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von Dominik Bernhofer
Mit der Corona-Krise kehrt die Verteilungsfrage zurück ins Zentrum der Steuerpolitik – auch und gerade auf Ebene der Europäischen Union. Progressive Steuerpolitik wird dadurch nicht nur einfacher durchzusetzen, sondern auch notwendiger. Um die perspektivisch anstehenden Budgetkonsolidierungen wachstumsfreundlich und gerecht zu gestalten, braucht es weitere steuerpolitische Fortschritte auf EU-Ebene. Zentral ist ein gemeinsamer Mindeststeuersatz für Unternehmensgewinne. Richtig ausgestaltet wirkt er nicht nur gegen die Steuertricks der Konzerne, sondern auch gegen den systematischen Steuerwettbewerb der Mitgliedstaaten, dem zentralen steuerpolitischen Dilemma der Europäischen Union.
Das Elend des Steuerwettbewerbs
Die Steuerpolitik in der EU gründet auf einem fundamentalen und bislang ungelösten Dilemma: dem Spannungsverhältnis zwischen einem gemeinsamen Binnenmarkt und 27 unterschiedlichen Steuersystemen. Der Binnenmarkt garantiert den freien Kapitalverkehr und fördert grenzüberschreitende wirtschaftliche Aktivitäten. Diese bringen die nationalen Steuerverwaltungen aber immer stärker in die Defensive. Nicht nur weil die Verwaltung immer komplexer und anfälliger für (legale und illegale) Tricksereien wird, sondern auch weil die Steuerpolitik in einen organisierten Steuerwettbewerb getrieben wird, der die steuerpolitische Souveränität der Mitgliedstaaten systematisch untergräbt und jede progressive (steuerpolitische) Agenda schon im Keim erstickt.
Die Mainstream-Politik, z. B. in Gestalt des Rats für Wirtschaft und Finanzen (Ecofin), problematisierte und bekämpfte den Steuerwettbewerb bislang nur, falls er Steuerausländer_innen gegenüber Steuerinländer_innen bevorzugte, also präferenziell wirkte. Den generalisierten Steuerwettbewerb über sinkende Steuersätze oder andere allgemeine Begünstigungen hingegen sah diese Politik als unschädlich an. Häufig war daher vom schlechten (präferenziellen) und vom guten (generalisierten) Steuerwettbewerb die Rede. Ein Mantra, dass es dringend und fundamental zu hinterfragen gilt, nicht nur, weil es beim Steuerwettbewerb immer weniger um reale Investitionen und immer mehr um die Förderung von Phantominvestments und Buchgewinnen geht, sondern vor allem auch wegen der Kosten dieses Steuerwettbewerbs, die laut IWF sogar über den Summen liegen, die mit den Konzernsteuertricks erzielt werden.
Fortschritte und Niederlagen im Kampf für mehr Steuergerechtigkeit
Dass die steuerpolitische Zukunft der EU und der Welt nicht in mehr, sondern nur in weniger Steuerwettbewerb liegen kann, ist inzwischen auch einem breiten Teil des ökonomischen, politischen und medialen Mainstreams bewusst geworden. Ein wesentlicher Impuls waren die leeren Kassen infolge der Finanzkrise 2008/09 und die Aufdeckung prominenter Steuerskandale von Apple über Lux-Leaks bis hin zu den Panama Papers, die bei der großen Mehrzahl ehrlicher Steuerzahler_innen und Wähler_innen erhebliche Empörung auslösten. Die einzig wirksame Strategie gegen den Steuerwettbewerb in Europa ist die Kooperation der Mitgliedstaaten auf EU-Ebene, also die Teilung ihrer Souveränität im Rahmen einer progressiven EU-Steuerpolitik. Die vergangenen Jahre haben hier einige Fortschritte gebracht, vor allem in puncto Transparenz.
Der Erfolg von Apple/Irland vor dem Gericht der Europäischen Union (EuG) Mitte 2020 legt freilich die Achillesferse dieser Strategie offen: Im bestehenden System ist immer weniger zu machen, und eine Änderung des bestehenden Systems scheitert am Einstimmigkeitserfordernis im Ecofin, das von einigen kleinen EU-Staaten, die vom Steuerwettbewerb profitieren, zur Blockade missbraucht wird. Die (schrittweise) Abschaffung dieser Einstimmigkeit – wie von der EU-Kommission 2019 auch vorgeschlagen – ist die logische Folgerung daraus. Da die Abschaffung aber wieder der Einstimmigkeit bedarf, ist es wenig verwunderlich, dass sie bislang noch nicht beschlossen wurde. Ein möglicher Köder wären (befristete) Strukturhilfen für die europäischen Steuersümpfe, die es ihnen ermöglichen würden, ihr Wirtschaftsmodell auf nachhaltige Beine zu stellen. Viel Bewegung ist aber auch damit nicht zu erwarten. Deutlich vielversprechender ist daher das Erfolgsmodell der Finanzkrise: externer Druck. Weitere Steuerskandale, leere Kassen und internationale Vereinbarungen über die G20 sind auch weiterhin die größte Hoffnung für eine progressive EU-Steuerpolitik.
Die stärkste Perspektive momentan bieten die Verhandlungen über eine Reform der internationalen Unternehmensbesteuerung auf Ebene der OECD, wo es um die Reform der internationalen Gewinnzuteilungsregeln (Säule 1) und die Einführung eines globalen Mindeststeuersatzes (Säule 2) geht. Covid-19 verzögert zwar die Verhandlungen, erhöht aber den Druck der Regierungen, hier budgetäre Mehreinnahmen zu erzielen. Die OECD schätzt das Potenzial auf bis zu 100 Milliarden US-Dollar.
Sieben steuerpolitische Prioritäten aus gewerkschaftlicher Sicht
Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft operiert unter enorm herausfordernden Bedingungen, diese bieten aber auch Ansatzpunkte für eine progressive Agenda. Corona-bedingt stehen alle Mitgliedstaaten vor einem enormen Konsolidierungserfordernis. Sie alle haben ein Interesse daran, diese Konsolidierung sozial gerecht und möglichst wachstumsfreundlich zu gestalten. Eine EU-Agenda gegen Steuertricks und Steuerwettbewerb bietet sich hier geradezu an. Sie ermöglicht es den Regierungen, zusätzliche Einnahmen zu erzielen, ohne dass die große Masse der Betriebe zusätzlichen Belastungen ausgesetzt ist. Auch bei den Ökosteuern braucht es Fortschritte. Hier geht es aber nicht um eine zusätzliche Krisenfinanzierung, sondern darum, den Übergang zu einem nachhaltigen Wachstumsmodell zu unterstützen. Ökosteuern eignen sich nicht zur Geldbeschaffung. Aus gewerkschaftlicher Sicht lassen sich die folgenden sieben Prioritäten definieren:
1.) Mehr Transparenz: Transparenz ist der Treibstoff, der den öffentlichen Druck aufrecht hält. Hier braucht es weitere Impulse. Der nächste notwendige Schritt ist die öffentliche länderbezogene Berichterstattung über Wertschöpfung, Gewinne und Steuern der Konzerne (Public-Country-by-Country-Reporting, pCbCR). Die letzte Abstimmung darüber ist nur knapp gescheitert. Hier sollte ein neuer Anlauf gemacht werden.
2.) Keine weiteren Gewinnsteuersenkungen: Vor Covid-19 standen wir vor einer neuen Welle an Körperschaftsteuersenkungen. Auch wenn viele Senkungspläne von den nationalen Regierungen ohnehin auf die lange Bank geschoben werden, sollte im Ecofin ein entsprechendes Moratorium beschlossen werden. Das nimmt Druck heraus. Konjunkturpolitische Maßnahmen wie attraktivere Abschreibungsregelungen sollten weiterhin zulässig bleiben.
3.) Aktives Engagement im OECD-Prozess, Fokus auf Säule 2 (Mindeststeuersatz): Auch wenn die USA mit den Säbeln rasseln, die Verhandlungen zur Unternehmenssteuerreform auf OECD-Ebene bleiben derzeit die größte Hoffnung im Kampf gegen den Steuerwettbewerb. Die Priorität der EU-Länder sollte auf der Umsetzung eines wirksamen, globalen Mindeststeuersatzes liegen. Die Wirksamkeit hängt an einer Fülle technischer Punkte. So ist es beispielsweise zentral, dass der Mindeststeuersatz nicht auf Ebene des Gesamtkonzerns zu erreichen ist, so wie das von den Lobbyist_innen der Unternehmen gefordert wird, sondern auf Ebene der Konzernteile pro Land. Eine Abrechnung auf Ebene des Gesamtkonzerns (global blending) würde den Mindeststeuersatz faktisch aushebeln, weil die Niedrigbesteuerung in Steuersümpfen mit der Normalbesteuerung in anderen Ländern ausgeglichen werden könnte. Für die Wirksamkeit sind solche technischen „Details“ wichtiger als die Höhe der Mindeststeuer. Ein effektiver Steuersatz mit 12,5 Prozent ist wichtiger als ein Marketing-Gag mit 20 Prozent. Damit der Mindeststeuersatz auch innerhalb der EU wirksam werden kann, was essenziell ist, muss auch über die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Niederlassungsfreiheit geredet werden. Diese ist derart liberal, dass der Mindeststeuersatz innerhalb der EU wohl nur bei „völlig künstlichen“ Konzernstrukturen greifen könnte, weil der EuGH sonst die Niederlassungsfreiheit bedroht sähe. Eine demokratiepolitisch heikle Frage, aber eine Debatte, die geführt werden muss.
4.) Plan B (wenn die OECD-Gespräche scheitern): Niemand will es, aber möglich ist es. Für den Fall, dass die OECD-Gespräche scheitern, sollte die EU die, von der Kommission 2018 vorgeschlagene, Digitalsteuer und den Mindeststeuersatz der OECD „unilateral“ einführen. Sollte keine Einstimmigkeit erreichbar sein, bleibt immer noch das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit oder die Möglichkeit einer „Rahmenrichtlinie“, die gemeinsame Standards für jene Länder definiert, die die Digitalsteuer und den Mindeststeuersatz national einführen wollen. Ein Flickenteppich aus nationalen Regelungen sollte nach Möglichkeit vermieden werden, davon hat niemand etwas.
5.) Eigenmittel: Die Finanzierung der EU soll in Zukunft auch über EU-weite Steuern erfolgen. Die Beschlüsse vom Juli 2020 sind zwar relativ vage geblieben, gehen aber in die richtige Richtung. Plastiksteuer, CO2-Grenzausgleich und Ausweitung des Emissionshandels sind relativ unstrittig. Die Digitalsteuer sollte nur dann eine Option sein, wenn die OECD-Gespräche scheitern (siehe Plan B). Dass die Finanztransaktionssteuer im Spiel bleibt, ist positiv, sie darf aber nicht auf eine reine Aktiensteuer reduziert werden. Die Überlegungen für eine Liefersteuer für Großkonzerne (Binnenmarktsteuer) sollten nicht verworfen, sondern vertieft werden – bislang sind nur Überschriften bekannt. Gerade die Nettozahler unter den Mitgliedstaaten sollten ein Interesse an neuen/zusätzlichen Einnahmequellen haben, weil ansonsten die Mitgliedsbeiträge ab 2028 (wegen der Rückzahlung der Corona-Hilfen) empfindlich steigen werden.
6.) Wirksame Aktionen gegen den Karussellbetrug: Der Umsatzsteuer-Karussellbetrug ist der größte, ungelöste Brocken der internationalen Steuerkriminalität. Beliebige Waren werden (grenzüberschreitend) im Kreis gehandelt, wobei dann einer der Händler vom Markt verschwindet und die von den Kund_innen kassierte Umsatzsteuer nicht abführt. Bis die Behörden etwas merken, ist es meist schon zu spät. Obwohl das Problem mit einem geschätzten Steuerausfall von 50–60 Milliarden Euro pro Jahr ähnliche Dimensionen wie die aggressive Steuerplanung der Konzerne aufweist, fehlt es bislang an der Bereitschaft, wirksame Lösungen auf den Weg zu bringen.
7.) EU-weite CO2-Steuern vorantreiben: Ökosteuern sind aus gewerkschaftlicher Sicht nicht ganz unproblematisch. Als Verbrauchssteuern verursachen sie erhebliche verteilungspolitische Probleme, die sich auch mit einer Steuerrückerstattung über „Klimaboni“ nicht abschließend lösen lassen. Nationale CO2-Steuern haben zudem das Problem, dass sie die Industrie – und damit das Gros der Emissionen – nicht sinnvoll erfassen können. Der Ansatz des European Green Deal in Richtung einer EU-weiten CO2-Steuer, mit starkem Fokus auf Industrie und Energiewirtschaft, ist daher der einzig sinnvolle Ansatz. Negative Wettbewerbseffekte für die Industrie sollten durch den CO2-Grenzausgleich abgefedert werden. Es kann nicht sein, dass die größten „Stinker“ die geringsten Ökosteuern zahlen. Das ist weder gerecht noch klimapolitisch sinnvoll.
Conclusio
Mit der Corona-Krise kehrt die Verteilungsfrage ins Zentrum der Steuerpolitik zurück. Die leeren Kassen erfordern eine Debatte über eine gerechte Verteilung der Krisenlasten. Wirksame Maßnahmen gegen Steuertricks und Steuerwettbewerb auf EU-Ebene sind wichtige Voraussetzungen dafür. Jetzt ist nicht die Zeit für Konsolidierung, aber die Zeit dafür, die Voraussetzungen für eine progressive Konsolidierung zu schaffen. Die Einführung eines effektiven Mindeststeuersatzes für Unternehmensgewinne, zumindest in der EU, ist für die Gewerkschaften dabei das wichtigste Anliegen.
Dominik Bernhofer ist Ökonom und Leiter der Abteilung Steuerrecht in der Arbeiterkammer (AK) Wien.
Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Vorabveröffentlichung. Die Langfassung des Textes ist als WISO direkt erschienen.
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