Das Vereinigte Königreich wählte seine 73 Europaabgeordneten nach Verhältniswahlrecht mit einem einzigen Wahlkreis im Mai 2019. Sollte das Vereinigte Königreich die EU am 31.10.2019 verlassen, so würde sich die Größe des EU-Parlaments von 751 auf 705 Sitze verkleinern. 27 der 73 Sitze gingen dann an 14 andere Länder, beispielsweise Frankreich, Spanien, Italien, Polen und Rumänien. Die verbleibenden 46 Sitze würden für eine mögliche zukünftige EU-Erweiterung reserviert werden. Die Frage, ob das Vereinigte Königreich die EU verlassen sollte oder nicht, war Schwerpunkt der politischen Debatte in den letzten drei Jahren. Die Brexit-Debatte erreichte bei diesen Europawahlen ihren Höhepunkt, weshalb der Wahlkampf sehr eintönig verlief. Für die Wählerinnen und Wähler war der Brexit der wahlentscheidenste Faktor. Die Parteien waren sich dessen bewusst und versuchten daraus Kapital zu schlagen, was manchen Parteien besser als anderen gelang.
Labour in der Zwickmühle
Labour hatte das thematisch breiteste Wahlprogramm, wofür es vor allem zwei Gründe gab. Zum einen möchte die Partei Vertrauen zurückgewinnen, um nach den nächsten Unterhauswahlen die Regierung zu bilden. Zum anderen verfügt die Partei über keine einheitliche Brexit-Linie und war deshalb gezwungen, mit anderen Themen in den Wahlkampf zu ziehen. Die uneinheitliche Brexit-Position ist eine Folge der gegensätzlichen Flügel der Partei. Die Einstellungen ihrer Parteiflügel lassen sich in EU-Befürwortung, EU-Skepsis und eine gemäßigte Gruppe aufteilen. Einige befürworten ein zweites Referendum, während andere diese Idee ablehnen und den EU-Austritt so schnell wie möglich hinter sich bringen wollen. Zu sagen, dass Labour sich mit dem Brexit schwertue, wäre also eine Untertreibung. Das Wahlprogramm von Labour, das unter der Devise, “Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen” stand, umfasste schwerpunktmäßig verschiedene traditionell linke Themen wie Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerrechte, Umweltpolitik, aber auch Themen wie wirtschaftlichen Wettbewerb und Ordnung und Sicherheit. Politikerinnen und Politiker von Labour vermochten es nicht, eine kohärente Haltung zum Thema Brexit zu vermitteln, weshalb Labour bei den Europawahlen auch kein gutes Ergebnis erzielte.
Die Konservative Partei hatte ebenfalls Mühe, eine klare Strategie und Einheit zu vermitteln, jedoch aus anderen Gründen. Das Anti-EU Lager dominiert die Partei. Diesem Flügel geht es nicht nur um einen Austritt aus der EU, vielmehr hat diese Gruppe auch bereits ein klares Bild, wie dieses gestaltet werden soll. Zum einen gibt es die Euroskeptiker, die einen vollumfänglichen Austritt fordern, den “no deal”-Brexit und verärgert über die EU und ihre bisherige Verhandlungsstrategie sind. Andere Teile der Partei befürchten wirtschaftliche Rückschläge, was eine traditionelle Sorge der gesamten Partei ist, und befürworten deshalb Handelsabkommen mit der EU und ihren Mitgliedstaaten. Die Partei hatte sich für einen Verbleib in der EU im Wahlkampf des Referendums 2016 ausgesprochen, stand bei den Parlamentswahlen 2017 jedoch für den Austritt, der aber bislang ergebnislos verlief. Die Partei wollte an den Europawahlen 2019 nicht teilnehmen und versuchte die Teilnahme aktiv zu verhindern, indem sie kein Wahlprogramm veröffentlichte. Die Debatte konzentriert sich vor allem auf die innerparteilichen Streitigkeiten, die in der Wahl einer neuen Führungsspitze gipfelten, die nach den Europawahlen durchgeführt wird.
To Brexit or Not to Brexit?
Die Ergebnisse der beiden großen Parteien veranschaulichen die politische Verwirrung und das Fehlen einer klaren Haltung bezogen auf den Brexit. Sie verloren über ein Viertel ihrer Wählerschaft, viele ihrer Wählerinnen und Wähler verteilten ihre Stimmen auf Parteien, die einen klaren Brexit Kurs artikulierten. Die Gewinnerparteien der Wahl waren zweifellos die Brexit Party und die Liberal Democrats. Zusammen gewannen sie über die Hälfte der Stimmen. Die Liberal Democrats konnten ihren Stimmenanteil im Vergleich zur Europawahl 2014 verdoppeln. Die Brexit Party ersetzte UKIP als zentrale Anti-EU-Kraft und gewann sechs Prozentpunkte mehr als UKIP, die 2014 von Nigel Farage angeführt wurde. UKIP forderte vor dem Brexit das Referendum zur EU-Mitgliedschaft. Die Brexit Party wurde hingegen gegründet, weil das Vereinigte Königreich die EU (immer) noch nicht verlassen hat. Die Botschaft der Partei für die Europawahlen war eindeutig - auch ohne Wahlprogramm. Als Programm diente lediglich ein einseitiger Flyer. Die gesamte Bewegung fordert einen kompromisslosen Austritt aus der EU und drückt ihren Unmut über die Institutionen aus, die den Austritt noch nicht umgesetzt haben.
Ebenso klar wie gegensätzlich war die Strategie der Liberal Democrats mit ihrem anhaltenden “Bollocks to Brexit” Kurs (sinngemäß: “Der Brexit ist totaler Schwachsinn”). Das Wahlprogramm und der medial inszenierte Wahlkampf der Partei hoben die Vorzüge der EU-Mitgliedschaft sowohl auf praktischer als auch ideologischer Ebene hervor. Nicht erst seit ihrem guten Ergebnis bei den Lokalwahlen etablieren sich die Liberal Democrats als zuverlässige Stimme des linken Spektrums, was sich durchaus auszahlt.
Aktuellen Umfragen zufolge sehen 13 % der Einwohner des Vereinigten Königreichs den Umweltschutz (und nicht den Brexit) als größte Herausforderung für das Land an. Diese Menschen wählen in erster Linie die Green Party, insbesondere bei den Europawahlen 2019. Die Grünen antworten mit umweltfreundlichen Lösungen auf die meisten Probleme und waren dabei noch radikaler als die Liberal Democrats, womit sie für die meisten eine gute Alternative als Protestpartei, abseits der großen Parteien, darstellen. Diese Strategie zahlte sich für die Grünen aus. Sie landeten vor der Konservativen Partei, die mit ihrem schlechtesten Ergebnis überhaupt nur fünftstärkste Kraft wurde.
Hohe Wahlbeteiligung
Die Wahlbeteiligung lag im Vereinigten Königreich bei 37 %. Die Beteiligung scheint zwar auf den ersten Blick niedrig ausgefallen zu sein, aber vor dem Hintergrund, dass keine parallelen Parlaments- oder Kommunalwahlen abgehalten wurden, fiel die Wahlbeteiligung höher aus als erwartet.
Die Wahlbeteiligung ist im Vergleich zu 2014 in vielen Regionen sogar angestiegen, obwohl damals parallel auch Kommunalwahlen durchgeführt wurden.
Die Zahlen lassen erkennen, dass Menschen mobilisiert wurden, die vorher normalerweise nicht wählen gingen. Die Beteiligung an den Europawahlen signalisiert, im Vergleich zur Wahlbeteiligung am Brexit-Referendum 2016, die bei 72 % lag, dass die Wahlberechtigten die Wahl nicht als zweite Abstimmung über den Brexit verstanden. Dennoch wurden viele Analysen nach der Wahl in diese Richtung gedeutet. Auch vor der Wahl wurden die Parteien basierend auf ihrer Brexit-Haltung in verschiedene Gruppen eingeteilt. Hier kursierten unterschiedliche Interpretationen, aber am sinnvollsten erscheint folgende: Die Brexit Party und UKIP sind für einen “harten” Brexit; die Liberal Democrats, Grünen, Plaid Cymru und die Schottische Nationalpartei (SNP) sind “Anti-Brexit” Parteien und Labour und die Konservative Partei stehen für einen kompromissbasierten “weichen” Brexit. In den EU-Wahlbezirken wählten diejenigen, die sich zuvor mehrheitlich für “Leave” ausgesprochen haben, nach wie vor anti-EU Parteien, andersherum ist in den “Remain”-Regionen eine mehrheitliche Zustimmung für pro-EU Parteien erkennbar.
So wurde deutlich, dass die Wählerinnen und Wähler sich von den beiden großen Parteien abwandten und stattdessen anderen Parteien ihre Stimme gaben, woraus der Wunsch in Bezug auf die Zukunft des Landes ablesbar wird: 34,6 % stimmten für einen Verbleib und das linke Spektrum, 33, 7 % für einen Austritt und das rechte Lager und 31,7 % stimmten für einen Mittelweg zwischen beiden Optionen. Dieses Resultat spiegelt zwar das Ergebnis des Referendums wieder, allerdings wird nun sogar eine Aufspaltung in drei fast gleich große Lager deutlich. Diese Einschätzung scheint jedoch zu kurz gegriffen. Obwohl die öffentliche Debatte von der Brexit-Frage dominiert wurde, wächst in dem Land die Frustration darüber, dass es einen politischen Stillstand hinsichtlich aller anderen Themen gibt, um sich auf einen möglichen Austritt vorzubereiten. Viele äußern ihren Unmut darüber, dass öffentliche Einrichtungen, wie das Gesundheitssystem und Schulen, überfordert sind. Die etablierten Parteien verlieren ihre Glaubwürdigkeit aufgrund innerparteilicher Konflikte und schwacher Führung. Die hohen Lebenshaltungskosten sowie der Arbeits- und Wohnungsmarkt rufen eine Unzufriedenheit der Wählerschaft hervor. Somit spielten mehrere Faktoren bei der Europawahl eine Rolle, die im Zusammenspiel mit der Verhältniswahl eine offensichtliche Zersplitterung der Parteienlandschaft zur Folge hatte. Dennoch bleibt die Debatte stark fokussiert auf das Thema Brexit.