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Knapp zwei Jahre nach der berühmten Zeitenwende-Rede des Bundeskanzlers vom 27. Februar 2022 hat sich in Deutschlands Verteidigungspolitik einiges getan. Dieser Text gibt einen Überblick über die wichtigsten Veränderungen und formuliert drei Fragen, die trotz der Zeitenwende bisher unbeantwortet bleiben.
Sondervermögen und Verteidigungshaushalt Mit dem Stichwort „Zeitenwende“ verbindet die deutsche Öffentlichkeit wohl vor allem das kreditfinanzierte 100-Milliarden-Euro Sondervermögen für die Bundeswehr. Es ist ein greifbares Symbol für die Notwendigkeit der (Wieder-)Herstellung militärischer Verteidigungsfähigkeit. Nach der Ankündigung dauerte es jedoch bis zum Sommer 2022, bis das Sondervermögen auch vom Bundestag beschlossen und im Grundgesetz verankert wurde. In Verbindung mit den langwierigen Prozessen in der Wehrverwaltung ist nicht verwunderlich, dass im Jahr 2022 keine nennenswerten Mittel aus dem Sondertopf verausgabt werden konnten. Im vergangenen Jahr waren ca. 8,4 Mrd. und für 2024 sind rund 19,2 Mrd. Euro an Ausgaben aus dem Sondervermögen Bundeswehr vorgesehen. Da dieser Topf nach Aussagen der Bundesregierung in den beiden Folgejahren 2025/2026 dazu dienen soll das NATO-2%-Ziel zumindest annähernd zu erreichen, was bei gleichbleibendem Verteidigungshaushalt Ausgaben von jeweils um die 30 Mrd. Euro bedeuten würde, und gleichzeitig auch die Zinszahlungen von geschätzten 13 Mrd. aus dem Sondervermögen selbst geleistet werden, dürften diese Mittel bis 2027 vollständig aufgebraucht sein. Diese kurze Darstellung zeigt, dass entgegen der ursprünglichen Annahme das Sondervermögen hauptsächlich für langfristige Investitionen zu nutzen, vor allem die schnelle Verausgabung und das Erreichen des NATO-Ziels im Vordergrund stehen. Aufgrund der langen Beschaffungszyklen von Rüstungsgütern und der Tatsache, dass die Gesamtkosten der Projekte die Mittel des Sondervermögens deutlich übersteigen dürften, kann dieses daher häufig nur die Anschubfinanzierung leisten. Die verbleibenden Kosten müssten zukünftig aus dem regulären Verteidigungshaushalt finanziert werden. Ausdruck der Rückbesinnung auf die militärische Verteidigungsfähigkeit ist daher auch, dass der Verteidigungshaushalt als einziger Einzelplan des Bundeshaushalts im Jahr 2024 ansteigt (um ca. 1,7 Mrd. Euro). Dieser Anstieg gleicht allerdings lediglich steigende Personalkosten aus. Von den 10 Mrd. Euro Aufwuchs, die der Bundesverteidigungsminister im Vorfeld der Haushaltsberatungen gefordert hatte, ist man nach wie vor weit entfernt. Nach der mittelfristigen Finanzplanung soll der so genannte Einzelplan 14 aber wegen der angespannten Haushaltslage auf dem aktuellen Niveau bleiben. Die langfristige Finanzierung der Bundeswehr bleibt damit trotz Sondervermögen und Zeitenwende ungewiss. Im schlechtesten Falle führt diese Konstellation dazu, dass neues Gerät aus dem Sondervermögen beschafft wird, was zu höheren Betriebs- und Instandhaltungskosten führt, die den ohnehin schon zu geringen regulären Verteidigungshaushalt zusätzlich belasten. Die finanzielle Ausstattung der Streitkräfte bleibt trotz der Versprechungen von Bundeskanzler und Verteidigungsminister in Zeiten der angespannten Haushaltslage eine zentrale Achillesferse. Beschaffungswesen und Rüstungsindustrie Neben der finanziellen Ausstattung der Bundeswehr sind das Beschaffungswesen und eine leistungsfähige Verteidigungsindustrie zentrale Bausteine für das Gelingen der militärischen Dimension der Zeitenwende. Dementsprechend ist auch hier in den letzten Jahren einiges auf den Weg gebracht worden. Noch unter Verteidigungsministerin Christine Lambrecht wurde ein Bundeswehrbeschaffungsbeschleunigungsgesetz (BwBBG) im Bundestag verabschiedet. Es soll die Vergabeverfahren für militärische Ausrüstung sowie europäische Rüstungskooperationen vereinfachen. Laut der Ministerin können damit künftig 20% der Aufträge aus der Bundeswehr freihändig, also ohne langwieriges Vergabeverfahren vergeben werden. Zudem hat Boris Pistorius bereits kurz nach seinem Amtsantritt neue Regeln für das Beschaffungswesen erlassen und dem Faktor Zeit höchste Priorität eingeräumt. Dennoch stehen viele Rüstungsprojekte weiterhin vor großen Herausforderungen, insbesondere die politisch sensiblen Kooperationsprojekte mit Frankreich, das Future Combat Air System (FCAS) für ein Kampfflugzeug der nächsten Generation sowie der Kampfpanzer der Zukunft MGCS (Main Ground Combat System), scheinen aufgrund von Meinungsverschiedenheiten und nationalen Befindlichkeiten in Industrie und Politik, kaum Fortschritte zu machen. Lediglich die European Sky Shield Initiative, die allerdings vom wichtigen Partner Frankreich wegen einer zu starken Fokussierung auf den Import israelischer und amerikanischer Produkte abgelehnt wird, scheint gute Fortschritte zu machen. Auch die an die Ukraine abgegebenen Bestände und Munition können kurzfristig nur teilweise ersetzt werden, da entsprechende Produktionskapazitäten noch ausgebaut werden müssen. Dennoch zeigen sich im Beschaffungswesen erste Früchte der Zeitenwende und des Sondervermögens. Aufträge, z.B. für die F-35 Flugzeuge zur Aufrechterhaltung der nuklearen Teilhabe, wurden deutlich zügiger als in der Vergangenheit erteilt und seit dem Amtsantritt von Minister Pistorius scheint auch in der Nachbestellung des an die Ukraine abgegebenen Materials mehr Eile zu herrschen. Andere Großprojekte wie die neue U-Boot Klasse U212-CD, die in Kooperation mit Norwegen entwickelt wird, konnten angeschoben werden. Ob diese Verbesserungen ausreichen, um die angekündigte Vollausstattung der Bundeswehr in absehbarer Zeit zu erreichen, darf allerdings bezweifelt werden. Strategien und Strukturen Die Zeitenwende hat auch auf strategischer und struktureller Ebene ihre Spuren hinterlassen. Deutschlands erste Nationale Sicherheitsstrategie von Juni 2023 sowie insbesondere die verteidigungspolitischen Richtlinien vom November, mit ihrem klaren Fokus auf Landes- und Bündnisverteidigung und der damit verbundenen Forderung nach einer „kriegstauglichen“ Bundeswehr sind zentraler Ausdruck dieser Veränderungen. Größtes Manko bei der Sicherheitsstrategie bleibt, dass sie keine Prioritäten zwischen verschiedenen hohen Ambitionen setzt, die auch noch ohne zusätzliche finanzielle Mittel verfolgt werden sollen. Teil der konzeptionellen Neuausrichtung ist auch das überarbeitete strategische Konzept der Nordatlantischen Allianz, NATO 2030, das damit verbundene New Force Model und die darin enthaltenen Verpflichtungen für die Bundeswehr. Die Zahl der Soldat_innen in hoher Einsatzbereitschaft, die Deutschland für das Bündnis zur Verfügung stellt, soll von 14.200 im Jahr 2024 auf über 30.000 ab 2025 ansteigen. In diesen Anpassungen drückt sich ein Wandel im Abschreckungsdenken des Bündnisses und auch der Bundeswehr aus. Im Gegensatz zur bisherigen deterrence by reinforcement mit kleineren, rotierenden Verbänden, die im Krisenfall verstärkt werden sollten, setzt die NATO nun auf deterrence by denial. Durch die Vorverlegung größerer und stärker bewaffneter Verbände soll dem Gegner von vornherein deutlich gemacht werden, dass ein Angriff scheitern wird. Teil dieser Strategie ist die angekündigte Stationierung einer Kampfbrigade der Bundeswehr in Litauen (voraussichtlich ab 2027). Damit wird erstmals ein Verband der Bundeswehr dauerhaft im Ausland stationiert. Nicht nur innerhalb der NATO, sondern auch in der EU spiegelt sich das strategische Umdenken wider. Militärisches Kernstück des „strategischen Kompasses“ ist die Rapid Deployment Capacity (RDC). Bis zu 5.000 Soldat_innen sollen für verschiedene Einsatzszenarien wie Krisenreaktion oder Evakuierung zur Verfügung stehen. Neu ist, dass die Kosten für diese Eingreiftruppe zentral von der EU getragen werden können, womit ein entscheidender Konstruktionsfehler der vorherigen EU-Battlegroups behoben wurde. Auch wenn die genaue Ausgestaltung der RDC noch offen ist und je nach Einsatzszenario variieren soll, ist klar, dass Deutschland als größter EU-Mitgliedstaat hier wesentliche Beiträge leisten muss. Gerade vor dem Hintergrund einer absehbaren Verlagerung der US-Prioritäten in den Indo-Pazifik könnten der neue EU-Rahmen zu einem zentralen Baustein für künftige Einsätze der Bundeswehr werden. Dieser Aspekt wird in der strategischen Debatte um die Neuausrichtung der Bundeswehr bislang zu wenig berücksichtig. Neben diesen Veränderungen auf multilateraler Ebene, sind auch innerhalb des Verteidigungsministeriums und bei der Streitkräftestruktur Anpassungsprozess im Gange. Als eine seiner ersten Amtshandlungen hatte Boris Pistorius einen Planungs- und Führungsstab eingerichtet, der zu einer besseren Koordination der Leitungsebene im Ministerium beitragen soll. Eine mögliche Reform der Abteilungsstruktur steht aktuell noch aus. Bis Ostern 2024 sollen Generalinspekteur Carsten Breuer und Staatssekretär Nils Hilmer Vorschläge für eine Reform der Streitkräftestruktur vorlegen. Ähnlich dazu hatte bereits Breuers Vorgänger Eberhard Zorn im Auftrag der damaligen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer 2021 ein Konzept mit dem Titel „Eckpunkte für eine Bundeswehr der Zukunft“ erarbeitet. Und auch Pistorius‘ direkte Vorgängerin Christine Lambrecht hatte in ihrer Amtszeit eine „kritische Bestandsaufnahme“ der Bundeswehrstrukturen in Auftrag gegeben. Die Probleme und Ansatzpunkte dürften also weitgehend bekannt sein und in eine ähnliche Richtung gehen wie 2021: weniger Stäbe, weniger mit Verwaltungsaufgaben beschäftigte Soldat_innen, straffere Prozesse und eine stärkere Fokussierung auf das Kerngeschäft: Die Fähigkeit, Deutschland und seine Bündnispartner im bewaffneten Kampf zu verteidigen.Ausblick Dieser kurze Überblick zeigt, dass fast zwei Jahre nach dem russischen Angriff auf die gesamte Ukraine die Zeitenwende in der deutschen Verteidigungspolitik und in der Bundeswehr langsam Einzug hält. Reformen sind auf den Weg gebracht. Die dauerhafte Stationierung einer deutschen Brigade im Ausland, in Teilen bereits ab 2024 und in Gänze ab 2027, stellt einen Meilenstein in der Entwicklung der Bundeswehr dar. Dennoch bleiben einige zentrale Fragen offen:
Hat in Politik und Gesellschaft ein wirklicher Bewusstseinswandel stattgefunden, der die Notwendigkeit der Verteidigungsfähigkeit anerkennt und bereit ist, die damit verbundenen Kosten zu tragen?
Kann die Bundeswehr angesichts des demographischen Wandels langfristig die Zielgröße von 203.000 Soldat_innen erreichen (aktuell dienen ca. 182.000 Menschen in den Streitkräften) und damit ihr Bündnisverpflichtungen erfüllen? Falls nicht, wie kann die Bundesrepublik sicherstellen, dass ausreichend Personal zur Landes- und Bündnisverteidigung zur Verfügung steht?
Gelingt es trotz der angespannten Haushaltslage, der Schuldenbremse und des gigantischen Finanzierungsbedarfs für die sozial-ökologische Transformation, eine dauerhaft ausreichende finanzielle Ausstattung der Streitkräfte sicherzustellen?
An der Beantwortung dieser Fragen entscheidet sich nicht nur der Erfolg der Zeitenwende, sondern auch die internationale Verlässlichkeit der Bundesrepublik. Nur, wenn es Deutschland gelingt leistungsfähige Streitkräfte zur Verteidigung Europas bereitzustellen, kann es seinen Beitrag zu Frieden und Sicherheit auf dem Kontinent leisten.
Felix Kösterke ist bis Februar 2024 Redakteur des Fokusportals Zeitenwende bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin. Zuvor war er unter anderem bei Interpeace in Brüssel sowie im Abgeordnetenbüro eines Mitglieds des Verteidigungsausschusses im Deutschen Bundestag tätig. Er hat Politikwissenschaft und Kommunikation in Mainz und Strasbourg studiert und befindet sich im letzten Semester seines Masterstudiums der Internationalen Sicherheit an der Sciences Po in Paris.
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