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von Helmut Brand
In der derzeit herrschenden Covid-19-Pandemie stellt sich die Frage, welche Rolle die Europäische Union (EU) im Gesundheitsschutz einnimmt. Ist die jetzige Situation die Stunde der Nationalstaaten und läutet sie eine Rückbesinnung auf nationale Gesundheitsschutzanstrengungen ein oder ist sie ein „Window of Opportunity“ auf dem Weg zu einer Europäischen Gesundheitsunion?
Der „ideale“ Ablauf der Pandemiebekämpfung
„Nachdem asiatische Länder zeitgerecht und transparent Ausbrüche eines Virus – das später SARS-Cov-2 (Covid-19) genannt werden wird – aufgrund der Internationalen Gesundheitsvorschriften (International Health Regulations – IHR) an die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gemeldet hatten und diese entsprechend ihre Mitgliedstaaten umgehend informierte, trafen sich sofort die Europäischen Gesundheitsminister_innen, um ein gemeinsames Vorgehen zu beraten. Im Vordergrund standen z. B. eine Einigung bezüglich der Regelung des Reiseverkehrs mit den betroffenen Ländern, um Krankheitsfälle direkt nachverfolgen zu können, und ggf. die mögliche Aktivierung des gemeinsam entwickelten Pandemieplans. Im weiteren Verlauf wurden aufgrund der von den obersten Gesundheitsbehörden der Mitgliedstaaten gemeldeten Fälle an das Europäische Zentrum für die Kontrolle und Prävention von Krankheiten (ECDC) weitere Maßnahmen wie die Aktivierung des Europäischen Registers über Intensivbetten in Krankenhäusern und die 100-Tage-Reserve essenzieller Medikamente, Medizintechnologien und persönlicher Schutzkleidung beschlossen. Dank der in Kernbereichen abgestimmten nationalen Pandemiepläne konnten Krankheitsmeldungen schnell elektronisch gemeldet und die von den Mitgliedstatten getroffenen Maßnahmen verglichen und bewertet werden. Dadurch war es möglich, Krankheitsherde auch über Grenzen hinweg z. B. in Grenzregionen zu identifizieren und diese Krankheitscluster gezielt zu bekämpfen, ohne europäische Binnengrenzen schließen zu müssen. Je mehr man über das neue Virus wusste, wurden die Entscheidungen über Maßnahmen zur Eindämmung und Nachverfolgung an nachfolgende Entscheidungsebenen delegiert, um lokalen Gegebenheiten und Bedürfnissen gerecht zu werden. Durch die enge Kooperation mit dem US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) konnten europäische Erfahrungen auch mit anderen Kontinenten ausgetauscht werden und einen Beitrag zur globalen Gesundheit leisten.
Die Risikokommunikation erfolgte mit den Bürger_innen über das als europäische Alternative zu Twitter und Facebook gegründete European Social Network, welches Informationen zur Verfügung stellte, die automatisch und zeitgleich in allen Sprachen der EU verfügbar waren und von den Bürger_innen kommentiert werden konnten. Koordinierte Anstrengungen zur Entwicklung von Testdiagnostik, der Vergleich von Therapien und die Impfstoffentwicklung führten schlussendlich zu einer fast gleichzeitigen Verfügbarkeit von Prävention- und Behandlungsmethoden in allen Mitgliedstaaten. Die Pandemie hatte deshalb einen milden Verlauf in der EU.“
So oder so ähnlich hätte die Covid-Pandemie auch ablaufen können, wenn wir die schon bestehenden Möglichkeiten der EU genutzt hätten. Was hat uns also daran gehindert, genau das auch zu tun? Europa mit seiner Sprachenvielfalt, mit einer dadurch fehlenden europäischen Presse, Unterschiede im Wohlstandsniveau, die fehlende gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, eine nur teilweise bestehende Währungsunion ohne Fiskalunion und mit Föderalismus und Zentralstaatlichkeit – all das macht es nicht leicht, eine Union zu bilden, die schütz und sichert. Beides ist aber gerade auch für den Gesundheitsbereich wichtig: Gesundheitsschutz und Krankheitsbehandlung sind essenzielle Säulen einer Europäischen Gesundheitsunion.
Handlungsmöglichkeiten im Rahmen des jetzigen Vertrags
Im Vertrag über die Arbeitsweise der EU (§168) ist das Mandat zur Öffentlichen Gesundheit beschrieben, welches sich im Prinzip auf koordinierende und unterstützende Maßnahmen einer eher präventiven Gesundheitspolitik beschränkt. Eine Maßnahmenabwehr bei grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren ist möglich, jedoch ohne jegliche Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten. Besondere Regelungen betreffen die Qualitäts- und Sicherheitsstandards bei Organen und Substanzen menschlichen Ursprungs, Gesundheitsschutzmaßnahmen in den Bereichen Veterinärwesen und Pflanzenschutz sowie Maßnahmen zur Festlegung hoher Qualitäts- und Sicherheitsstandards für Arzneimittel und Medizinprodukte.
Das alles klingt nicht nach einem weitreichenden Mandat im Gesundheitswesen. Dazu kommt, dass eine Einmischung in die Organisation und Finanzierung der medizinischen Versorgung in den Mitgliedstaaten tabu ist. Dies heißt aber auch wieder nicht, dass man sich keine Gedanken über die Organisationsform und Leistungsfähigkeit der verschiedenen Gesundheitssysteme in der EU machen darf. Im Gegenteil, es arbeiten verschiedene Arbeits- und Expertengruppen (beratend) an der Frage, wie man die einzelnen Gesundheitssysteme zukunftsfähig halten kann. Auch das Europäische Semester, ein Rahmenwerk für die wirtschaftspolitische Steuerung der EU, in dessen Verlauf die EU-Mitgliedstaaten ihre Wirtschafts- und Fiskalpolitik aufeinander abstimmen, berücksichtigt die Ausgaben für die Gesundheitsversorgung, da sie bis zu elf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) eines Landes betragen können und damit nicht unbedeutend sind. Es werden dabei auch Handlungsempfehlungen an die Mitgliedstaaten über einzuleitende Reformen ausgesprochen, die dann meist aber nur zögerlich in Angriff genommen werden.
Es gilt auch, dass bei der Festlegung und Durchführung aller Unionspolitiken und -maßnahmen ein hohes Gesundheitsschutzniveau sichergestellt werden soll. Dies ermöglicht es, sich in alle Politikbereiche im Sinne eines „Health in all Policies“–Ansatzes einzumischen. Allerdings ist das kein einfaches Vorgehen, da man bei der Umsetzung gesundheitsrelevanter Lösungen den Umweg über andere Politikbereiche nehmen muss. Zudem kann die Methode des „Health Impact Assessment“ hier hilfreich sein, da es die Auswirkungen von allgemein geplanten gesetzlichen Regelungen auf die Gesundheit und das Gesundheitssystem analysiert. Es werden zwar schon regelmäßig die Auswirkungen neuer Regelungen auf verschiedene Bereiche untersucht, Gesundheitsfragen sind dabei aber nicht systematisch integriert.
Gleichzeitig muss man erkennen, dass durch die Covid-Pandemie sich das Interesse an Gesundheitsfragen nur auf den Gesundheitsschutz vor dem Virus, die Prävention und Behandlung konzentriert. Andere, ebenso wichtige Bereiche der Gesundheit und des Gesundheitswesens stehen weiterhin nicht im Fokus des Interesses. Man sollte daher dieses Moment nutzen, um eine EU-Gesundheitspolitik zu verankern, die umfassend sowohl die übertragbaren als auch die nichtübertragbaren Krankheiten und das Gesundheitssystem berücksichtigt. Eine progressive Europäische Gesundheitspolitik kann sich an folgenden drei Kernbereichen orientieren:
Gesundheit in den Mitgliedstaaten (Public Health in Europe)
In diesem Bereich wird seit Langem an einer gemeinsamen Datenbasis mit vergleichbaren Indikatoren gearbeitet, die dann in verschiedene Gesundheitsberichte der EU, WHO und Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) einfließen. Diese Lagebeurteilung im Vergleich ist wichtig, um überhaupt beurteilen zu können, wo man mit seiner eigenen Region oder dem eigenen Land im Vergleich zu anderen steht. Ferner werden Interventionen der verschiedenen Mitgliedstaaten untersucht und verglichen, um Best-Practice-Beispiele zu finden.
Zum einen bedarf es die Bereitschaft der Politik, diese Analysen aufzunehmen. In vielen Analysen ist z. B. eine mögliche Pandemie als ein Risiko mit geringer Eintrittswahrscheinlichkeit, aber hohem Schadenpotenzial seit Jahren verzeichnet. Leider verlies man sich zu sehr auf den Faktor „kleines Risiko“. Zum anderem kommt es auch auf politische Leadership an. In verschiedenen Analysen zur „Pandemic Prepardness“ hatten die USA und Großbritannien Spitzenplätze inne. Politiker_innen in diesen Ländern haben allerdings Entscheidungen getroffen, die diese Spitzenpositionen neutralisierten – oder eben die Beurteilung der Pandemie-Bereitschaft war fehlerhaft. Um dies zu verhindern, kann man die Idee der regelmäßigen Stresstests aus dem Bankenbereich auf die Gesundheitssysteme übertragen, die nach der letzten Finanzkrise in der EU eingeführt wurde.
Europäische Vertiefung im Gesundheitsbereich (European Integration in Health)
In Bezug auf die Organisation von Gesundheitsleistungen in einem europäischen Rahmen ist schon jetzt vieles möglich. Die Direktive zur grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs haben hier viele Möglichkeiten eröffnet, einschließlich Regelungen zur Kostenerstattung. Videokonferenzen und elektronisches Rezept sind jetzt europaweit verfügbar. Schwerpunktkliniken sehen viele Fälle, auf die sie spezialisiert sind, und können deshalb eine gute Diagnostik und Therapie anbieten und mit zusätzlichen Patient_innen aus anderen europäischen Ländern verbessern sie sie weiter. Hochtechnologie kann besser ausgelastet werden und wird verfügbar für Patient_innen aus Mitgliedstaaten, die sich diese (noch) nicht leisten können. Woran liegt es dann, dass diese Möglichkeiten so wenig genutzt wird? Nur ein Prozent der Gesundheitsausgaben fällt in der grenzüberschreitenden Versorgung an. Grund dafür ist vor allem die langsame nationale Umsetzung europäischer Vereinbarungen und die Regelung administrative Detailfragen, die unendlich viel Zeit kosten. Bei European Integration in Health geht es um die Bereiche, bei denen ein Mitgliedstaat überfordert ist und/oder die Zusammenarbeit verschiedener Mitgliedstaaten einen Mehrwert bringt. Alles andere sollte nach dem Subsidiaritätsprinzip auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene bearbeitet werden.
Europa kann man also jetzt schon im vorhandenen Regelwerk realisieren, man muss nur wirklich wollen. Die Europäischen Agenturen, wie das schon in der Einleitung genannte ECDC oder die Europäische Arzneimittelbehörde, sind ein Beispiel dafür. Sie erarbeiten ihn ihrem Bereich, was sonst jeder Mitgliedstaat für sich selber machen müsste. Gemeinsame Forschungsaktivitäten machen Sinn, wenn diese einen wirklichen Mehrwert bringen und die EU von den Forscher_innen nicht nur als eine weitere Geldquelle gesehen werden. Europäische Netzwerke wie z. B. das Netzwerk zu seltenen Erkrankungen schaffen Voraussetzungen, um voneinander zu lernen und die Versorgung zu verbessern. Gemeinsames bewerten neuer gesundheitsbezogener Technologien vermeidet Doppelarbeit und kann diese schneller verfügbar machen. Zentrales einkaufen von allgemeinen Impfstoffen ermöglicht bessere Preise und eine gleichzeitige Verfügbarkeit in allen EU-Ländern. In der jetzigen Corona-Pandemie hat Europa nach einigen Anlaufschwierigkeiten eine gemeinsame Forschung zu Impfstoffen angeschoben und sich auch von entwickelten Impfstoffen gemeinsam Impfdosen gesichert. Manchmal fehlt es aber schlicht am Einfachen: Ein Register der Verfügbarkeit von Intensivbetten und speziellen Behandlungsgeräten (zumindest in Grenzregionen) würde es erleichtern, Patient_innen bei Überbelastung von Kliniken verlegen zu können.
Globale Gesundheit und Europa (Global Health Europe)
Wie sollte sich die EU mit ihren circa 450 Millionen Menschen zu anderen großen Nationen und Kontinenten in Gesundheitsfragen positionieren? Auch hier greift wieder der „Health in all Policies“-Ansatz. Da kleinere EU-Staaten kaum eine Chance auf Verhandlungen auf Augenhöhe haben, z. B. im Bereich von Handels- und Investitionsabkommen mit großen Staaten, wurde der EU der Auftrag gegeben, diese Aushandlungsprozesse zu übernehmen. Denn Fragen der globalen Gesundheitsentwicklung solcher Vereinbarungen sind wichtig und sollten in der Zukunft daher eine wichtige Komponente in der europäischen Gesundheitspolitik sein. Gleichzeitig müssen auch andere Akteure wie OECD, die Europäische Zentralbank (EZB), die Weltbank oder auch die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) durch ihren Einfluss auf die Wirtschaft der EU im Augenmerk sein. Als neuer Akteur hat sich jetzt die Regionale, umfassende Wirtschaftspartnerschaft (Regional Comprehensive Economic Partnership – RCEP), ein seit 2020 bestehendes Freihandelsabkommen zwischen zehn ASEAN-Mitgliedstaaten und fünf weiteren Staaten in der Region Asien-Pazifik, dazugesellt.
Im Verhältnis zur WHO spielen die oben angeführten IHR eine zunehmende Rolle, da sich in der jetzigen Pandemie einige Schwächen gezeigt haben. Die Bereitschaft, transparent und offen Infektionskrankheiten an die WHO zu berichten, ist leider oft nicht gegeben und eine unabhängige Überprüfung vor Ort kaum möglich. Reise- sind von Handelsrestriktionen zu unterscheiden, um Lieferketten nicht unnötig zu unterbrechen. Auch sollte es verschiedene Alarmstufen zur Ausrufung eines Ereignisses einer gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite geben.
Ein neuer Vertrag hat Chancen und Risiken für eine Europäische Gesundheitsunion
Noch vor einem Jahr wäre die Antwort auf die Frage nach dem Aufschnüren des jetzigen Vertragswerks ein klares Nein gewesen. Man sollte den Vertrag auch nur dann aufschnüren, wenn man weiß, dass man gewinnen kann. Dieser Zeitpunkt könnte für Gesundheit jetzt gekommen sein: Ein Europa, das schützt und im Sozialen und in Gesundheit sichert, beginnt umsetzbar zu werden. Entscheidend wird sein, inwieweit wir die Gesundheitssysteme der EU „europäisieren“ können. Nicht im Sinne der immer wieder befürchteten „Gleichmacherei und Einigung auf den jeweilig niedrigsten Standard durch Harmonisierung“, sondern durch Monitoring, Beratung und Unterstützung auf dem Weg zu dem jeweils richtigen Gesundheitssystem eines Landes – „richtig“ im Sinne von angepasst an die jeweils soziale, wirtschaftliche und kulturelle Situation eines Landes. Bis zu einer möglichen Vertragsmodifizierung heißt die Devise allerdings, sich durchzumogeln (muddeling through), denn der jetzige Vertrag bietet im Augenblick genug Chancen, Sinnvolles zu tun!
Prof. Dr. Helmut Brand ist Jean Monnet Professor für Europäische Gesundheitswissenschaften und Leiter der Abteilung für Internationale Gesundheitswissenschaften an der Universität Maastricht, Niederlande.
Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Vorabveröffentlichung. Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.
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