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von Sebastian Dullien
Die Europäische Union (EU) ist heute die am stärksten wirtschaftlich integrierte Region der Welt. Diese wirtschaftlichen Verknüpfungen sind zu einem wichtigen Teil für den heutigen Wohlstand in Europa mitverantwortlich. Ohne die heutige Form des europäischen Binnenmarktes wäre Europa kaum Heimat einiger der weltgrößten Automobilkonzerne, die hier grenzüberschreitend produzieren und verkaufen können. In internationalen Handelsverhandlungen kann die EU regelmäßig weitgehend ihre Interessen durchsetzen – etwas, was selbst Deutschland als größtem Mitgliedstaat nicht möglich wäre.
Die EU ist eine wirtschaftliche Supermacht. Selbst ihre größten Mitgliedstaaten sind wirtschaftlich im globalen Maßstab heute bestenfalls zweitrangige Mittelmächte, wie Großbritannien erfahren musste, als das Land nach der Entscheidung zum EU-Austritt versuchte, Freihandelsabkommen mit Drittstaaten auszuhandeln.
Vorteile der EU werden als selbstverständlich wahrgenommen
Die Integration innerhalb Europas wird dabei von vielen Menschen in den beteiligten Ländern als so selbstverständlich hingenommen, dass die Vorteile oft nicht einmal mehr mit der EU in Verbindung gebracht werden. Das „Vergessen“ dieser Vorteile ist dabei wenig verwunderlich. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung hat in ihrem ganzen Erwachsenenleben nicht erlebt, wie es ist, wenn Zollgrenzen oder regelmäßige Grenzkontrollen zwischen Deutschland und Frankreich existieren.
Trotz der Erfolge der EU stehen zumindest Teile der europäischen Integration immer wieder unter massivem öffentlichen Beschuss. Der Erfolg anti-europäischer Parteien in praktisch allen Mitgliedstaaten ebenso wie das britische Brexit-Referendum zeigen, dass eine kritische Haltung gegenüber der EU einer wachsenden Minderheit wichtig ist.
Einer der Kristallisationspunkte der Kritik war in vielen Ländern das Bündel wirtschaftspolitischer Maßnahmen, das zur Überwindung der Euro-Krise 2010ff. umgesetzt wurde. Vor allem in den Euro-Krisenstaaten Südeuropas waren viele Bürger_innen unzufrieden, dass die EU mit ihren Fiskalregeln auf Austerität beharrte. In den nördlichen Mitgliedstaaten wuchs derweil die Unzufriedenheit mit immer neuen Rettungsprogrammen mit schwindelerregenden Summen, für die die Nordländer zumindest mitbürgen mussten.
Zum Teil auch von progressiver Seite wurde und wird als vermeintliche Lösung oft angeführt, dass man ja doch einzelne Elemente der wirtschaftlichen und politischen Integration zurückdrehen könnte. So wird gelegentlich vorgeschlagen, die Währungsintegration kontrolliert zurückzuführen, indem etwa Italien oder Griechenland die Wiedereinführung einer eigenen Währung erlaubt wird oder durch Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Die Hoffnung zumindest einiger der Vertreter_innen dieser Ideen ist dabei, die Vorteile der EU-Integration abzusichern und jene Elemente der Integration zurückzudrehen, die derzeit nicht so gut funktionieren.
Teilweises Rückdrehen der Integration wird nicht funktionieren
Viel spricht leider dafür, dass eine solche Lösung nicht funktionieren wird. Der aktuelle Stand der europäischen Integration ist das Ergebnis einer delikaten Aushandlung von Vorteilen für verschiedene Mitgliedsländer und voller Abhängigkeiten der Integration in verschiedenen Politikfeldern.
In einem gemeinsamen Binnenmarkt ist absehbar, dass einzelne Regionen stärker profitieren werden als andere. Agglomerationseffekte, bei denen sich Unternehmen eines Sektors in der geografischen Nähe anderer Unternehmen ansiedeln, führen dazu, dass bestimmte Industrien sich in einzelnen Ländern „clustern“. Gibt es zudem gewisse Skaleneffekte, so ist denkbar, dass ganze Länder, zumindest aber einzelne Regionen am Ende ohne relevante Industrien dastehen. Sowohl die Währungsintegration als auch die Freizügigkeit von Arbeitnehmer_innen kann als Versuch verstanden werden, die Folgen dieser Agglomerationseffekte abzumildern. So hat die Währungsunion den Mitgliedern niedrigere Zinsen und damit niedrigere Finanzierungskosten gebracht. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer_innen ist für Länder wie Bulgarien und Rumänien von zentraler Bedeutung, weil dort ganze Regionen davon abhängen, dass Menschen von dort im Ausland arbeiten und Teile ihrer Verdienste in die Heimat zurückschicken.
Würde man nun die Integration in diesen Bereichen einfach zurückdrehen, so dürften die negativen Folgen des Binnenmarktes für einzelne Länder deutlicher sichtbar werden. Absehbare Folgen dürften dann immer lautere Rufe nach Einschränkung der Handelsintegration, etwa durch das Zulassen nationaler Unterstützungsmaßnahmen der eigenen Betriebe, sein – oder gar der Ruf nach einem Austritt aus der EU nach dem Modell des britischen Brexit.
Covid-19 hat Mängel an EU-Architektur deutlich gemacht
Gleichzeitig aber sind mit Beginn der Covid-19-Krise die existierenden Mängel der wirtschaftspolitischen Architektur der EU unübersehbar geworden. Die Covid-19-Krise hat die Euro-Länder wirtschaftlich asymmetrisch getroffen. Italien, Frankreich und Spanien haben einen deutlich stärkeren Einbruch der Wirtschaftsleistung verzeichnet als Deutschland oder Österreich. Grund dafür ist nicht zuletzt auch der unterschiedliche finanzpolitische Spielraum. Hoch verschuldete Länder wie Italien oder Spanien mussten vorsichtiger agieren, weil nicht verlässlich klar war, dass die Europäische Zentralbank (EZB) jede Marktspekulation über die künftige Zahlungs(un)fähigkeit der Mitgliedstaaten abwehren würde. Deutschland dagegen konnte weitgehend frei von Angst vor den Finanzmärkten agieren. Am Ende droht diese asymmetrische Reaktion auf die Covid-19-Krise, die Agglomerationstendenzen in der Währungsunion noch einmal zu verstärken.
Ein einfaches „Weiter so“ in Europa droht deshalb ebenfalls die Zustimmung zur EU zu unterminieren. Oder anders ausgedrückt: Die aktuelle Kombination von Integrationsfortschritten in verschiedenen Politikfeldern ist nicht stabil. Die Integration ist in einigen Bereichen (und insbesondere bei der grenzüberschreitenden Arbeitsteilung) so weit fortgeschritten, dass sie ohne zusätzliche Integration in anderen Feldern langfristig so nicht zu halten ist.
Strategisches Mehr an Integration als Ausweg
Die Lösung muss deshalb heißen: Ein strategisches Mehr an Integration, das die Schwächen der bisherigen Europäisierung angeht, um die bestehenden Vorteile der EU zu sichern. Bei der Währungsunion müssten die Ad-hoc-Maßnahmen aus der Euro-Krise 2010ff. durch nachhaltige Lösungen ersetzt werden. So spielte damals die EZB eine zentrale Rolle in der Krisenbewältigung. Doch auch wegen mahnender Worte des deutschen Bundesverfassungsgerichts gibt es immer wieder Zweifel, wie weit die EZB tatsächlich gehen kann. Hier wäre es sinnvoll, auf Dauer zumindest einen Teil der Schulden der Mitgliedstaaten gemeinschaftlich zu garantieren.
Damit die einzelnen Länder mit asymmetrischen Schocks umgehen können, sind zudem Versicherungslösungen zwischen den Mitgliedsländern gefragt – wie etwa die lange diskutierte Arbeitslosen(rück)versicherung für die Euro-Länder, die einzelne Staaten im Falle eines starken Anstiegs der Arbeitslosigkeit unterstützen würde. Die EU-Fiskalregeln, die in den vergangenen Jahren oftmals zu kontraproduktiver, prozyklischer Politik auf nationaler Ebene geführt haben, müssen ebenfalls reformiert werden, wenn eine schädliche Fiskalpolitik in Europa verhindert werden soll.
Im Wettbewerb um Zukunftstechnologien mit China und den USA braucht Europa eine strategische Industriepolitik, die jenseits nationaler Partikularinteressen Ansätze entwickelt, um Unternehmen in Schlüsselbranchen zu fördern und in Europa zu halten. Hier geht es nicht darum, einzelne nationale Champions zu päppeln, sondern darum, zentrale technologische Kapazitäten in Europa aufzubauen und zu sichern.
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit müsste mit einer stärkeren sozialen Säule in Europa abgesichert werden, um zu verhindern, dass die EU-Grundprinzipien gegen das Grundziel der EU – die Förderung von Wohlstand für alle – eingesetzt werden.
Darüber hinaus könnte das Bereitstellen europäischer öffentlicher Güter helfen, benachteiligte Regionen stärker am Wohlstand teilhaben zu lassen. Europäische Projekte im Bereich der Gesundheitsvorsorge, ambitionierte Hochgeschwindigkeitsschienennetze sowie transnationale Netze für Wasserstoff wären hier erfolgversprechende Ansätze. Europäische Finanzierung und Organisation von Verteidigungsprojekten, Grenzsicherung und Entwicklungsprojekten in ärmeren Ländern könnten zum einen finanzielle Mittel einsparen, zum anderen den Mehrwert europäischer Kooperation deutlicher machen.
Wiederaufbaufonds geht in die richtige Richtung
Zum Glück hat die EU-Kommission mit den vorgeschlagenen (und zum Teil bereits beschlossenen) Maßnahmen in der Corona-Krise die Weichen in die richtige Richtung gestellt. Der sogenannte SURE-Fonds (Temporary Scheme to Mitigate Unemployment Risks in an Emergency), aus dem die Mitgliedstaaten für die Krisenzeit Kredite für nationale Kurzarbeitsprogramme ziehen können, wäre prädestiniert, zu einer Keimzelle für eine dauerhafte europäische Arbeitslosenrückversicherung zu werden.
Der von der EU-Kommission vorgeschlagene Aufbau- und Sanierungsfonds schafft durch die damit verbundene Kreditaufnahme der EU erstmalig ein gemeinsames Finanzierungselement von größerem Volumen. Erfahrungen mit diesen Anleihen könnten wertvoll werden, wenn später einmal gemeinsame Anleihen für die Eurozone begeben werden sollten. Mit der Einbettung des Fonds in den EU-Haushalt ist das alte Tabu gefallen, dass der EU-Haushalt ja nicht deutlich größer als ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Union sein dürfe. Das Aufschieben der Tilgungs- und Rückzahlungsfrage schafft die Option, in näherer Zukunft tatsächlich echte europäische Steuern einzuführen, die dann – je nach Bedarf – zur Bedienung des Schuldendienstes oder für neue europäische Investitionsprojekte verwendet werden können.
Die Herausforderung ist nun, den Plänen auch zügig Taten folgen zu lassen. Nach der EU-Prognose dürfte das Bruttoinlandsprodukt in Italien etwa noch 2021 so niedrig sein wie zuletzt vor mehr als 20 Jahren zur Einführung des Euro und immerhin fast zehn Prozent niedriger als noch 2007. In den zurückbleibenden Ländern droht der Unmut über bestehende Strukturen und wirtschaftliche Perspektivlosigkeit zu wachsen. Mit zunehmender Abkehr von Europa drohen konstruktive Integrationsschritte mit der Zeit immer schwieriger zu werden. Wenn Europas Bürger_innen nicht schnell konkreter die Vorteile der Staatengemeinschaft erkennen, könnte es zu spät sein, den Binnenmarkt in der Form, geografischen Ausdehnung und Tiefe zu retten, wie wir ihn heute kennen.
Prof. Dr. Sebastian Dullien ist Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung und Professor für Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) in Berlin. Er forscht seit mehreren Jahrzehnten zu ökonomischen Ungleichgewichten in der Eurozone.
Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Vorabveröffentlichung. Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.
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