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Politische Akademie

Die Transformation Europas hinter Mauern: Ein Gespräch

Interview mit Frank Wolff, der mit Volker M. Heins in „Hinter Mauern“ über die Auswirkungen der Abschottungspolitik und Grenzgewalt auf unsere Gesellschaften und die Demokratie schreibt.


Wie Mauern und Grenzgewalt jene Gesellschaften verändern, die diese Grenzen errichten, damit beschäftigen sich der Politikwissenschaftler Volker M. Heins und der Historiker Frank Wolff in ihrem Buch Hinter Mauern: Geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene Gesellschaft (Suhrkamp 2023). Neben den oft monierten drastischen Auswirkungen der neuen Grenzregime auf Migrant_innen zeigen sie, wie die Abschottung durch undemokratische Grenzen die Demokratie selbst gefährdet. Eine Buchzusammenfassung finden Sie auch in unserer buch|essenz.

 

Ihr Kernargument, so verstehen wir es, ist es, dass die Abschottung, die Mauern und Zäune, die wir zur Abwehr (martialischer Ausdruck) von Migrant_innen errichten, eben durchaus einen negativen Effekt nach innen auf unsere, demokratischen Gesellschaften haben. So entsteht eine Gewöhnung an Gewalt und eine Akzeptanz von Menschenrechtverletzungen zur Abwehr von Migrant_innen.
 

Dass Sie den Begriff „Abwehr” zur Beschreibung von Grenzmauern als martialisch empfinden, ist durchaus passend. Das Martialische ist ihre Aufgabe. Sie werden nicht errichtet, um Dialog zu ermöglichen, um etwas dynamisch zu gestalten oder demokratisch auszuhandeln. Sie sollen Furcht einflößen und unilateral Macht ausüben. Das geben sie zumindest vor – und sie verstecken es zugleich. Und damit sind wir mitten im Problem. Die neuen Grenzmauern bestehen aus Draht, Stahl oder Wasser sowie in Form zunehmend restriktiver Regeln auch aus Papier und werden mit dem Ziel errichtet, die sogenannte „illegale Migration” einzudämmen. Das ist ein Euphemismus, denn gemeint ist: Menschen an der Ausübung ihres Rechts auf einen Asylantrag zu hindern.

Die neuen Mauern verhindern ja gerade die Feststellung, ob die die Grenze überquerende Person ein Recht auf Schutz hat oder nicht – also ob die Passage legitim und menschenrechtlich gar unbedingt geboten war. Laut den eher konservativen Zahlen der IOM sind an der Südgrenze Europas seit 2014 allein knapp 30.000 Menschen gestorben, bevor man diese Frage überhaupt stellen konnte. Das ist keine Naturkatastrophe. Das haben die EU und ihre Mitgliedsstaaten so errichtet. Es geht also nicht um die Zurückdrängung von etwas Illegalem, sondern um die gewalthafte Abwehr der physischen Ankunft ungewollter Menschen.

Dies geschieht in einer zunehmend militarisierten Form, weswegen viele Beobachter von den EU-Außengrenzen als rechtsfreie Zonen sprechen. Das ist allerdings nicht ganz der Fall. Vielmehr wird derzeit sehr viel neues Recht eingeführt, um diese Praxis abzusichern, das allerdings grundlegende Rechtsideen demokratischer Staatlichkeit hintergeht. Wir schlussfolgern im Buch daraus erstens, dass es gerade dieser vorgegebene Schutz der viel beschworenen europäischen Werte und der demokratischen Rechtsstaatlichkeit diese untergräbt. Das geschieht in zahlreichen subito-Maßnahmen und Normänderungen wie dem neuen GEAS. Selbst Migrationsforscher wie Ruud Koopmans, der linksliberalem Denken ja eher unverdächtig ist, gehen hier davon aus, dass diese drastische Rechtsänderung kaum Auswirkungen auf das Migrationsgeschehen haben wird. Wohl aber wird es für Leid und der öffentlichen Kontrolle entzogene Zonen sorgen, sowie massive Kosten verursachen.

Um das zu legitimieren, braucht es zweitens das, was wir als massive symbolische Anstrengungen beschreiben. Wir meinen damit den feststellbaren, längerfristigen Wandel des Diskurses, der das Denk- und Sagbare über Flucht und Migration aus dem Kontext von Schutzpflicht, Menschenrecht und der transparenten Kontrolle demokratisch eingehegter Sicherheitsapparate löst und in Beziehung zu Gefährdung von Staatlichkeit, Kontrollverlust und Unabdingbarkeit von staatlich sanktionierter Grenzgewalt stellt. Dieser Grenzdiskurs treibt die von Sozialwissenschaftler_innen immer wieder betonte gesellschaftliche Verrohung der gesellschaftlichen „Mitte” weiter voran, indem über die mit Grenzen verbundene Gefühlsmelange aus Sicherheitsbedürfnis, Furcht vor dem Fremden und die Hoffnung auf „Lösungen” durch Machtausübung demokratiefeindliche Denkmuster und Ideen des rechten Rands normalisiert werden. Hört man den Aktivist_innen in Schnellroda und Co zu, geht da gerade ein Plan auf.

 

Der Kontext der in Ihrem Buch anklingt, ist hier interessant: „Mauern sind Fantasien totaler Sicherheit in einer neoliberalen Welt schwindender Staatssouveränität in der das Leben der meisten immer prekärer wird.“ Könnten sie diesen Kontext einmal ausführen?
 

Die Philosophin Wendy Brown argumentiert in ihrem Buch über Mauern, dass diese in Zeiten schwindender Souveränität – also der zunehmenden demokratischen und rechtlichen Einhegung von Staatsgewalt – eine symbolische Ersatzfunktion einnehmen, indem hier Souveränität einer „älteren” Art sichtbar praktiziert werden kann. Dem Argument gehen wir nach und drehen es nach innen: Es ist nicht nur eine Souveränitätsausübung gegen ein Außen, sondern es hat Auswirkungen auf das Innere der mauerbauenden Staaten. Das heißt, die neuen Grenzmauern blicken in zwei Richtungen: Sie erlauben es, Zonen systematisierter Gewalt gegen ungewollte Ankommende einzurichten – und damit meinen wir keineswegs abstrakte Formen von Gewalt, sondern ganz konkret Hundebisse, Knochenbrüche, Erfrieren – und Ertrinken-Lassen.

Und zweitens richten sich Mauern an die Bevölkerung der mauerbauenden Staaten, indem sie einen Staat repräsentieren, der sich der lästigen Fesseln der Demokratie entledigt. Denn es ist ja nicht so, dass Souveränität per se abnahm. Sie hat sich gewandelt, indem die Staaten insbesondere im europäischen Einigungsprozess in souveränen Entscheidungen Macht abgaben, um nicht gegeneinander, sondern gemeinsam Frieden und Souveränität zu sichern. So wurde Staatlichkeit insbesondere in Europa zunehmend komplex und nach den Idealen von Machtkontrolle, Transparenz, Rule of Law und Internationalisierung gestaltet.

Mauern stehen für die gegenläufige Tendenz. Unbewusst einem rechten Drehbuch folgend, werden Grenzen zunehmend aus der Demokratie herausdividiert, als ihnen vorgelagert inszeniert und nach einem vereinfachten Souveränitätsbegriff geformt, der eher dem Schmittschen Dogma der Entscheidungsmacht über den Ausnahmezustand entspricht. Der Politikwissenschaftler Nicholas de Genova beschreibt es so: Die Grenzen werden durch ein aufgeführtes Grenzspektakel zu Zonen eines dauerhaften Ausnahmezustands umgedeutet, der Rechtsverschiebungen im Inneren zugleich ermöglicht und verschleiert.

Wir sprechen darum davon, dass Grenzen nach innen ausgreifen – sei es als Institutionen der Verständigung, wie die europäischen Binnengrenzen konzipiert wurden, oder als Repräsentanten autoritärer Hoffnungen, wie die neuen Mauern. Letztere stehen zwar für eine trügerische Souveränität, stellen diese aber an einem Ort sichtbar dar, wohingegen demokratische und rechtsstaatliche Souveränität sich auf viele Orte verteilt. Das Problem ist, dass ein nicht zu kleiner Anteil der Bevölkerung genau das möchte. Das darf man ja nicht vergessen, ein nicht gerade geringer Anteil der europäischen Wahlbevölkerungen stimmt gegen die liberale Demokratie, wünscht sich mehr Freiraum für Macht und Hass. Und die Normalisierung dieser Positionen geschieht insbesondere in einem zunehmend verrohten Migrations- und Grenzdiskurs.

Ein Beispiel für die damit verbundene Verschiebung: Während vor einigen Jahren das Dobrindsche Wort der „aggressiven Anti-Abschiebe-Industrie” noch zum Unwort des Jahres gewählt wurde, weil Anwäl_innen und Menschenrechtler_innen “bewusst die Bemühungen des Rechtsstaats sabotieren”, folgen die neuen europäische Asylregeln letztlich genau diesem Stigma. Sie setzen auf Lager, die in den letzten Jahren so gestaltet wurden, dass die darin befindlichen Personen, die nicht als inhaftiert beschrieben werden, deren Lebensrealität aber genau diese ist, dem Zugang zu Rechtsvertretung und Fürsorge entziehen, während Presse, NGOs und der Wissenschaft der Zutritt verwehrt bleibt.

Das entrechtet nicht nur Migrant_innen, sondern auch Anwält_innen, Fürsorger_innen und Wissenschaftler_innen. Aus Polen hören wir viele Berichte, bei denen Grenzanwohner_innen nicht mehr wissen, ob sie sich strafbar machen, wenn sie eine am Wegrand erfrierende Person im Auto mitnehmen oder nicht. Das alles, um Grenzen effektiver zu gestalten. Die Migrations- und Grenzforschung hingegen sagt recht einhellig: Die Gewalt ist real, die Kosten sind hoch, der Steuerungseffekt bestenfalls temporär begrenzt.

Dies führt bislang nicht zur Überlegung, ob man mit dem Motiv der Grenzsicherung durch Gewalt und Abwehr nicht einen grundlegend falschen Weg eingeschlagen habe. Im Gegensatz, wir sehen die stete Intensivierung dieser Versuche. Auf der einen Seite ist das ein Zeichen enormer Ideenlosigkeit. Auf der anderen Seite beschreiben wir dies im Buch als das „erfolgreiche Scheitern” der Grenzmauern. Sie erreichen das benannte Ziel nicht und werden gerade deswegen immer mehr zum Darstellungsraum (supra-)staatlicher Souveränität. Dabei setzt die EU in Frontex und Drittstaaten immer mehr auf Akteure, die der öffentlichen Kontrolle durch Parlament und Presse weitgehend entzogen sind.

Auf die Frage des Souveränitätstheaters an den Grenzen zurückkommend, macht das sie gerade so attraktiv. Hier können Stärke, Macht und Autoritarismus – ja auch Menschenverachtung – in einer Art demonstriert werden, wie sie innerhalb der europäischen Gesellschaften und gegen ihre ansässige Bevölkerung vollkommen unakzeptabel wären. Das stärkt letztlich aber nicht die dargestellte Staatsgewalt, sondern befördert ihre Schwächung. Denn während die Menschenrechte und nationale und europäische Rechtsstaatlichkeit von den Grenzen her zunehmend ausgehöhlt werden, nehmen die Migrationszahlen mit jedem neuen Mauerteil bestenfalls kurzfristig ab, bevor sie sich durch verlagerte Wege oder neue Praktiken bei erhöhten Kosten für Migranten und Abwehr wieder einpendeln – und damit die Forderung nach neuen, schärferen „Sicherungsmaßnahmen” laut wird.

 

Sie schreiben, dass sich die Konflikte um Migration und Grenzregime in Europa vor dem Hintergrund des europäischen Einigungsprozesses entfalten. Die Europäische Kommission hat den Schutz unserer europäischen Lebensweise ins Zentrum gestellt, ideell aber auch administrativ, und hat das Motiv der starken Grenzen mit einem Neustart in Sachen Migration verbunden. Migration soll den Zusammenhalt von den Mitgliedsstaaten und Schengen nicht bedrohen. Staaten halten zusammen, die für Abschottung stehen. Ideen der Abkommen mit Drittländern für exterritoriale Asylverfahren werden sogar hierzulande in Erwägung gezogen. Sogar liberalere Parteien hierzulande sind mittlerweile im zweiten Lager der Befürworter stärkerer Grenzkontrollen und Abschottung.

Welche Rolle spielt die EU in der Akzeptanz von abschottenden Maßnahmen im öffentlichen Diskurs? Und wie spielt hier die von Ihnen beschriebene Ambivalenz der Entstehungsgeschichte der EU hinein, also einerseits das Friedensprojekt, das den Nationalstaat überwindet, der in die Katastrophen geführt hatte; und das koloniale und rassistische Erbe der EU andererseits, das kaum oder gar nicht Berücksichtigung in dem Narrativ der EU findet, aber eine gewisse Pfadabhängigkeit vermuten lässt?
 

Diesen Komplex reißen wir im Buch an und jetzt verfolgen wir ihn in der laufenden Forschungsgruppe am Zentrum für interdisziplinäre Forschung an der Universität Bielefeld mit ca. 30 internationalen Kolleg_innen. Das ist also erstens eine große und zweitens eine noch weitgehend offene Frage. Aber zwei Aspekte können wir schon festhalten. Beide setzen daran an, wie revolutionär das europäische Projekt aus Sicht der Grenzforschung eigentlich ist. Man muss sich das immer wieder vor Augen führen: In den vorhergehenden knapp zwei Jahrhunderten moderner Staatlichkeit sollten Staatsgrenzen – in allerlei Form und Art – Frieden sichern, indem sie als Bollwerke gegen das Dahinter befestigt und erhöht wurden. Das Ergebnis war allerdings nicht Sicherheit und Frieden, sondern Aggression und Angst.

Die europäischen Gründer_innen setzten darum auf die geniale Idee, Frieden dadurch zu sichern, dass man Grenzen unter vormaligen Feinden abbaut. Man müsse Kompetenzen, Souveränität, Wirtschaft und Erfahrungen miteinander teilen, um Frieden zu gewinnen. Das mündete in großartigen Ideen wie der Zollunion, dem gemeinsamen Wirtschaftsraum und natürlich dem Schengen-Raum, der der europäischen Bevölkerung das Recht auf keine Kontrollen an den Binnengrenzen gegeben hat.

Das führt uns zum ersten problematischen Aspekt: Es war nur halb gedacht. Die ganze revolutionäre Kreativität richtete sich auf den europäischen Binnenraum, während die Frage der dadurch entstehenden Außengrenzen stiefmütterlich behandelt wurde. Das lag auch daran, dass zumindest nach Osten die kommunistischen Staaten mit brutalen Methoden für die Migrationsregulierung sorgten und dass sich in Europa das Asylsystem auch erst langsam entwickelte – und zwar explizit als ein Teil einer liberalen und dem Autoritären des Kommunismus entgegengesetzten Menschenrechtspolitik.

Als dann die Etablierung des Schengen-Raums mit der postkommunistischen Transformationsphase und dem neoliberalen Wandel zusammenfiel, vermengte sich vieles. Es entstand die Wahrnehmung, dass das europäische Projekt mit gemeinsamem Binnenraum, Währungsprojekt und Verfassungsprozess auf einen Abschluss zusteuere, Europa also aus der Adoleszenz heraustrete, wie man damals sagte. Dabei blieb vieles offen. Für uns ist dabei zum einen bedeutend, wer die den Bevölkerungen zugestandenen Rechte sichert, wenn die Staaten selbst an ihnen rütteln. Da muss man gar nicht nach Ungarn blicken, wo es am deutlichsten ist. Der EUGH hat eindeutig erklärt, dass Migration keinen Ausnahmezustand darstellt, der eine mehrfache Verlängerung der Grenzkontrollen über sechs Monate hinaus rechtfertigt. Die Bundesregierung zeigt sich davon seit Jahren unbeeindruckt.

Zum anderen blieb die Gestaltung der Außengrenzen visionslos. Als beträfen sie nicht auch Europa, griff man hier letztlich auf alte Denkmuster zurück – die von den alten Nationalstaaten her bekannte Erhöhung der Grenzen zur Abwehr des Dahinter, also genau das Modell, das die europäische Einigung überkommen wollte. Das fällt uns jetzt auf die Füße. Denn diese Grenzen haben immer viel versprochen und wenig gehalten. Diese Visionslosigkeit der Außengrenzgestaltung macht sie allerdings nicht unwichtiger, denn das haben die Rechten erkannt und das ist ihr Hebel. Wir sind nun in einer Situation angekommen, in der die liberalen Akteure sich darauf beschränken, das Bestehende durch Abschottung zu verteidigen und dabei übersehen, dass gerade dies dem Bestehenden widerspricht. Die Linke wiederum hat keine nennenswerte Europa-Vision entwickelt, während die rechten Akteure zunehmend darauf setzen, den angeblichen Kontrollverlust an den Grenzen zu skandalisieren, um Europa ihren Vorstellungen nach von innen her zu verändern.

Damit gewinnt ein zweites Thema an Bedeutung, das wie ein unsichtbarer Geist durch die Köpfe und Korridore huscht: Die koloniale Vergangenheit. Wir vergessen gerne, dass das eben auch von mir besungene frühe Europa von knallharten Kolonialstaaten gestaltet wurde. Belgien und Frankreich waren noch aktive Kolonialmächte, das bald dazustoßende Vereinigte Königreich ebenfalls. Diese sahen ihre Imperien zerfallen, waren aber keineswegs zur Preisgabe bereit, während die bereits vergangenen Kolonialmächte wie Deutschland und Italien sich weder mit der eigenen koloniale Vergangenheit noch den gegenwärtigen kolonialen Subjekten ihrer europäischen Partnerstaaten beschäftigen wollten. Im Buch blicken wir hier insbesondere auf den Fall Algeriens. An diesem zeigt sich, wie das sich einende Europa jenen Mittelmeerraum, den Fernand Braudel in seinem historischen Meisterwerk gerade als alten Kultur- und Wirtschaftsraum beschrieben hatte, mit einer neuen harten Grenze durchzog. Diese entsprach anfangs nicht einmal den Staaten, da Algerien offiziell keine Kolonie, sondern ein Departement der Republik Frankreich war. Das politische Europa erfand sich als ein weißes Projekt, das von Beginn an insbesondere Muslime ausschloss.

Wenn wir Europa neu denken wollen, heißt das auch, diese koloniale Verankerung des europäischen Projekts zu reflektieren. Erstens müssen wir kritisch auf die EU-Außenpolitik blicken, die in zunehmendem Maße mit Diktatoren und Autokratien kooperiert, um z.B. Wirtschaftsförderung an „Migrationsabkommen” zu binden. In vor Ort oft als koloniales Gebahren beschriebener Art dienen diese nicht dazu, Migration zu steuern. Die afrikanischen Staaten sollen europäischen Interessen folgend bereits innerafrikanische Migration unterbinden. Da viele diese Staaten zugleich Flucht produzieren, wird hier nicht nur das – gerade in der deutschen Zeitgeschichte so bedeutsame – Menschenrecht auf Ausreise aus dem eigenen Staat weggewischt, als seien dies notwendige Kollateralschäden. Entsprechend müssen wir danach fragen, warum dies öffentlich akzeptabel ist. Was bedeutet diese unbearbeitete koloniale Vergangenheit des europäischen Projekts im Umgang mit Menschen? Inwiefern liegt dem so genannten Neustart in Sachen Migration nicht ein Vorgang zugrunde, in dem der alte Wein von Zivilisationsfähigkeit, kultureller Kompatibilität und dem Wert von Menschen in neue Schläuche gegossen wird, die jetzt eben nicht mehr mit „Rasse”, sondern mit „Kultur” beschriftet sind. Denn offenkundig ist es für die EU und die europäischen Bevölkerungen tolerabel, dass man an der Südgrenze die tödlichste Grenze der Welt errichtet hat.

Wenn Europa sich zugleich als Menschenrechtsprojekt feiert und Seenotrettung kriminalisiert, scheint hier ein geteilter Menschheitsbegriff zum Tragen zu kommen. Wir brauchen darum eine kritische öffentliche Auseinandersetzung mit dem kolonialen Ballast, der Europa nicht nur in Denkmälern und Straßennamen prägt, sondern in tiefsitzenden, oft unreflektiert tradierten Wissensbeständen.

 

Etwas abseits des Buchs: Integration sollte schließlich darin münden, dass Migrant_innen, die arbeiten und Steuern bezahlen auch gleichberechtigte politische Teilhabe genießen.

Würde der politische Diskurs progressiver werden, wenn mehr Menschen mit Migrationsgeschichte am politischen Prozess teilhaben? Was wäre zu tun? Wird die zunehmende Notwendigkeit Fachkräfte/Arbeitskräfte zu einer Veränderung der Diskurslandschaft führen?
 

Das hört man häufiger so, aber ich wäre da skeptisch. Es ist keineswegs so, dass Wähler_innen mit Migrationshintergrund per se progressiver stimmen. Sie sind wohl aufmerksamer, was Xenophobie angeht, aber daraus lässt sich kein quasi-natürlicher Hang zu progressiver Politik ableiten. Was andere Politikfelder angeht, ist oft eher das Gegenteil der Fall. Auch sollte man keine trans-migrantische Solidarität annehmen. Dafür sind die deutsche bzw. die europäischen Migrationsgesellschaften viel zu heterogen. Was zu tun wäre, ist auch hier so schlicht wie kompliziert, eine attraktive Politik anzubieten, die die innergesellschaftlichen Probleme angeht wie die wachsende soziale Schere, die Normalisierung der extremen Rechten, die Überlastung im Bildungs- und Sozialwesen.

Letzteres führt uns zumindest teilweise zum oft beschworenen Facharbeiter_innenmangel zurück. Doch auch da sollte man die Hoffnungen auf Migration mäßigen. Kenner wie Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung betonen immer wieder, dass Fachkräfteeinwanderung und Integration von Flüchtlingen zwei sehr unterschiedliche Dinge sind, die einen längerfristigen und unterschiedlich intensiven Einsatz von Investitionen voraussetzen, bevor Einwanderung sich überhaupt wirtschaftlich auswirkt. Hier braucht es Konstanz und Kulanz.

Zudem denke ich nicht, dass ein wirtschaftlicher Bedarf an Zuwanderung von selbst politische Forderungen nach Abschottung einschränken wird. Vielmehr können wir beobachten, wie in der Außenpolitik und den Gesetzgebungsverfahren beide Dinge miteinander verknüpft werden. Ein paar Visaversprechen hier, Ausweitung der Grenzkontrollen da. Oder hier ein paar wirtschaftsfreundliche Zuwanderungsregeln, dafür da die Einführung von Lagerzwang und die Aufrüstung intransparenter Grenzschützer. Visastempel und Stacheldraht widersprechen sich nicht. Auch Meloni hat ein Einwanderungsprogramm entwickelt, das in keiner Weise ihren Angriff auf die Menschenrechte auf dem Mittelmeer unterminiert. Wenn wir etwas am Grenzdiskurs ändern wollen, weil wir hier eine Hebelwirkung zulasten der Demokratie erkennen, dann müssen wir über diese Gefährdung der Demokratie selbst sprechen.

 

Wie glauben Sie kann man den restriktiven, auf Abschottung und Reduzierung von Zahlen fokussierten Diskurs brechen? Praktisch und als Politikempfehlung.
 

Ich sehe mich nur bedingt in der Position, konkrete Empfehlungen zu formulieren. Ideen in Maßnahmen zu übersetzen und diese dann zu erläutern und zu vermitteln ist das Kerngeschäft professioneller Politiker_innen und dem möchte ich als Wissenschaftler nicht ins Handwerk pfuschen. Mein Metier sind die vorgelagerten Wahrnehmungen und Ideen. Und was diese angeht, würde ich betonen: Des Pudels Kern ist die Darstellung von Migration als Problem. Das hat zwei Konsequenzen: Erstens verschleiert es, dass Migration keine „Krise”, sondern der „Normalzustand” moderner Gesellschaften ist. Zweitens suggeriert es, dass man hier zu einer „Lösung” kommen könne und müsse. Diese Hoffnung auf „Lösungen” geht mit der Akzeptanz härterer Maßnahmen einher. Das ist ja auch durchaus verständlich, denn manchmal muss man vielleicht etwas härter zupacken, wenn dann das Problem wirklich aus der Welt ist.

Aber wenn Flucht und Migration den Normalzustand darstellen, wie es Migrationsforscher wie Klaus Jürgen Bade seit Jahrzehnten betonen, dann kann man das nicht “lösen”. Dann muss man es dauerhaft und demokratiekonform gestalten. Das heißt umzudenken. Will man eine längerfristig wirksame Grenzgestaltung und Migrationspolitik, kann man sie nur politisch und demokratisch unter Einbindung aller Akteure aushandeln, anstelle sie intransparenten und für einen laxen Umgang mit Grund- und Menschenrechten bekannten Apparaten wie Frontex oder Lagerverwaltungen – ganz zu schweigen von Drittstaaten – zu überantworten.

Ganz naheliegend würde ich mir darum drei ganz konkrete Dinge wünschen: Erstens müssen wir uns ehrlich vor Augen führen, dass Grenzen und Migration nur als Teil unserer Gesellschaft zu verstehen sind und nicht als das andere, das Außen liegende. Jeder Rechtsbruch an den Grenzen ist ein Vergehen gegen die europäische Rechtsordnung. Das gilt umso mehr, wenn diese von Staaten begangen werden. Rechtsbrüche an den Grenzen müssen darum aktiv verfolgt werden, was schlicht nicht stattfindet. Es braucht eine pro-aktive europäische Ermittlungstätigkeit und eine durchsetzungsfähige Strafverfolgung zur demokratischen Einhegung des Grenzschutzes. Nicht die Seenotrettung, sondern Pushbacks müssen strafverfolgt oder die Auslagerung von Grenzgewalt an dritte, dem europäischen Normen entzogene Akteure wie den Grenzschutzeinheiten nordafrikanischer Staaten gestoppt werden, um die europäische Rechtsordnung zu schützen.

Dies bedeutet zweitens, die Suche nach Gestaltungsmöglichkeiten von Migration nicht immer mehr auf Grenzen zu verengen. Grenzen sind für vieles geeignet und sinnvoll, aber nicht für die Migrationsregulation. Das heißt zum Beispiel, die Verwaltungen von der europäischen Ebene bis in die Kommunen so auszubilden und auszustatten, dass sie mit Migration als ein fluktuierendes, aber dauerhaft präsentes Thema adäquat umgehen können. Denn wir sagen in dem Buch nicht, dass Migrationspolitik schlechthin zum Scheitern verurteilt ist. Wir sagen, dass die Verlagerung der Regulierungsbemühungen an die europäischen Grenzen das höchst bedeutsame Thema der Migration gerade dem politischen Raum unserer Demokratien entzieht und damit diesen auf sehr folgenreiche Art schwächt.

Eine Grundlage dafür wäre drittens eine überlegtere Rede über Migration, eine Berichterstattung die nicht die politischen Slogans von „Problem” und „Krise” reproduziert und damit die Existenz einer „Lösung” suggeriert, sondern die die Bedingungen dieser Krisenwahrnehmung hinterfragt. Diese liegen in unserer Gesellschaft selbst. Auf diese Misslagen zu blicken, anstelle zu hoffen, mit der Skandalisierung von Migration und falschen Sicherheitsversprechen Publikum oder Wähler_innen abzufangen, wären zentrale Merkmale eines tatsächlich gefahrenbewussten Auftretens von Medien und Politik. Prominente Beobachter wie der Grüne Europaparlamentarier Erik Marquardt oder der Oxforder Migrationsforscher Rob McNeil haben dahingehend mal “Make migration boring again” gefordert. Mein Co-Autor und ich, wir wären sehr erfreut darüber, wenn unser Buch gegenstandslos würde.

 

Die Fragen stellten Hannah Newbery und Alexander Rosenplänter.
 


Über Frank Wolff

Frank Wolff ist Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Osnabrück und Mitglied des dortigen Instituts für Migrationsforschung und interkulturelle Studien. Derzeit co-leitet er die Forschungsgruppe “Internalizing Borders: The Social and Normative Consequences of the European Border Regime” am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld. Das geführte Gespräch enstand im Rahmen seiner Tätigkeit am ZiF.

Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen der Gastautor_innen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.


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