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Wie die EU und ihre Mitgliedsstaaten zivile Seenotrettung behindern und die humanitäre Katastrophe im Mittelmeer verschlimmern
Das Mittelmeer ist ein Massengrab. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind seit 2014 mehr als 28.000 Menschen dort ertrunken oder gelten als vermisst. Es ist eine humanitäre Katastrophe vor den Toren Europas. An Bord des Rettungsschiffs von Ärzte ohne Grenzen, der Geo Barents, behandeln wir die physischen und psychischen Folgen – die menschlichen Kosten der EU-Migrationspolitik im zentralen Mittelmeer. Um dieser Krise, die sich nicht nur im Mittelmeer, sondern an der gesamten EU-Außengrenze abspielt, zu begegnen, setzen immer mehr europäische Staaten auf eine zynische Strategie: Mehr Abschottung, Abschreckung, Abschiebung und die Auslagerung von Asylverfahren in Nicht-EU-Staaten, um die Zahl der Menschen, die in Europa Schutz suchen, zu reduzieren. Die zivile Seenotrettung ist dabei zunehmend ein Dorn im Auge. Sie wird behindert, kriminalisiert und diffamiert. Die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) ist ein Baustein dieser Strategie. Sie wird die Rahmenbedingungen für die Seenotrettung verschlechtern
Staaten entziehen sich ihrer Verantwortung
Mit dem Ende der von Italien geführten Marineoperation Mare Nostrum 2014 haben die europäischen Staaten begonnen, ihre proaktive Seenotrettung im zentralen Mittelmeer schrittweise aufzugeben. Die europäisch unterstützte Operation hatte gezeigt, dass eine humanitäre Antwort auf das Sterben im Mittelmeer möglich ist. Seit ihrem Ende versuchen zivile Seenotrettungsorganisationen diese Rettungslücke zu schließen und appellieren an die Staaten, ihrer Verantwortung nachzukommen, nämlich: staatlich geführte, proaktive Such- und Rettungseinsätze mit Ausschiffung an einen sicheren Ort sowie bessere Koordination der Küstenstaaten und EU-Agenturen, die Informationen mit allen Beteiligten teilen. Dies alles immer mit dem Ziel, Menschenleben zu retten
Staaten versuchen Seenotrettung zu kriminalisieren
Neben dem Versuch der EU und ihren Mitgliedstaaten, die Verantwortung auf die Staaten, die südlich an das Mittelmeer grenzen, zu verlagern, wird gleichzeitig daran gearbeitet, den rechtlichen Rahmen für die zivile Seenotrettung zu verschärfen – sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene.
Italien hat in den letzten Jahren verschiedene Versuche unternommen, die Seenotrettungsorganisationen einzuschränken: öffentliche Diffamierungskampagnen, die Politik der geschlossenen Häfen, ausgedehnte Hafenstaatkontrolle, Gerichtsverfahren, Quarantänemaßnahmen im Rahmen der Covid19-Pandemie. Zu Beginn des Jahres hat die Regierung in Rom ein neues Gesetz verabschiedet, das die Arbeit der Seenotrettungsorganisationen auf See erheblich behindern wird. Mehr als zehn Festsetzungen von NGO-Schiffen hat das Gesetz 15/2023 bereits zur Folge gehabt. Laut Gesetz müssen NGO-Rettungsschiffe unmittelbar nach der Rettung Kurs auf den zugewiesenen Ausschiffungshafen nehmen. In der Praxis zwingt das Gesetz zivile Seenotretter_innen also, Seenotfälle zu ignorieren. Die Schiffe sind verpflichtet, sofort den zugewiesenen Hafen anzulaufen, nachdem sie gerettet haben – auch wenn nur eine einzige Person gerettet wurde. Dies hat zur Folge, dass sie andere Schiffe in Seenot nicht retten dürfen, unabhängig davon, ob sie noch über Rettungskapazitäten verfügen oder nicht. Eine Regelung, die eindeutig im Widerspruch zur Pflicht des Kapitäns zur Rettung von Menschen in Seenot steht. Durch die Praxis der italienischen Behörden, nach Rettungsaktionen weit entfernte Häfen in Norditalien für die Ausschiffung der Überlebenden zuzuweisen, wird das Gesetz noch verschärft. Um Überlebende an Land zu bringen, musste die Geo Barents im Oktober 1.160 Kilometer bis nach Genua in Norditalien zurücklegen. Im Jahr 2023 hätte Ärzte Ohne Grenzen bisher weitere 80 Tage auf See einsparen können, wenn das Schiff den nächstgelegenen sicheren Hafen in Sizilien hätte anlaufen können. Zeit, in der die Teams von Ärzte Ohne Grenzen in der Lage gewesen wäre, weitere Menschenleben zu retten.
In Deutschland hat das Bundesverkehrsministerium mit der Schiffssicherheitsverordnung versucht, die Arbeit von Organisationen einzuschränken – unter dem Vorwand, dass es notwendig sei, die Sicherheitsstandards für kleinere Schiffe zu erhöhen. Für viele Organisationen wäre die Einstellung ihrer humanitären Arbeit im Mittelmeer die Folge gewesen. Nach heftiger Kritik war der Entwurf vom Tisch. Derzeit wird er überarbeitet.
Und erst vorletzte Woche wurde bekannt, dass versteckt in einer Änderung des Aufenthaltsgesetzes die humanitäre Arbeit an den europäischen Außengrenzen und die Seenotrettung weiter kriminalisiert werden könnte. Mit dem Straftatbestand „Einschleusen von Ausländern“ soll das uneigennützige „Schleusen“ in einen anderen EU- oder Schengen-Staat unter Strafe gestellt werden. Eine Geldzahlung oder sonstige Gegenleistung für die Hilfeleistung wäre nicht erforderlich. Es würde ausreichen, dass wiederholt oder zugunsten mehrerer Ausländer gehandelt wird. Wie weit dies zum Nachteil von humanitären Akteuren und Menschen auf der Flucht ausgelegt würde, ist offen. Denkbar ist, dass bereits das Mitnehmen im Auto, das Kaufen einer Zugfahrkarte oder das Verteilen von Essen oder Wasser oder eben das Anlaufen italienischer Häfen mit aus Seenot geretteten Menschen den Tatbestand erfüllt. Letztlich werden dies die Gerichte klären müssen.
GEAS-Reform: Seenotrettung und Instrumentalisierung von Migration
Auch mit der GEAS-Reform haben Staaten Wege gefunden, die humanitäre Seenotrettung zu erschweren. Die Reform könnte neue Anreize schaffen, NGO-Schiffe zu blockieren und zivile Seenotrettung zu behindern oder gar zu kriminalisieren. Screening, Grenzverfahren und die Verlängerung der Dublin-Frist werden die EU-Staaten mit Außengrenzen noch stärker belasten und damit erst recht Anreize für Staaten wie Italien schaffen, Seenotrettungsorganisationen zu behindern, um weitere Ankünfte zu verhindern. Vielleicht hat Italien auch deshalb darauf bestanden, dass eine Klausel aus dem Ratsvorschlag zur Krisenverordnung gestrichen wird, die verhindern sollte, dass Seenotrettungseinsätze als „Instrumentalisierung der Migration“ gewertet werden können. Damit könnte den Organisationen vorgeworfen werden, wesentliche Funktionen des Staates, wie die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung oder den Schutz der nationalen Sicherheit, zu gefährden oder zu destabilisieren. In der Folge könnte die italienische Regierung Rettungsaktivitäten weiter einschränken und Gesetze und Maßnahmen verschärfen, die zivilgesellschaftliche Aktivitäten im zentralen Mittelmeer kriminalisieren.
Aber nicht nur durch die Reform des GEAS wird auf europäischer Ebene nach Wegen gesucht, die zivile Seenotrettung einzuschränken. Im Mai 2023 wurde ein Arbeitsplan mit dem Titel „Draft Roadmap towards a European Framework for Operational Cooperation on Search and Rescue in the Mediterranean Sea” geleakt. Der Plan zeigt, dass die Kommission und die Mitgliedsstaaten die Registrierung, Zertifizierung und Schiffssicherheitsanforderungen für private Schiffe harmonisieren wollen, was auch zivile Seenotrettungsschiffe betreffen würde. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen in den Mitgliedstaaten ist zu befürchten, dass die Harmonisierung als Vorwand für weitere Behinderungsversuche der Seenotrettungsorganisationen dienen wird.
Reaktion auf die humanitäre Katastrophe im Mittelmeer
Zusammengefasst lässt sich sagen: Europa ist Zeuge einer humanitären Katastrophe im Mittelmeer, die EU und ihre Mitgliedsstaaten verweigern sich ihrer Pflicht und lagern die Verantwortung an Staaten wie Libyen oder Tunesien aus. Akteure, die versuchen, Menschen aus Seenot zu retten und auf die Katastrophe aufmerksam zu machen, werden behindert, kriminalisiert und diffamiert. Eine humanitäre Antwort, um dem Sterben im Mittelmeer zu begegnen müsste folgende Punkte beinhalten:
Darüber hinaus sollten die EU und ihre Mitgliedstaaten die Abschreckungspolitik und die Auslagerung des Grenzschutzes beenden, die zu gewaltsamen Abriegelungen, Zwangsrückführungen und Zurückweisungen sowie zur Verweigerung von Grundrechten führen. Der Primat der Reduktion der Migration mit allen Mitteln muss beendet werden, denn es kostet Menschenleben.
Felix Braunsdorf ist politischer Referent in der Berlin Advocacy Unit von Ärzte ohne Grenzen Deutschland. Er arbeitet dort zu dem Themen Flucht und Vertreibung mit dem Fokus auf humanitärer Hilfe im Kontext der Migrationspolitik, Seenotrettung und europäischer Grenzpolitik. Zuvor hat er sieben Jahre für die Friedrich-Ebert-Stiftung als Referent für Migration und Entwicklung zu Fragen der entwicklungsorientierten Migrationspolitik und dem Globalen Pakt für Migration der Vereinten Nationen gearbeitet. Felix Braunsdorf ist studierter Politik-, Kommunikations-, und Verwaltungswissenschaftler.
Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen der Gastautor_innen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.
Die Auslagerung von Asylverfahren folgt der gleichen gescheiterten Abschreckungslogik – ein Umdenken ist nötig, so Felix Braunsdorf.
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