November 2016 brachte für die französischen Konservativen daher eine ideologische Klärung. Fillons Programm ist eine Synthese aus harten wirtschaftlichen Strukturreformen, die er selbst als „radikal“ bezeichnet, und einem sozialen und kulturellen Konservatismus, der in Fragen von Recht und Ordnung entschiedene Positionen vertritt und traditionelle Werte verteidigt. Fillon macht seinen christlichen Glauben öffentlich zum Thema und tritt für den Kampf gegen den islamischen Terrorismus ein.
Unter den Strukturreformen, die besonders häufig genannt werden, wird ein Arbeitsplatzabbau im öffentlichen Dienst um 10 Prozent (etwa 500 000 Stellen), die Erhöhung des Renteneintrittsalters, die Deregulierung des Arbeitsmarktes und die Senkung der Unternehmenssteuern verstanden. Vor den Vorwahlen trat Fillon auch für Ausgabenkürzungen in der Sozialhilfe ein, doch als seine Gegner behaupteten, er wolle die französische Sozialhilfe privatisieren, strich er diese Maßnahmen aus seinem Programm für den Präsidentschaftswahlkampf. Zusätzlich zu diesen politischen Angriffen litt seine Wahlkampagne seit Ende Januar unter den Skandalen um ihn und seine Frau (beide stehen derzeit wegen Veruntreuung und Unterschlagung von Firmenvermögen unter Anklage). Diese Skandale kosteten seine Partei nicht nur Stimmen und seine Kandidatur Unterstützer (mehrere Wahlkampfmitarbeiter zogen sich zurück), sondern sie verhinderten auch, dass er seine Anliegen im Wahlkampf thematisieren konnte, insbesondere die Kürzung öffentlicher Ausgaben und die harten Strukturreformen. In der Kluft, die sich zwischen seinen Reden und den Skandalen um öffentliche Gelder öffnete, ging sein Bekenntnis zur „Austerität“ unter. In diesem Klima, in dem Fillon für seine politischen Vorhaben kaum noch werben konnte, beschränkte er sich auf konservative Grundüberzeugungen: die freie Marktwirtschaft, Steuersenkungen für Unternehmen, Recht und Ordnung sowie staatliche Autorität in nationalen und internationalen Fragen.
Fillon wendet sich darüber hinaus gegen eine weitere europäische Integration und tritt für eine Europäische Union ein, deren Schwerpunkt stärker auf den nationalen Regierungen und weniger auf supranationalen Institutionen liegt.
Die strategische Lage von Marine Le Pen (Front National)
Marine Le Pens Hauptaufgabe im Präsidentschaftswahlkampf 2017 war es, das Bild des Front National und seiner Politik weich zu zeichnen, damit er als glaubhafte Regierungspartei wahrgenommen wird. Die zentralen politischen Vorhaben des Front National haben sich jedoch nicht geändert und bilden nach wie vor den Mittelpunkt ihres Programms.
Le Pens Wahlprogramm ist für die Wirtschaft stark protektionistisch ausgerichtet. Le Pen lehnt Freihandelsabkommen ab, setzt sich für einen Austritt aus der Eurozone und der Europäischen Union ein (gestützt durch eine Volksabstimmung), für eine Importsteuer und für ein Ende der EU- und Arbeitsmigration. Zweitens vertritt sie eine einwanderungsfeindliche Haltung: Zum einen plant sie, die legale Einwanderung pro Jahr auf 10 000 Personen zu begrenzen und Firmen, die Ausländer einstellen, zusätzlich zu besteuern, zum anderen vertritt sie einen Sozialstaatschauvinismus, denn legale Einwanderer sollen zwei Jahre lang Sozialbeiträge zahlen, ehe sie dieselben Sozialleistungen erhalten könnten wie französische Bürger. Und schließlich hat sich die „Verteidigung der Republik“ zu einem Grundpfeiler des „neuen FN“ entwickelt. Die republikanischen Werte Frankreichs, so Le Pen, müssten vor dem islamischen Fundamentalismus beschützt werden. Die Verteidigung der Republik findet sich auch in den wirtschaftlichen Positionen wieder. Le Pen spricht sich für die Beibehaltung öffentlicher Dienstleistungen aus, etwa Postämter in ländlichen Gebieten und Polizeieinheiten im städtischen Umfeld.
Mithilfe dieser Gesamtstrategie soll der FN auch als „patriotische gaullistische Partei“ präsentiert werden. Jüngste Aussagen Le Pens und hochrangiger Parteimitglieder, denen zufolge der französische Staat nicht für das Vichy-Regime im Zweiten Weltkrieg und die antisemitische Politik verantwortlich gewesen sei, belegen, dass sich der FN von seinen historischen Wurzeln zu entfernen versucht. Die Partei wurde 1972 von Bewunderern des autoritären Vichy-Regimes gegründet. Mit dieser „Umkehrung der Geschichte“ übernimmt der FN die gaullistische Darstellung, der zufolge sich das „echte Frankreich“ mit General de Gaulle in London aufhielt und an der Seite der Alliierten kämpfte. Diese neue Sprachregelung ist Teil einer Gegenbewegung gegen die historische Reuehaltung Frankreichs, die Nicolas Sarkozy in seinem Wahlkampf 2007 eingeleitet hatte und die der FN nun stark vertritt.
Die strategische Lage von Emmanuel Macron ("En Marche")
Emmanuel Macron und seine vor einem Jahr gegründete politische Bewegung „En Marche!“ sind die jüngsten politischen Akteure in der französischen Politik. Der frühere Wirtschaftsberater Präsident François Hollandes und ehemalige Wirtschaftsminister (2014 bis 2016) setzt sich klar von der Wirtschaftspolitik der Regierung ab, deren Mitglied er war. Er tut dies mit einer liberalen Agenda, sowohl in wirtschaftlichen wie auch in kulturellen Fragen.
In der Wirtschaft zielt er auf einen Abbau der Staatsverschuldung ab, insbesondere durch die Kürzung der Ausgaben für Sozialhilfe und Arbeitslosigkeit. Zusätzlich plant er Strukturreformen zur Modernisierung der französischen Verwaltung, eine Liberalisierung des Arbeitsmarktes und eine Vereinheitlichung des Renten- und Pensionssystems. Parallel zu diesen Strukturreformen sieht sein Wahlprogramm einen Investitionsplan über 50 Milliarden Euro vor, 15 davon für die Ausbildung und Fortbildung Jugendlicher und Arbeitsloser, aber auch für den Ausbau erneuerbarer Energien und der Bio-Landwirtschaft. Anders als die progressiven Kandidaten (Hamon und Mélenchon) plant Macron keinen Ausstieg aus der Kernenergie, sondern lediglich eine Reduzierung der Atomkraft im französischen Strommix auf 50 Prozent (derzeit sind es über 70 Prozent). In kulturellen Fragen setzt Macron wie schon erwähnt auf einen progressiven ökologischen Wandel. Er unterstützt ein Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare, hat sich aber zum Thema Sterbehilfe noch nicht geäußert.
Macrons politische Bewegung hat im politischen Spektrum sowohl links als auch rechts der Mitte Anhänger gefunden. Insbesondere viele Abgeordnete und Bürgermeister der Sozialistischen Partei unterstützen Macrons Kandidatur. „En Marche!“ hat für die Parlamentswahl im Juni bereits Kandidaten gewonnen, die zur Hälfte als Politikneulinge aus der Zivilgesellschaft kommen. Im Falle eines Wahlsiegs in der Präsidentschaftswahl im Mai wird die Parlamentswahl für Macron besonders wichtig werden, weil er in der Französischen Nationalversammlung sehr wahrscheinlich keine Mehrheit haben wird und mit einer Parteienkoalition regieren muss, die sich womöglich als instabil herausstellen könnte.
Die strategische Lage von Jean-Luc Mélanchon ("La France insoumise")
Jean-Luc Mélenchon begann seinen Wahlkampf vor über einem Jahr mit der Gründung der neuen politischen Bewegung „La France Insoumise“, die mittlerweile mehr als 400 000 Mitglieder hat. Mélenchon will nicht nur in der Präsidentschaftswahl gut abschneiden, sondern auch die Parti Socialiste (Sozialistische Partei) als wichtigste Partei der französischen Linken ablösen. Politisch verfolgt er dieses Ziel vor allem mit einer Art Sammelprogramm für alle Linken.
Sein Wirtschaftsprogramm stützt sich auf Staatsinterventionismus, Vermögensumverteilung und die Sicherung von Arbeitsplätzen. 100 Milliarden Euro an öffentlichen Investitionen sollen die Wirtschaft ankurbeln. Außerdem plant Mélenchon eine Steuer von 100 Prozent auf alle Jahreseinkommen über 400 000 Euro sowie eine Universalsteuer, nach der alle französischen Bürger Einkommensteuer in Frankreich zahlen, auch wenn sie im Ausland leben (französische Bürger im Ausland zahlen danach die Differenz zur Einkommensteuer in dem Land, in dem sie leben). Einige der unter Präsident Hollande erlassenen Gesetze zur Deregulierung des Arbeitsmarktes würde er wieder aufheben. Mélenchon hat zudem den ökologischen Wandel in den Mittelpunkt seines Programms gestellt. Danach soll die Kernkraft durch erneuerbare Energien ersetzt, die Bio-Landwirtschaft (etwa durch verpflichtende Bio-Verpflegung in Schulmensen) ausgebaut und die „Blue Economy“ entwickelt werden. Wie schon in der Vergangenheit steht Mélenchon der Europäischen Union überaus kritisch gegenüber: Er sprach sich für eine Neuverhandlung der EU-Verträge aus, um die „Austeritätspolitik“ zu beenden und eine soziale, fiskalische und ökologische Harmonisierung nach oben zu erreichen. Sollten die Verhandlungen scheitern, würde er einen „Frexit“ aus den EU-Verträgen unterstützen. Er vertritt auch die Gründung einer Sechsten Republik, um durch die Einrichtung einer Verfassungsgebenden Versammlung die derzeitige „republikanische Monarchie“ zu beenden, „in der dem Präsidenten zu viel Macht eingeräumt wird“.
Schließlich setzt er sich für individuelle Freiheiten ein (etwa ein Recht auf Sterbehilfe und ein Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare), spricht sich aber auch für eine Stärkung des Staates aus (verpflichtender Zivildienst mit der Option, ihn als Militärdienst abzuleisten).
Methodik und Autoren
Wie sind die Sdchaubilder aufgebaut?
Auf dem Schaubild oben sind die Positionen der französischen Kandidaten auf einer zweidimensionalen Karte verzeichnet. Grundlage bilden die 30 wichtigsten Aussagen über besonders relevante Politikthemen in der derzeitigen politischen Debatte. Diese Inhalte gehen aus einer gründlichen Auswertung der Parteiprogramme und des politischen (Medien-) Diskurses durch ein Team aus Wissenschaftlern und Experten hervor. Jede dieser Aussagen bezieht sich auf einen politischen Inhalt, der sich als „links“ oder „rechts“ beziehungsweise als „libertär“ oder „autoritär“ einordnen lässt. Die Antworten auf diese Aussagen liegen auf einer fünfstufigen Skala: „Stimme überhaupt nicht zu“, „Stimme nicht zu“, „Neutral“, „Stimme zu“, „Stimme vollständig zu“. Die Position der Kandidaten zu diesen Aussagen ist jeweils entsprechend ihren offiziellen Verlautbarungen in Veröffentlichungen, Wahlkampfdokumenten und Medienauftritten kodiert.
Die Schaubidler entstanden auf Basis sämtlicher Positionen der Kandidaten in den beiden Dimensionen (der Links-Rechts- und der Libertär-Autoritär-Dimension). Die tatsächliche Position des Kandidaten liegt im Zentrum der jeweiligen Ellipse. Die Ellipsen repräsentieren die Standardabweichungen der Antworten der Kandidaten auf alle Aussagen, die für den Aufbau der Achsen verwendet wurden. Daher ist die Ellipse von Kandidaten mit sowohl linken wie auch rechten politischen Inhalten auf der Links-Rechts-Achse breiter. Parteien mit sowohl libertären als auch autoritären Politikinhalte verzeichnen eine längere Ellipse auf der Libertär-Autoritären Achse.
Von wem wurden die Strategiedebatten Frankreich erstellt?
Texte:
Thomas Vitiello - Sciences Po Paris, ISCOM Paris and IES Abroad Nice
Schaubilder:
André Krouwel - Gründer von Kieskompas BV & Freie Universität Amsterdam
Oscar Moreda Laguna - General operations manager - Kieskompas BV
Yordan Kutiyski - Analyst - Kieskompas BV
Projektkoordiantion:
Oliver Philipp - Friedrich-Ebert-Stiftung
Arne Schildberg - Friedrich-Ebert-Stiftung