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Lange wurde Deutschland als Zivilmacht kategorisiert. Mit einer Präferenz für diplomatischen und ökonomischen Einfluss auf der Welt. Russlands Angriff auf die Ukraine und die von Bundeskanzler Scholz ausgerufene Zeitenwende stellen das Zivilmachtsparadigma in Frage. Prof. Sebastian Harnisch hat im Auftrag der FES Deutschlands aktuelle internationale Rolle analysiert. Im Interview erklärt er, wo Fehler gemacht wurden und skizziert einen zukünftigen Kurs für die Bundesrepublik.
Die Fragen stellte Felix Kösterke.
Deutschland wird in der Politikwissenschaft häufig als Zivilmacht bezeichnet. Was bedeutet Zivilmacht überhaupt?
Sebastian Harnisch: Zivilmacht beschreibt ein besonderes Verhalten von Staaten in den internationalen Beziehungen, das gemeinsame Regeln und ihre Einhaltung in den Mittelpunkt stellt. Traditionell versteht man unter Zivilmächten, Japan und Deutschland, mittlerweile aber auch die Europäische Union. Diese Akteure halten sich an die liberale Weltordnung, die von den USA nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurde, und wollen sie weiter ausbauen. Sie waren traditionell zurückhaltend, was den Einsatz militärischer Mittel angeht. Das „Zivil“ von Zivilmacht hat also etwas mit einer Präferenz für wirtschaftliche und andere nichtmilitärische Instrumente zu tun. Aber, und das ist zentral, Zivilmächte sie sind keine internationalen Zivildienstleistenden, sondern sagen: „Wenn Staaten internationales Recht brechen, wie Russland durch den Angriffskrieg in der Ukraine, dann muss den Staaten, die angegriffen worden sind, geholfen werden. Und das tut die Bundesrepublik.
In ihrer Publikation „Deutsche Zivilmacht in der Zeitenwende“ sprechen sie davon, dass Deutschland gegenüber der Ukraine zu wenig Zivilcourage an den Tag gelegt habe. Was meinen Sie damit?
Sebastian Harnisch: Das bedeutet, die Bundesrepublik hat zu wenig auf russisches Fehlverhalten, auf russische Regelverletzungen reagiert. Die Bundesregierungen haben noch lange an NordStream 2 festgehalten, obwohl der Russischen Föderation bzw. Gazprom dadurch eine wichtige, manche mögen sagen eine zentrale Stellung auf dem deutschen Energiemarkt, zum Beispiel bei Speicherstätten, eingeräumt wurde. Die Bundesregierung hat die Kooperation mit Russland auch nicht eingestellt, nachdem deutlich war, dass im August 2019 russische Auftragskiller im Berliner Kleinen Tiergarten einen Oppositionellen haben umbringen lassen. Übrigens nicht der erste politische Mord, der im Auftrag des russischen Regimes auf europäischem Boden verübt worden ist.
Die Bundesregierung hat zwar protestiert, die grundsätzliche Kooperationsbereitschaft mit der Russischen Föderation, aber nicht zurückgenommen. Das halte ich für einen Fehler. Die Bundesregierung hätte sehr viel früher den expansiven Charakter des russischen Regimes wahrnehmen und darauf reagieren müssen. Dieser hatte sich ja bereits in der Krim-Annektion gezeigt und als Reaktion darauf hätte man die Ukraine sehr viel stärker dabei unterstützen müssen, sich selbst zu schützen. Und das hat die Bundesregierung nicht getan. Ob eine solche deutsche Hilfe, weitergehende russische Angriffe abgeschreckt hätte, ist eine andere, aber sehr berechtigte, Frage.
Aber heißt das im Umkehrschluss, dass sich Deutschland im Sinne der Zeitenwende vom Zivilmachtparadigma verabschieden und sich eher hin zu einer militärischen Macht entwickeln muss?
Sebastian Harnisch: Ich glaube, in der Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit dominiert gerade diese Schlussfolgerung. Ich halte das nicht für richtig, denn es geht um die Aufrechterhaltung der regelgeleiteten internationalen Ordnung. Und Russland hat einen klaren Regelbruch begangen. Deswegen liefern wir Waffen, um die Ukraine bei der Selbstverteidigung zu unterstützen. Und das ist halt auch Zivilmacht. Dass man sich ganz klar und eindeutig gegen Rechtsbrüche stellt. Mehr Waffen ohne diese Regelbindung spielt eher der russischen Vorstellung in die Hände, dass das internationale Recht durch den Stärkeren beherrscht werden sollte.
Ich glaube, die mangelnde Zivilcourage der Bundesrepublik vor der Invasion, hatte auch mit dem Zustand der Bundeswehr zu tun. Die Bundeswehr wurde nicht befähigt, die Landes- und Bündnisverteidigung in ausreichendem Maße zu gewährleisten. Gerade in den 2000er Jahren haben die Bundesregierungen die Bundeswehr vor allen Dingen auf humanitäre Einsätze im Ausland ausgerichtet und dadurch sind die Fähigkeiten zur Landes- und Bündnisverteidigung vernachlässigt worden. Wenn wir uns jetzt stärken und befähigen, uns selbst und das Bündnis zu verteidigen und andere mit Waffen zu beliefern, die von Russland und anderen Staaten angegriffen werden, dann ist das aus meiner Sicht eine robuste und notwendige Zivilmachtpolitik.
Denn es geht nicht einfach nur darum, sich Waffen anzuschaffen, sondern es geht um die Zwecke zu denen diese Waffen eingesetzt oder zumindest an andere weitergegeben werden. Und genau hier muss sich auch eine Zivilmacht tatkräftiger zeigen. Wir müssen in der Zukunft dazu in der Lage sein, Feinde der internationalen Ordnung vor ihrem Handeln abzuschrecken. Zu Abschreckung gehört nicht nur Diplomatie, sondern man braucht auch die Mittel, um gegen Rechtsbrecher vorzugehen, wenn Diplomatie scheitert.
Das hieße aber ja doch, dass wir zukünftig internationale Regeln mit militärischer Abschreckung beschützen sollten und andere Mittel, wie beispielsweise Wirtschaftssanktionen, hintenanstellen?
Sebastian Harnisch: Nein. Die Bundesrepublik muss im Bündnis fähiger werden, militärisch abschrecken zu können, wie wir das lange während des Ost-West-Konflikts auch getan haben. Die Bundesrepublik Deutschland war ja alles andere als eine pazifistische Macht. Sie hatte eine große und konventionell starke Bundeswehr, um sich selbst und das Bündnis konventionell zu verteidigen. Das darf man nicht vergessen. Wir sind seit 1955 kein Staat ohne Streitkräfte gewesen.
Aber das allein reicht natürlich nicht aus. Vor allen Dingen für ein Land wie die Bundesrepublik reicht das nicht aus, weil unser Wohlstand in überdurchschnittlich hohem Maß auf internationalem Handel und Arbeitsteilung beruht. Das haben wir mittlerweile noch mal vor Augen geführt bekommen, weil wir uns nur unter großen Kosten aus den Abhängigkeiten im Energiebereich lösen konnten. Das war eine harte, aus meiner Sicher, aber notwendige und wichtige Lehre. Die führenden Eliten und weite Teile der Gesellschaft, die Unternehmen hatten sich auf billiges Gas aus Russland eingerichtet mit ihren Produktionsprozessen, mit ihrer häuslichen Energieversorgung und vielem anderen mehr.
Jetzt müssen wir erkennen, dass Russland zwar Schwierigkeiten hat, seinen Staatshaushalt angesischts der Sanktionen zu refinanzieren, wir haben aber auch große Schwierigkeiten gehabt, unsere Energieversorgung umzustellen. Und Energie ist nicht der einzige Bereich, sondern wenn wir uns Halbleiter anschauen, wenn wir über Hustensäfte für Kinder und vieles andere mehr sprechen, dann sehen wir, dass die Bundesrepublik in hohem Maße international interdependent, also wechselseitig abhängig ist, wie wir das in der Politikwissenschaft sagen. Uns sollte immer bewusst sein, dass unser Wohlstand auch auf diesen Interdependenzen beruht. Wenn wir also in Sicherheit und Frieden leben wollen ohne erpressbar zu sein, müssen wir unsere Abhängigkeiten sehr gut über unterschiedliche Partnerstaaten verteilen. Diversifizierung ist hier das Stichwort. Und das wird ja in Teilen auch in der neuen Strategie der Europäischen Union, beispielsweise in Bezug auf die Volksrepublik China, angestrebt. Das sogenannte De-Risking.
Lars Klingbeil hatte bei seiner Grundsatzrede zur Zeitenwende bei der Tiergartenkonferenz letztes Jahr einen Führungsanspruch für Deutschland formuliert. Passt das zusammen, Führungsmacht und Zivilmacht gleichzeitig sein? Wie unterscheidet sich zivilmächtige Führung von anderen Arten der Führung in den internationalen Beziehungen?
Sebastian Harnisch: Ich glaube, Zivilmacht und Führung passen gut zusammen, wenn Führung darauf angelegt ist, freiwillige Gefolgschaft zu erwirken. Ich glaube jedoch hier war die große Lücke in Lars Klingbeils Rede. Die bundesdeutsche Elite, in dem Fall die SPD-Führung, hat geglaubt, dass der deutsche Führungsanspruch von anderen mehr gewollt wurde, als das tatsächlich der Fall ist. Das hat Lars Klingbeil dann auch bitter erfahren müssen, als er nach Mittelosteuropa gefahren ist und dort auf wenig Zustimmung gestoßen ist. Ich glaube, dass die Bundesrepublik sich einen solchen Führungsanspruch erst wieder erarbeiten muss und ihn dann aber sehr wohl auch ausüben kann.
Aber Führung auch immer nur in dem Sinne, dass sie funktional begründet und auf Zeit angelegt ist. Niemand in Europa will einen deutschen Hegemon, der die Europäische Union auf Dauer beherrscht. Aber viele können sich damit einverstanden erklären, dass die Bundesrepublik im Verbund mit Frankreich und oder Polen, Italien, Spanien, oder anderen vorangeht, wie sie es zum Beispiel auch bei den Panzerlieferungen getan hat. Da muss die Bundesrepublik (a) in der Lage sein, materiell nachzulegen. Wir müssen halt auch liefern können. Und (b) wir müssen Kontakte, Beziehungen und Vertrauen pflegen, damit Führung immateriell unterfüttert.
Haben Sie vielleicht weitere konkrete Bereiche im Sinn, in denen Deutschland bereits jetzt mehr tun kann oder Führung übernehmen sollte?
Sebastian Harnisch: Ein Teil der deutschen Führungsschwäche ist aus meiner Sicht, dass die Bundesregierung es bis heute nicht geschafft hat, eine nationale Sicherheitsstrategie und eine nationale Chinastrategie, die seit Ende letzten Jahres angekündigt ist, vorzulegen. Das zeigt, dass die Regierungsparteien, manchmal sehr viel mehr versprechen, als sie in der Lage sind, innerhalb annehmbarer Zeit umzusetzen. Das ist ein Problem für die Reputation der Regierung im In- und Ausland, das schwächt das Vertrauen in die deutsche Führungsfähigkeit.
In der vieldiskutierten Chinapolitik gibt es die Auseinandersetzung, ob China sich zu einem Feind oder zumindest zu einem Gegner entwickelt hat, oder weiterhin nur ein Wettbewerber, der auf den internationalen Märkten nicht immer nach den Regeln spielt, ist. Dazu gibt es, grob vereinfacht, zwei Positionen: Sollen wir französischer werden und eine eigene Position aufbauen in Europa, die möglicherweise dann auch ambivalenter gegenüber der taiwanesischen Demokratie ist? Oder sollen wir amerikanischer werden im Sinne einer Eindämmung Chinas? Die Bundesrepublik ist groß genug, um sich da eigenständig positionieren zu müssen. Aber, die noch nicht erschienene deutsche Chinastrategie zeigt, wie schwer sich die Bundesregierung als Koalitionsregierung tut, da einen klaren Kurs vorzugeben. Und das ist ein Bereich, in dem die Bundesrepublik führen könnte, wenn sie da führen wollte. Dazu müsste sie sich aber schon mit ihren Partnern vorab absprechen und sie nicht vor vollendete Tatsachen stellen und nachträglich Gefolgschaft erwarten. So funktioniert internationale Kooperation nicht.
Also sind für deutsche Führung institutionelle Reformen nötig?
Sebastian Harnisch: Ich glaube, dass Reformen nötig sind. Es gibt Themen, die mittlerweile sehr viele Politikbereiche betreffen. Nehmen wir mal den Bereich der Cyberverteidigung der Bundesrepublik und der Europäischen Union. Das geht einfach quer zu vielen ministerialen Sachlogiken. Die Europapolitik gehört mit dazu und vieles andere mehr. Das Problem ist, dass die jetzige Aufteilung, auch ein bisschen der Logik der von Koalitionsregierungen entspricht und uns sicherlich auch nicht damit gedient wäre, das Kanzleramt weiter als Zentrale im Sinne einer Präsidialisierung des parlamentarischen Regierungssystems zu stärken. Bei institutionellen Reformen würde es darum gehen, Strukturen zu schaffen will, die mit der parlamentarischen Demokratie und den Koalitionsregierungen, die wir haben zusammenpassen. Und das sehen Sie ja jetzt auch bei der Abstimmung der Nationalen Sicherheitsstrategie und der China Strategie, dass der interministerielle Prozess nicht besonders gut funktioniert. Deswegen gibt es da aus meiner Sicht sehr wohl Handlungsbedarf. Die Frage, wie das systemkonform aussehen könnte, ist dabei entscheidend, ein nationaler Sicherheitsrat ist eine Möglichkeit, aber nicht die einzige oder beste.
Prof. Dr. Sebastian Harnisch ist Professor am Institut für Politische Wissenschaft der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der deutschen und amerikanischen Außenpolitik, der Theorien der Internationalen Beziehungen, der koreanischen Halbinsel und der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen.
Harnisch, Sebastian
Zu wenig Macht, zu wenig Zivilcourage / S. Harnisch. - Wien : FES Regional Office for International Cooperation - Cooperation and Peace, Februar 2023. - 14 Seiten = 500 KB, PDF-File. - Electronic ed.: Wien : FES, 2023ISBN 978-3-98628-240-0
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