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von Tom Krebs
Die Europäische Union (EU) steht vor großen Herausforderungen. Die Corona-Krise hat viele EU-Staaten hart getroffen und bestehende Ungleichheiten verstärkt. In den kommenden Monaten braucht die europäische Wirtschaft einen Anschub durch ein Konjunktur- und Wachstumspaket, damit sie den Weg aus der Krise finden kann. Ohne einen solchen fiskalischen Impuls besteht die Gefahr, dass Wirtschaft und Gesellschaft dauerhaften Schaden erleiden.
Doch es gibt auch Grund zur Hoffnung. Die Corona-Krise bietet eine Chance für die europäische Gemeinschaft, näher zusammenzurücken und die notwendige sozial-ökologische Transformation beherzt voranzutreiben. Somit stellt sich die Frage: Welche gemeinsame Fiskalpolitik braucht Europa, damit alle EU-Staaten den Sprung auf einen sozial gerechten und ökologisch nachhaltigen Wachstumspfad schaffen können?
Eine neue Erzählung
Zuerst muss die europäische Politik ihre Erzählung ändern. Die Erzählung der alten EU war das neoliberale Versprechen, dass freier Wettbewerb und Marktwirtschaft allen eine faire Chance bieten und dauerhaften Wohlstand erzeugen. Dieses Versprechen wurde nicht eingelöst. Aus ökonomischer Sicht ist das auch nicht überraschend, denn in der Realität sind Marktversagen und Ausgrenzung durch unfairen Wettbewerb die Regel.
Das Versagen der neoliberalen Agenda hat nicht in allen EU-Staaten zu einem signifikanten Anstieg der Ungleichheit geführt. Doch überall dort, wo die neoliberale Agenda am konsequentesten verfolgt wurde, ist die Gesellschaft ungerechter geworden. Die soziale Gerechtigkeit hat gelitten, weil die Ungleichheit der Lebenschancen angestiegen ist. Darüber hinaus wurde die Generationengerechtigkeit geschwächt, weil wir möglicherweise unseren Kindern und Enkel_innen einen unbewohnbaren Planeten vererben.
Welches Narrativ kann die alte Erzählung ersetzen? Das neue Narrativ der EU muss sein, dass nur gemeinschaftliches Handeln und Solidarität ein gerechtes Europa schaffen und die Lebensqualität aller steigern können. Anders gesagt: Soziale Gerechtigkeit und Generationengerechtigkeit wird es in Europa nur geben, wenn die EU-Politik auf den Grundprinzipien der Solidarität und Gemeinschaftlichkeit basiert.
Entsprechend zur neuen Erzählung braucht Europa auch eine neue Fiskalpolitik. Ihr kommt nicht nur eine entscheidende Rolle in Krisenzeiten zu, sondern sie ist auch ein wesentlicher Treiber der notwendigen sozial-ökologischen Transformation. Um diese duale Funktion zu erfüllen, muss eine progressive europäische Fiskalpolitik aus drei Säulen bestehen: Solidarität, gemeinschaftliche Finanzierung und gemeinschaftliche Projekte.
Europäische Solidarität
Die Europäische Union muss Solidarität mit den Mitgliedstaaten und Regionen zeigen, die besonders hart von der Corona-Krise getroffen wurden. Dazu haben sich die Euro-Finanzminister_innen bereits kurz vor Ostern auf ein Paket von Hilfsmaßnahmen in Höhe von bis zu 540 Milliarden Euro verständigt und so ein dreifaches Sicherheitsnetz gespannt. Erstens wurde für Arbeitnehmer_innen das europäische Programm SURE zur Absicherung nationaler Kurzarbeitergeldprogramme eingerichtet. Mit diesem Schritt wurde ein in Deutschland sehr erfolgreiches Programm auf EU-Ebene gehoben und ein Einstieg in eine europäische Arbeitslosenrückversicherung vollzogen. Zweitens sichert die Europäische Investitionsbank (EIB) die Liquiditätsversorgung von kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) in Europa über Kreditgarantien ab, ähnlich wie wir es in Deutschland durch die KfW-Bank kennen. Und drittens wurde allen Euro-Staaten mit einem modifizierten Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) die Möglichkeit geboten, eine Neuverschuldung günstig und fast ohne Auflagen zu finanzieren.
Doch diese Initiativen sind keine ausreichende Hilfe, denn sie basieren im Wesentlichen auf Krediten und sind somit nur eine schwache Form der Solidarität. Eine starke Form der Solidarität erfordert direkte Zuschüsse. Deshalb war der deutsch-französische Vorschlag vom 20. Mai zur Ausgestaltung des geplanten Europäischen Wiederaufbaufonds von 500 Milliarden Euro ein so wichtiger Schritt. Dieser Vorschlag legt den Schwerpunkt auf direkte Zuschüsse und gemeinschaftliche Projekte, von denen überproportional die hart getroffenen Länder wie Italien und Spanien profitieren. Das war ein starkes deutsch-französisches Zeichen der Solidarität, das die Voraussetzung für die Vorschläge der Europäischen Kommission „Next Generation EU“ vom 27. Mai schuf. Diese Vorschläge bedeuten eine Chance für eine grundlegend neue europäische Wirtschaftspolitik, die auf dem Prinzip einer gemeinsamen Investitions- und Transformationspolitik basiert.
Gemeinschaftliche Finanzierung
Die zweite Säule einer progressiven europäischen Fiskalpolitik erfordert die gemeinschaftliche Finanzierung eines Teils des EU-Haushalts. Auch in dieser Hinsicht sind der deutsch-französische Vorschlag und die neue Strategie der Europäischen Kommission wegweisend, denn der Großteil der Ausgaben des Wiederaufbaufonds soll über die Emission gemeinschaftlicher Anleihen finanziert werden. Nach Plänen der Europäischen Kommission sollen neben den normalen Haushaltsausgaben des Mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) von 1.100 Milliarden Euro weitere 750 Milliarden Euro an Neuverschuldung außerhalb des MFR durch das befristete, neue Konjunktur- und Investitionsprogramm hinzukommen. Ökonomisch ist das sinnvoll, denn es erlaubt allen EU-Ländern eine expansivere Finanzpolitik, ohne die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) zu überfordern. Zudem ist es ein wichtiger Schritt in Richtung engere Integration der EU-Staaten.
Neben gemeinschaftlichen Anleihen ist eine gemeinsame Steuerpolitik ein wichtiger europäischer Integrationsschritt. Derzeit fällt die Steuerpolitik vollständig in nationale Zuständigkeiten. Sicherlich wird auch zukünftig die Steuerpolitik stark national geprägt sein, doch eine gemeinsame Strategie in den folgenden zwei Bereichen ist ökonomisch und politisch sinnvoll.
Zum einen muss der ruinöse Steuerwettbewerb durch Mindestbesteuerung und Angleichung von Besteuerungsgrundlagen eingedämmt werden. Denn diese Art des „Wettbewerbs“ schadet mittelfristig allen Mitgliedstaaten und stellt langfristig eine große Gefahr für die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen dar. Zum anderen braucht die Europäische Union eine gemeinsame Steuer, um einen Teil der Gemeinschaftsprojekte zu finanzieren. Hier bieten sich eine europaweite Digitalsteuer oder CO2-Steuer an. Eine solche Gemeinschaftssteuer würde die ökonomische und ökologische Nachhaltigkeit der europäischen Fiskalpolitik dauerhaft stärken.
Gemeinschaftliche Projekte
Die dritte Säule einer progressiven europäischen Fiskalpolitik ist vielleicht der wichtigste Baustein: Die Europäische Union braucht gemeinschaftliche Zukunftsprojekte. Diese Säule hat bisher in der öffentlichen Debatte nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Das ist bedauerlich, denn ohne gemeinsame Leuchtturmprojekte wird die EU für viele Menschen in Europa immer ein ungeliebtes Bürokratiemonster bleiben.
Klimaschutz ist besonders geeignet für die Entwicklung europäischer Leuchtturmprojekte, wie das Beispiel einer europäischen Wasserstoffinitiative zeigt. Die angestrebte Dekarbonisierung der Wirtschaft erfordert die Produktion grünen Wasserstoffs auf Basis von Solarenergie in größeren Mengen, wozu verstärkt Anlagen in Südeuropa und mittelfristig auch im nördlichen Afrika notwendig sein werden. Die Entwicklung der Produktionsstätten und Transportinfrastruktur würde in den betroffenen Staaten einen ökologisch nachhaltigen Wachstumsschub auslösen. Darüber hinaus sind fortschrittliche europäische Gemeinschaftsprojekte im Gesundheitsbereich (Virus-Forschung) und im Verkehrsbereich (Europa-Takt) naheliegend.
Die genannten Zukunftsprojekte werden nur die Lebensqualität aller Menschen in Europa steigern, wenn gemeinwohlorientierte Unternehmen dabei eine wichtige Rolle spielen – Staat (Gemeinwohl) vor Markt (Lobbyismus). Die Frage der Unternehmensstruktur definiert die Trennlinie zwischen progressiver Wirtschaftspolitik und konservativem Stillstand. Denn auch die konservative Seite wird den Menschen ein goldenes Zeitalter mit einer ökologisch nachhaltigen Wirtschaft versprechen. Doch gemeint ist eine grüne Version der alten neoliberalen Agenda: Jeder für sich, Markt vor Staat und ein CO2-Preis, damit die grüne Seele nachts ruhig schlafen kann. Es ist die politische Aufgabe der Sozialdemokratie, diesen Kontrast zwischen progressivem Fortschritt und konservativem Stillstand in der Öffentlichkeit deutlich zu machen.
Prof. Tom Krebs ist Professor für Makroökonomik und Wirtschaftspolitik an der Universität Mannheim.
Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Vorabveröffentlichung. Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.
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