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Wir sprechen mit Andreas Kossert über sein Buch „Flucht – eine Menschheitsgeschichte“. Ihm wurde am 17. Mai der Preis für „Das politische Buch“ 2021 der Friedrich-Ebert-Stiftung verliehen.
FES: Herr Kossert, wir gratulieren Ihnen zur Verleihung des diesjährigen Preises der Friedrich-Ebert-Stiftung für „Das politische Buch“. In Ihrem Buch geht es um Flucht als existenzielle Menschheitserfahrung. Wann und wie ist bei Ihnen die Idee zu diesem Buch entstanden?
Vielen Dank, ich freue mich sehr, dass dieses wichtige Thema gerade in Zeiten der Pandemie nicht in Vergessenheit gerät.
Eigentlich begleitet mich das Thema „Flucht“ bereits mein Leben lang. Geschichten von Flucht und verlorener Heimat hörte ich bereits seit Kindheitstagen in der eigenen Familie. Vielleicht hatte ich dadurch immer schon ein besonderes Interesse für Menschen, die ihre Heimat gegen ihren Willen verlassen müssen. Dabei war mir meine Beschäftigung mit den deutschen Vertriebenen hilfreich. 14 Millionen Deutsche haben als Folge des Zweiten Weltkriegs ihre Heimat für immer verloren. Ihre Ankunft im Westen zeigte, dass dort niemand auf sie gewartet hat. Sie waren sozial deklassiert, nicht willkommen und das Thema schien auch nach Jahrzehnten stets einem politischen Drahtseilakt zu gleichen. Außerhalb Deutschlands ist ihr Schicksal wenig bekannt.
Welche Botschaft soll das Buch vermitteln?
Menschen, die ihre Heimat zwangsweise verlassen müssen, verbinden viele Erfahrungen, durch alle Zeiten und Räume hindurch. Wenn ich etwa in Griechenland berichtete, merkte ich, wie viele Gesellschaften gleichermaßen von Flucht und Heimatverlust geprägt sind, obwohl Kontexte und Ursachen sehr unterschiedlich waren. Mir war es deshalb wichtig, wenigstens fragmentarisch eine Ahnung vom zeitlos aktuellen Menschheitsdrama Flucht zu vermitteln. Mir geht es in diesem Buch vor allem darum, einen Perspektivwechsel vorzunehmen: Und zwar, aus der Sicht von Flüchtlingen die Welt sehen und ihre Geschichte in den Mittelpunkt zu rücken.
Ein ganzes Unterkapitel des Buches setzt sich mit dem Begriff des „Flüchtlings“ auseinander, einem Begriff der in der jüngeren Debatte immer wieder kritisiert wurde und zunehmend durch „Geflüchteter“ ersetzt wurde (auch hier auf diesem Portal). Was spricht aus Ihrer Sicht dennoch für die Verwendung dieses Begriffs?
Mir ist die Debatte bekannt und für mich ist es zu keinem Zeitpunkt ein Streitwert, welche Bezeichnung wir verwenden, solange wir von ein- und derselben Personengruppe sprechen: Menschen, die vor Krieg und Gewalt fliehen müssen oder vertrieben werden. Ich verstehe, warum man den Ausdruck „Flüchtling“ kritisch sehen kann. Aber für eine historische Perspektive aus der Sicht der Betroffenen, wie ich sie vornehme, ist der Ausdruck „Geflüchtete“ zu unscharf, mitunter auch verharmlosend. Da lese ich in einer Zeitung „Geflüchteter schwimmt von Nord- nach Südkorea“ oder „Geflüchtete ertrinken vor der libyschen Küste“. Das ist einfach falsch, diese Menschen befinden sich noch immer auf einer dramatischen Flucht und verlieren manchmal dabei sogar ihr Leben. Wie können sie dann Geflüchtete sein?
Sie meinen also, wer flieht, dessen Flucht endet nicht mit der Ankunft irgendwo?
Es ist ein Trugschluss, wenn man denkt, die Flucht endet nach dem physischen Ankommen. Können wir Menschen, die wie im Libanon oder Ostafrika in dritter Generation in Flüchtlingslagern leben, einfach als Geflüchtete bezeichnen und ihr prekäres Leben wegdefinieren? Keiner käme doch ernsthaft auf die Idee, die muslimischen Rohingya in ihren elenden Unterkünften in Bangladesch als Geflüchtete zu bezeichnen, wenn sie kaum Hoffnung auf irgendeine gedeihliche Zukunft zu haben scheinen. Lange habe ich über den Begriff nachgedacht. Der Begriff Geflüchtete scheint zwar weniger abwertend, aber er birgt eben auch die Gefahr einer Verharmlosung der Erfahrungen von Flüchtlingen und Vertriebenen. Zudem scheint er aus einer sehr deutschen Perspektive Verwendung zu finden und meint in erster Linie die nach Deutschland gekommenen Flüchtlinge. Wichtig ist es, Flucht als Thema und Flüchtlinge als Betroffene ernst zu nehmen. Wenn wir ihre Biographien anerkennen, entfällt ohnehin das Negative, das dem Begriff anhaften mag.
Ein zweiter Begriff, mit dem sie sich intensiv beschäftigen ist der Begriff „Heimat“. Sie plädieren dafür, den Begriff trotz seiner Ambivalenzen und der Tatsache, dass er auch immer wieder für die Ausgrenzung „Anderer“ benutzt wird, nicht aus dem Sprachschatz zu streichen. Warum?
Dieses Kapitel ist eigentlich als kurzes Übergangskapitel gedacht, das die Klammer zwischen dem historischen Überblick und den Erfahrungsebenen darstellt. Darin möchte ich die ganze und mitunter problematische Bandbreite des Heimat-Begriffs zeigen. Der Heimat-Begriff muss immer wieder neu überprüft und vor allem in seiner unheilvollen Instrumentalisierung hinterfragt werden. Doch offenbar gibt es in unserer globalisierten Welt die Sehnsucht nach einem Ort, der uns das Gefühl gibt, zur Ruhe zu kommen. Wenn über „Heimat“ in Talkshows gestritten wird, erscheint mir das jedoch häufig wie eine Luxusdebatte. Für Flüchtlinge und Vertriebene hingegen, die ihre Heimat real und meistens für immer verloren haben, ist dieser Erinnerungstopos existentiell. Sie haben ihre vertraute Umgebung samt aller kulturellen und sozialen Bindungen aufgeben müssen. Es gibt diese Leerstelle in ihrer Biografie. Deshalb finde ich, über Heimat kann man trefflich streiten, wenn man irgendwo zuhause ist. Doch das Heimweh von Heimatlosen, das uns in der Geschichte der Flucht immer wieder begegnet, gilt es ernst zu nehmen und zeigt auch eindrucksvoll, dass es nicht selbstverständlich ist, eine neue Heimat zu finden.
Sie haben sich als Historiker mit den Fluchterfahrungen der nach dem zweiten Weltkrieg Vertriebenen eingehend beschäftigt. Welche Parallelen, aber auch Unterschiede sehen Sie zwischen den Erfahrungen der damals und heute in Deutschland ankommenden Menschen?
Als am Ende des Zweiten Weltkrieges 14 Millionen Deutsche in das verbliebene Deutschland kamen, lag dem eine Entscheidung der Siegermächte zugrunde, die alternativlos war. Deshalb war ihr Heimatverlust endgültig, eine Rückkehr ausgeschlossen. Davon waren die Deutschen jenseits von Oder und Neiße sowie aus vielen Regionen im östlichen Europa betroffen, und zwar als Kollektiv. Sowohl die Vertreibung als auch die Aufnahme in den vier Besatzungszonen war deshalb keine Option, sondern unmittelbare Folge des Zweiten Weltkrieges. Heute jedoch fliehen Menschen, die häufig diese Entscheidung individuell treffen, während etwa Familienangehörige zurückbleiben. Zu hoffen ist, dass sie im Unterschied zur Mitte des 20. Jahrhunderts, als kollektive Zwangsmigrationen weltweit sogar als Lösung für ethno-religiöse Konflikte propagiert wurden, irgendwann zurückkehren dürfen.
Und was sind die Gemeinsamkeiten?
Die Ursachen sind immer sehr ähnlich: Flucht vor Krieg und Gewalt etwa aus Syrien oder aus Myanmar, wie auch Vertreibungen im ehemaligen Jugoslawien oder der Jesiden im Nahen Osten. Zudem kennen trotz aller unterschiedlicher Ursachen, Kontexte und Epochen alle Flüchtlinge und Vertriebenen den erzwungenen Abschied, die Ungewissheit über Wege und Ziele ihrer Flucht, über alles, was dann folgt. Nach dem Ankommen erwarten sie Lager- und Transitzentren, Ausgrenzung und Feindschaft ebenso wie ein Weiterleben, das Integration, Assimilation oder permanentes Exil bedeuten kann. Am Ende verbindet alle die Erinnerung an das Verlorene, manchmal sogar über Generationen hinweg. Deshalb hat auch Heimat eine andere Bedeutung für Flüchtlinge, denn sie definiert sich aus ihrem Verlust. Flucht ist eine Zäsur, die Aufkündigung einer ungeschriebenen und über Generationen gültigen Übereinkunft mit den Vorfahren. Denn alles, was auf Erbrecht fußt, gilt plötzlich nicht mehr. Im Moment der Flucht versinkt alles in Bedeutungslosigkeit. Ihr Heimatverlust bedeutet eine existentielle Erfahrung, ein radikaler Bruch in ihren Lebensgeschichten, die sich in Davor und Danach teilt.
Dieser radikale Bruch, den sie beschreiben, hat also zwei Seiten. Neben dem Verlassen der alten Heimat kommt das „Ankommen“ in einem meist fremden Land. Aber wann ist man angekommen? Diese Frage stellen sich sicher alle Migrantinnen und Migranten. Inwiefern fällt die Antwort für Menschen die flüchten mussten anders aus, als für solche, die sich weitgehend aus eignen Stücken für die Migration entscheiden konnten?
Mir geht es nicht um Hierarchien. Migration und Flucht dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Dennoch ist eine Differenzierung unerlässlich. Nicht alle, die unter Lebensgefahr über das Mittelmeer kommen, sind Flüchtlinge, wie sie die Genfer Flüchtlingskonvention definiert. Selbstverständlich können dabei die Übergänge fließend sein. Auch wenn Flüchtlinge als „Zwangsmigranten“ unbestreitbar ein Teil der globalen Migrationsbewegungen sind, liegen Flucht und Migration auf ganz unterschiedlichen Erfahrungsebenen. Flüchtlinge fliehen häufig, weil ihr Leben bedroht ist, sie bringen sich vor ethno-religiösem Hass, Bomben und Terror in Sicherheit. Für die meisten Flüchtlinge und Vertriebenen ist deshalb ihr Ankommen auch deshalb schwieriger, weil ihre dramatischen Erfahrungen gemeinsam mit ihrer Entwurzelung Spuren hinterlassen, die sie nicht einfach abschütteln können.
„Was war, endet nicht“ heißt deswegen auch der letzte Teil Ihres Buches. Das gilt vor allem für die Flüchtlinge selbst. Aber gilt das nicht auch für die die Aufnahmegesellschaft?
Flucht ist eine Zäsur im Leben der Betroffenen – das war immer so. Das aber ist es genau, was sich vermeintlich sesshafte Gesellschaften kaum vorstellen können. Das ist nicht einmal ein Vorwurf, sondern ihnen fehlt schlicht die Vorstellungskraft, was es heißt, alles zu verlieren. Deshalb hoffe ich, mit meinem Buch einen Denkanstoß geben zu können, die Welt um uns herum einmal aus der Perspektive von Flüchtlingen oder Vertriebenen zu betrachten. Dieser neue Blick zeigt, wie schwer es allen fällt, die vertraute Umgebung verlassen zu müssen und sich oft unter Todesgefahr in Sicherheit zu bringen. Mir wäre es wichtig, dass wir uns heute für die Geschichten dieser Menschen interessieren, ihnen zuhören. Dann erfahren wir viel Verbindendes, denn auch Deutschland ist geprägt von Flucht und Heimatverlust, und zwar durch alle Zeiten hindurch. Das könnte Empathie befördern, indem wir uns genau diese historische Erfahrungskonstante immer wieder bewusst machen, im Hier und Heute und wie wir mit Flüchtlingen umgehen.
Politische Bildungsarbeit mit Jugendlichen, aber auch Erwachsenen ist eine Kernaufgabe der Friedrich-Ebert-Stiftung. Welche Botschaft halten Sie für zentral beim Thema Flucht?
Fluchtursachen zu bekämpfen gehört zu den globalen politischen Herausforderungen. Ebenso wie der Klimawandel bilden Flucht und Flüchtlinge eine gigantische Herausforderung für die Weltgemeinschaft. Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass jedes Jahr Millionen Menschen als Folge neuer Konflikte ihr Zuhause verlieren. Genau deshalb wünsche ich mir diesen Perspektivwechsel, aus der Sicht von Flüchtlingen die Welt zu betrachten. So verschiebt sich unser Blick auf die Welt, weil auch wir vielleicht erahnen, dass jeder von uns einmal zum Flüchtling werden kann.
Wir danken Ihnen für dieses Interview!
Andreas Kossert
studierte Geschichte, Slawistik und Politik. Der promovierte Historiker arbeitete am Deutschen Historischen Institut in Warschau und lebt seit 2010 als Historiker und Autor in Berlin.
Für sein Buch „Flucht – Eine Menschheitsgeschichte“ wurde er von der Friedrich-Ebert-Stiftung mit dem Preis für „Das politische Buch" 2021 ausgezeichnet. Die Preisverleihung fand am 17. Mai 2021 in Berlin statt.
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