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Warum ein progressives Narrativ über die deutsche Migrationsgesellschaft nötig ist
Versetzt man sich gedanklich an den Jahresanfang 2015 zurück, befindet man sich in einer politisch anderen Zeit. Eine rechtspopulistische Fraktion gibt es im Bundestag nicht, lediglich in einigen wenigen Länderparlamenten. Stattdessen finden die »Pegida«-Demonstrationen in Dresden breite Aufmerksamkeit bis in ausländische Medien hinein. Es flüchten zwar seit einiger Zeit mehr Menschen nach Deutschland, aber in der öffentlichen Aufmerksamkeit spielen Flucht und Asyl keine nennenswerte Rolle. Anfang 2015 schlägt der Rat für Migration vor, eine Kommission einzurichten, die ein neues Leitbild für die Einwanderungsgesellschaft erarbeiten soll. Daraus solle eine Neudefinition des deutschen »Wir« entstehen und das Verständnis für die gesellschaftliche Gegenwart und die Selbstverständlichkeit von Migration solle gestärkt werden. Das alltägliche Erleben der Einwanderungsgesellschaft solle in eine überzeugende Erzählung überführt werden.
Eine solche Kommission hat es nie gegeben, Überlegungen für ein progressives Narrativ der Einwanderungsgesellschaft aber sehr wohl. Eine neue Erzählung des »Wir« ist relevanter denn je. Die Debatten über Flucht, Migration und Integration der Jahre 2015 bis ’17 haben die Polarisierung der Meinungen in Politik und Bürger_innenschaft deutlich vor Augen geführt. Gut erforscht sind zudem die in Teilen der Bevölkerung verankerten rechtspopulistischen und rassistischen Einstellungen (vgl. die aktuelle FES-Mitte-Studie 2021). Die gestiegene Zahl rechtsextremer Straf- und Gewalttaten und brutale Morde wie die in Hanau oder Halle zeigen, dass insbesondere Menschen mit einer sichtbaren Einwanderungsgeschichte akut bedroht sind und das gesellschaftliche Zusammenleben unmittelbar attackiert wird.
Auf der anderen Seite ist trotz der hier nur kurz erwähnten Konflikte um Fragen von Flucht, Migration und Integration das Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft täglich gelebte Realität. Diese Tatsache erhält aber nur vergleichsweise geringen Widerhall in medialen Diskursen. Auch dies gehört zur gesellschaftlichen Realität: Obwohl mehr als ein Viertel der Bevölkerung einen Migrationshintergrund [1] aufweist, gilt die Migrationserfahrung nach wie vor als das Unnormale und ist die öffentliche Wahrnehmung von Migration und Integration überwiegend defizitorientiert.
Blickt man auf die sogenannten Asyldebatten der vergangenen Jahrzehnte zurück, dann wird deutlich, dass der politische Diskurs über Flucht und die Migrationspolitik allgemein von negative Deutungsrahmen dominiert und beeinflusst waren. Ohne die alten Begriffe aus den 1980er und 1990er Jahren hier zu wiederholen, kann man festhalten, dass diese Deutungsrahmen – oder »frames« – vor allem auf die Emotionen Angst und Unsicherheit abzielen und Differenz und Abgrenzung betonen. Sie rekurrieren auf Bedürfnisse der Gesellschaft, in der Migrant_innen und Geflüchtete ankommen, und eben nicht auf die der migrierenden oder flüchtenden Menschen. Ein Beispiel: Wenn Politiker_innen im Sommer 2021 Bilder von verzweifelten Menschen – sei es im Mittelmeer oder in Afghanistan – mit dem Satz »2015 darf sich nicht wiederholen« kommentieren, bedienen sie das Narrativ der Angst vor steigenden Flüchtlingszahlen. Dies wiederum legimitiert politische Maßnahmen, die Menschen daran hindern sollen, Schutz in Deutschland zu finden. Sie zeigen damit eine abwehrende Haltung gegenüber flüchtenden Menschen und rahmen Menschen auf der Flucht als Gefahr für die eigenen Interessen, das heißt für Stabilität und Sicherheit. Dass Flucht für diese Menschen eine lebensrettende Notwendigkeit bedeutet und dass das Recht, Asyl zu suchen, völkerrechtlich verbrieft ist, wird hingegen ausgeklammert. Darüber hinaus sendet dieser Deutungsrahmen ein fatales Signal an die Menschen, die in den letzten Jahren Schutz in Deutschland bekommen haben und am gesellschaftlichen Leben partizipieren wollen – teils mit großen Erfolg, zum Beispiel bei der Integration von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt. Ihnen wird signalisiert, dass ihre Aufnahme ein Fehler oder Ausrutscher war, den man nachträglich bereut.
Die Bildsprache, also Metaphern oder auch die Bebilderung in Zeitungen und Onlineportalen, verstärken häufig den negativen Deutungsrahmen bezüglich Migration. Wir kennen die Fotografien von verdreckten Menschen, deren Gesichter nicht deutlich gezeigt werden, von überfüllten Schlauchbooten auf dem Mittelmeer, von an Zäunen wartenden Menschen. Ein bekanntes und glücklicherweise mittlerweile auch vielfach kritisiertes Beispiel ist das metaphorische Bild von Geflüchteten als Menschenmasse, die einer Naturgewalt gleich an unsere Grenzen »strömen« und als »Flüchtlingswelle« über uns hinwegschwappen. Jegliche Bilder, die flüchtende Menschen als anonyme Masse zeigen, als hinter Zäunen eingesperrt, bedienen den Deutungsrahmen, Migration bedrohe den eigenen Wohlstand und die Sicherheit im Land. Demgegenüber findet die alltägliche Migration – beispielsweise von ausländischen Studierenden oder Arbeitnehmer_innen, die die Freizügigkeit in der EU nutzen – wenig Niederschlag in der öffentlichen Erzählung und Bebilderung von Migration. Dies mag mit dem geringen Nachrichtenwert alltäglichen Lebens erklärbar sein, blendet aber einen großen Teil des Migrationsgeschehens im öffentlichen Diskurs aus und trägt damit zur verzerrten Wahrnehmung gesellschaftlicher Wirklichkeit bei.
Angesichts der gegenwärtig dominierenden Migrationsnarrative sind aus progressiver Perspektive neue Erzählungen von Einwanderung und inklusivem Zusammenleben nötig. Die Kommunikationswissenschaft beschreibt »Narrative« als kollektiv wirksame Geschichten, die Sinnzusammenhänge stiften. Sie folgen einer erzählerischen Grundstruktur und beschreiben gesellschaftliche Veränderungen oder Ereignisse. Das zentrale Ziel einer neuen Migrationserzählung beschreibt die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan, die zu den ersten Fürsprecher_innen eines neuen und inklusiven Leitbilds zählte, im Jahr 2015 wie folgt: »Eine narrative Ausweitung der deutschen Identität hätte zur Folge, dass das Migrantische selbst zum konstitutiven Element des nationalen Narrativs und der deutschen Identität würde.« Die deutsche Identität ist diesem Gedanken nach eben nicht statisch, sondern veränderbar. Und die jahrzehntelange Einwanderung nach Deutschland hätte das Alltagsleben und damit das Deutschsein längst geprägt.
Auch die Friedrich-Ebert-Stiftung hat ein progressives Migrationsnarrativ entwickelt. Dafür hat eine divers besetzte Expert_innenkommission das Leitbild »Miteinander in Vielfalt« verfasst, das im Februar 2017 veröffentlich wurde. Unter dem Eindruck der polarisierten Diskussion über Flucht und Einwanderung seit dem Herbst 2015 berief die Friedrich-Ebert-Stiftung im Sommer 2016 eine Kommission aus 38 Expert_innen aus Politik, Verwaltung, Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Medien ein, die in einem gut halbjährigen Arbeitsprozess das Leitbild verfasste, den Weg zu diesem Leitbild erläuterte sowie eine Agenda mit Politikvorschlägen vorlegte, die sich aus dem Leitbild ableiten. Die zentralen Inhalte dieses Narrativs sowie die aus diesem Projekt in der Rückschau abzuleitenden Lehren werden im Folgenden dargestellt.
Der Vorschlag eines Leitbilds für die Einwanderungsgesellschaft antwortet auf die wiederholten Versuche von konservativer Seite, Debatten über eine deutsche Leitkultur anzustoßen. Auch wenn diese Versuche relativ geringe Resonanz erzielten und inhaltlich vage blieben, haben sie doch vor allem bei Bürger_innen mit Einwanderungsgeschichte als Abgrenzungsreflex Wunden geschlagen. Ein Leitbild ist im Gegensatz zur imaginierten Leitkultur nicht statisch, sondern flexibel, es ist nicht gesetzt, sondern entsteht, schließt nicht aus, sondern fordert zur Diskussion auf. Ein Leitbild besteht aus Vision, Mission und der Benennung gemeinsamer Werte und es mündet idealerweise in eine positive Botschaft, so wie im Fall der FES-Kommission die titelgebende Aussage »Miteinander in Vielfalt«.
Eine Erzählung beginnt mit der Realität
Die erste Erfahrung des damaligen Arbeitsprozesses lässt sich verallgemeinern: Eine Erzählung kann nicht normativ beginnen, sondern ausgehend von der gesellschaftlichen Realität. In der ersten Sitzung der erwähnten FES-Kommission gingen die Kommissionsmitglieder davon aus, dass das Grundgesetz und insbesondere die darin garantierten Grundrechte die Ausgangspunkte des Leitbilds sein werden. Im Laufe des Diskussionsprozesses veränderte sich diese Sichtweise. Damit sich das alltägliche Erleben in der Erzählung widerspiegelt, wurde die Normalität von Migration der erste Aspekt des Leitbilds. Dass Menschen selbstbestimmt ihren Lebens- und Arbeitsort wählen, dass sie als Reaktion auf Krieg, Gewalt oder Armut ihr Zuhause verlassen, ist im globalisierten 21. Jahrhundert schlicht Realität. Diese Tatsache, die jede und jeder im eigenen Leben bestätigt findet, bildet somit den Ausgangspunkt des progressiven Narrativs. Migration als gesellschaftlicher Normalfall ist als solche per se weder gut noch schlecht. Sie muss vielmehr als Konstante politisch gestaltet werden.
Benennen der gesellschaftlichen Herausforderungen
Vor diesem Hintergrund der Migration als Normalfall entwickelt sich das Leben der Menschen mit und der ohne Einwanderungsgeschichte hingegen sehr unterschiedlich. Nachweislich erleben viele eingewanderte Menschen Benachteiligungen, die zumindest der Mehrheit der nicht eingewanderten Bevölkerung nicht widerfahren. Strukturelle Benachteiligungen im Bildungssystem, auf dem Arbeitsmarkt (»migration pay gap«), auf dem Wohnungsmarkt und im Gesundheitswesen sind gut erforscht und vielfach nachgewiesen (vgl. die alle zwei Jahre erscheinenden Berichte der Bundesintegrationsbeauftragten). Hinzu kommen spezifische Herausforderungen für eingewanderte Menschen wie Sprachbarrieren und das fehlende kulturelle – und oft auch monetäre – Kapital. Einwanderung führt also zu Ungerechtigkeit in der Gesellschaft. Der zentrale Konflikt im Narrativ der Migration ist also die Diskriminierung der Eingewanderten, die deren gesellschaftliche Teilhabe unterwandert. Die Herausforderung ist, diese zu überwinden, nicht zuletzt im Sinne der bereits erwähnten Grundrechte des Grundgesetzes als der wichtigsten Basis für das Zusammenleben in Deutschland.
Den Lösungsweg aufzeigen
Der Weg zur Lösung dieses Konflikts ist die Teilhabe selbst. Dort, wo Menschen gemeinsam leben und die dabei entstehenden Konflikte lösen, entsteht das titelgebende »Miteinander in Vielfalt«. Dabei umfasst der Begriff »Vielfalt« weitaus mehr als nur die zwei Möglichkeiten, eine Einwanderungserfahrung gemacht zu haben oder eben nicht. Wie verschieden und damit vielfältig die Menschen in Deutschland sind, kann sich ebenfalls jede und jeder anhand eigener Erfahrungen vergegenwärtigen. Es gibt Unterschiede zwischen Regionen und Generationen, hinsichtlich Religionszugehörigkeit, sexueller Orientierung oder schlicht des selbstgewählten Lebensstils. Diese Vielfalt als solche anzuerkennen, heißt zu akzeptieren, dass es keine Norm gibt, statt Migration als Abweichung von einer gedachten Norm zu deuten Das impliziert zugleich, dass Identitäten sich wandeln können und dass Zugehörigkeit immer wieder neu entstehen kann – eben dann, wenn Menschen gemeinsam leben, arbeiten, Konflikte lösen und das Gemeinwesen gestalten.
Nicht idealisieren und nicht dramatisieren
Dass viele Menschen tagtäglich die Erfahrung machen, mit Menschen zusammenzuarbeiten und -zuleben, die in den gerade skizzierten Vielfaltsdimensionen anders sind als sie selbst, ist ein guter Ausgangspunkt für ein neues Narrativ. Dieses darf aber nicht den Eindruck erwecken, eine idealisierte, konfliktfreie Gesellschaft anzustreben, die es nie geben wird. Der Soziologe Aladin El-Mafaalani weist immer wieder auf das »Integrations-Paradox« hin, dass gelingende Teilhabe vieler Menschen zur Zunahme von Konflikten führen muss. Dies liegt auch daran, dass sich in den Debatten über Migration und Teilhabe auch soziale Konflikte abspielen, da gesellschaftliche Ressourcen neu verteilt werden. Aber trotz einer nachweislich vorhandenen Polarisierung und der seit Jahren anhaltenden Individualisierung ist das Zusammenleben an den meisten Orten und an den meisten Tagen in Deutschland eben nicht von permanenten Konflikten oder gar Gewalt geprägt. Daher treffen nicht die eingangs erwähnten defizitorientierten und dabei dramatisierenden Narrative die gesellschaftliche Realität, sondern das selbstverständliche Miteinander in Vielfalt.
Dieses hier kurz skizzierte Narrativ aus dem Leitbild-Prozess der Friedrich-Ebert-Stiftung entstand 2017. Daher bietet dieser Prozess zugleich die Möglichkeit, mit einigen Jahren Abstand darüber nachzudenken, wie sich ein Narrativ verbreitet oder eben nicht. Die unmittelbaren Reaktionen auf die Veröffentlichung des Leitbilds waren umfangreich. Es gab einerseits eine breite und durchaus kontroverse Presseberichterstattung (in Auszügen dokumentiert auf der Website des Vereins DeutschPlus). Andererseits fanden zahlreiche öffentliche Diskussionsforen zu den Inhalten von Leitbild und Agenda statt, nicht allein von der Friedrich-Ebert-Stiftung, sondern auch darüber hinaus, u.a. auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag 2017. Allerdings ebbte das mediale Interesse nach einigen Wochen wieder ab und eine nachhaltige Bekanntheit hat das Leitbild über Fachkreise hinaus nicht erreicht. Zwei Hauptgründe lassen sich dafür im Nachhinein identifizieren.
Erstens war die Verknüpfung des Leitbilds mit einer integrationspolitischen Agenda kommunikativ nicht klug. Der Gedanke erschien beim Projektstart zwar sinnvoll: Das Leitbild sollte direkt mit Politikvorschlägen zu seiner Realisierung unterfüttert werden, um damit den Anspruch deutlich zu machen, dass es kein kommunikatives Gedankenexperiment ist, sondern dass die Gesellschaft verändert werden soll. In der medialen Diskussion schließlich verschwand jedoch das Leitbild fast vollständig hinter den Politikvorschlägen, weil sich beispielsweise konservativ orientierte Medien lautstark über die Forderung nach dem kommunalen Wahlrecht für Nicht-EU-Ausländer_innen empörten. Um das Ziel zu erreichen, Migration neu zu beschreiben und ein anderes Denken darüber zu verbreiten, war die realpolitische Agenda mit großer Wahrscheinlichkeit kontraproduktiv. Klüger wäre es also gewesen, das Leitbild zu veröffentlichen und die erarbeiteten Politikvorschläge erst nach und nach als Impulse zur Umsetzung des Leitbilds in die Diskussion einzubringen. Gegebenenfalls hätte man sie nach einer ersten Phase der Diskussion über das Leitbild immer noch gesammelt veröffentlichen können – ergänzt durch die Ideen, die während des Diskussionsprozesses entstanden wären.
Dass ein inklusives Leitbild für die Einwanderungsgesellschaft in polarisierten Zeiten teilweise starke Kritik hervorruft, war 2017 erwartbar und wäre heute sicherlich nicht anders. Die Befürworter_innen eines progressiven Migrationsnarrativs sollten sich daher auf Kritik vorbereiten – das meiste ist den fachkundigen Beobachter_innen der Migrationsdebatte ohnehin vertraut – und Strategien erarbeiten, wie Kritik gekontert werden und damit die Diskurshoheit verteidigt werden kann. Außerdem ist es kommunikativ sinnvoll, die eigene Botschaft multimedial und für verschiedene Kommunikationskanäle aufzubereiten. Im Sinne des multi-level lobbyings braucht es neben dem Text auch Bilder und Videos sowie zusammenfassende Botschaften verschiedener Länge und Komplexität.
Der zweite Fehler war eine zu geringe Allianzbildung. Zwar war es der FES gelungen, viele kompetente Vertreter_innen aus relevanten Institutionen für die Kommission zu gewinnen. Allerdings haben sich die Institutionen dadurch das Leitbild nicht zu eigen gemacht, sondern »nur« die Kommissionsmitglieder. Ungleich aufwändiger, aber im Ergebnis vermutlich sinnvoller wäre es gewesen, einen Prozess zu organisieren, an dessen Ende zumindest einige der beteiligten Institutionen – wie beispielsweise der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), die Arbeiterwohlfahrt (AWO), die Türkische Gemeinde in Deutschland oder ProAsyl – hinter dem Leitbild stehen und dieses selbst nach innen und außen verbreiten. Die Zahl derjenigen, die das Leitbild aktiv kommuniziert haben, war im Falle der FES-Expert_innenkommission trotz des Engagements der Mitglieder zu gering und eine institutionelle Begleitung jenseits der FES hat gefehlt. Es ist selbstverständlich nicht unmöglich, als engagierte Einzelperson eine breite öffentliche Debatte anzustoßen – siehe Greta Thunberg, die allein mit ihrem Klima-Schulstreik eine neue Klimaschutzbewegung inspirierte –, aber es ist in der Praxis eher eine Ausnahme. Stattdessen empfehlen Kommunikationsberater_innen nicht umsonst gerade Non-Profit-Organisationen das multi-voicelobbying, damit die gleiche Botschaft von verschiedenen Absender_innen kommend möglichst viele Adressat_innen erreicht.
Ein progressives Migrationsnarrativ muss bei der alltäglichen Erfahrungswelt der Menschen ansetzen und eine wünschenswerte Vision ans Ende stellen. Nur so können dominierende Deutungsrahmen bezüglich Migration verdrängt werden. Fraglos verlaufen Reframing-Prozesse langfristig und es ist nahezu unmöglich, sie strategisch zu planen und umzusetzen. Dafür gibt es in einer pluralen Öffentlichkeit einer freien Gesellschaft – glücklicherweise – zu viele Akteurinnen und Akteure, die gleichzeitig kommunizieren.
Es wird nie das eine Leitbild geben, hinter dem sich alle Menschen in Deutschland versammeln. Die Frage, wie in weiten Teilen der Bevölkerung über Flucht, Migration und Integration gedacht wird, wird keine Regierungskommission und kein Projekt der Friedrich-Ebert-Stiftung effektiv beeinflussen. Diskursveränderung vollzieht sich schleichend und über lange Zeiträume. Im Sinne einer progressiven Narrativ-Agenda sind Reframing-Projekte wichtig, damit die progressive Erzählung über unsere Gesellschaft weitergeschrieben wird. In diesem Sinne ist jene Idee von 2015 nicht überholt: Eine von der Bundesregierung oder vom Bundestag eingesetzte Kommission könnte neuen, kräftigen Schwung in die Debatte um das gesellschaftliche Selbstverständnis bringen.
Für die Verankerung eines neuen Narrativs sind dabei Allianzen verschiedener Organisationen nötig, – also von Regierungen, Parteien, Akteur_innen aus Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft – sowie eine gemeinsame Kommunikationsstrategie. Daneben braucht es einen langen Atem, die progressive Erzählung von Migration und gerechten Teilhabemöglichkeiten für alle immer wieder zu wiederholen – so wie hier.
[1] Der in der Fachwelt umstrittene, aber im Verwaltungshandeln angewandte Begriff »Migrationshintergrund« umfasst alle Personen, die entweder selbst nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren sind oder deren Mutter oder/und Vater nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde. Diese Personengruppe umfasst rund ein Viertel der Bevölkerung Deutschlands. Hierzu gehören Ausländer_innen, (Spät-)Aussiedler_innen, eingebürgerte Personen sowie alle mit deutscher Staatsangehörigkeit geborenen Kinder von Eltern, die eines der genannten Kriterien erfüllen. Siehe dazu Statistisches Bundesamt (2021): Bevölkerung – Migration und Integration (aufgerufen am 19.8.2021).
Dr. Dietmar Molthagen
leitet seit Herbst 2018 das Julius-Leber-Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung in Hamburg, das ein umfangreiches politisches Bildungs- und Beratungsprogramm in Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein anbietet. Zuvor (2012 bis 2018) hat er die Arbeitsbereiche »Integration und Teilhabe«, »Religion und Politik« sowie die empirische Sozialforschung im Forum Berlin der Friedrich-Ebert-Stiftung verantwortet. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Integration und Teilhabe, Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus und Rechtspopulismus, Demokratie- und Partizipationsförderung sowie politische Kommunikation, die er als Lehrbeauftragter an der HWR Berlin unterrichtet. Zuletzt erschienen: Lasst uns reden! Wie Kommunikation in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gelingt.
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