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Die EU darf ihre Augen nicht vor dem Sterben im Mittelmeer verschließen. Sie muss eine humane Lösung für Migration finden.
Bild: von Reuters
Den englischen Originalbeitrag The gap between expectation and reality können Sie hier lesen
Anfangs wurde das Projekt Europäische Union (EU) den Blockstaaten als rein praktisches Unterfangen verkauft: Freie Märkte, Wohlstand, Sicherheit und einfacheres Reisen. Schon früh jedoch wurde klar, dass die EU in den Augen ihrer Gründer_innen zu etwas Höherem berufen war. So war das europäische Projekt ein Experiment, konzipiert um den Nullsummenwettbewerb zwischen Nationalstaaten und eine Identität zu überwinden, die ausschließlich auf Basis von Ethnizität definiert wird. Eine Situation also, die in der letzten Generation zweimal in die Katastrophe von Weltkriegen führte.
Der damalige norwegische Außenminister Halvard Lange stellte nach dem 2. Weltkrieg einen Vergleich zwischen den frühen amerikanischen Kolonien und dem derzeitigen Europa her: Europa sei von regionalen Blöcken geprägt, die nach und nach ihre Identität und Autonomie ablegen und zu einer vereinten Nation werden würden. Im Jahr 1949 nannte der französische Außenminister Robert Schuman die Anfangsphase der Union „ein großes Experiment, das dem Krieg ein Ende bereiten und ewigen Frieden garantieren würde“. Die gegenwärtige Zersplitterung der EU wäre wohl für beide, Schuman und Lange, kaum zu glauben.
Die Finanzkrise, die Schuldenkrise in Griechenland, die Ukraine-Krise, der Brexit-Krise und die sogenannte „Flüchtlingskrise“ - verbunden mit der Hybridisierung des Schengen-Abkommens und der nicht ausführbaren Dublin-Verordnung - rütteln an der Legitimation der EU.
Auch vor den verstärkten Fluchtbewegungen 2015 brachte der Anstieg von Asylsuchenden in der EU die bestehenden Regelungen zur Aufnahme von Geflüchteten ins Wanken. Die Zahl von Menschen, die in Europa Asyl suchten, stieg zwischen 1976 und 1990 von 20.000 auf 450.000 an. Einwanderung wurde schnell zu einem zentralen Sorgenthema und Geflüchtete und Asylsuchende zum Sündenbock für zunehmende Unterbeschäftigung und Arbeitslosigkeit, steigende Kriminalität und fundamentalistischen Terror.
Rechtsextreme Parteien fanden bei den Menschen Anklang, die sich von Globalisierung, Modernisierung und wirtschaftlicher Integration bedroht fühlten. Die Front National gewann in Frankreich bereits Mitte der 1980er Jahre an Boden, da sie Ängste vor einer Bedrohung der nationalen und kulturellen Homogenität durch Geflüchtete und Einwandernde schürte. Die Folge ist ein seitdem zunehmender politischer Rechtsruck, insbesondere in Zeiten einer vermeintlichen „Krise“.
Heute sind weltweit mehr als 68 Millionen Menschen auf der Flucht vor anhaltenden und lange andauernden Konflikten, vor Verfolgung und aufgrund der Folgen des Klimawandels. Paradox ist, dass der relativ geringe Zustrom von Geflüchteten in die EU – winzige 0,2 Prozent der Gesamtbevölkerung – als „europäische Flüchtlingskrise“ bezeichnet wurde.
Allerdings ist diese sogenannte Krise kein Neuland für die EU, trotz unterschiedlicher Grundursachen und Symbolpolitik. Mit der Auflösung der Sowjetunion begann eine Reihe von Konflikten in ganz Osteuropa, als Staaten zerfielen und neue gegründet wurden. In den 1990er Jahren wurde Einwanderung von Osteuropa nach Westeuropa begrüßt und als ideologischer Sieg des liberalen Westens betrachtet. Im Gegenteil dazu wird die aktuelle Situation als Belagerung von fremdländischen Muslim_innen dargestellt, die mit ihrer andersartigen Kultur Europa übernehmen.
Bereits im Jahr 2011 waren der Konflikt in Syrien und die möglichen Ausmaße deutlich zu erkennen – natürlich nur für diejenigen, die sie sehen wollten. 2015 verzeichnete Syrien alarmierende 4 Millionen Geflüchtete und 8 Millionen Binnenvertriebene (Internally Displaced Persons, IDPs). Trotz der Vorhersagen von Migrationsexpert_innen war die EU von den steigenden Zahlen Migrierender wie gelähmt. Im ständigen Versuch, eine einheitliche Antwort zu vermeiden, hat die EU die tatsächlichen Symptome und zugrundeliegenden Mechanismen zeitgenössischer Migrationsbewegungen wiederholt verkannt.
Anfang 2015 war die EU primär auf die bereits bekannten Migrationsmuster fokussiert – Wirtschaftsmigration aus Afrika nach Spanien oder über das Mittelmeer und die Inseln Sizilien und Lampedusa nach Italien. Die steigende Zahl von Todesfällen und das Problem von Schlepperbanden führte dazu, dass sich die EU weiterhin überwiegend auf das "afrikanische Problem" konzentrierte. Und das, obwohl sich im Nahen Osten bereits eine größere Krise mit einem andergelagerten und komplexeren Migrationsmuster abspielte.
2015 bildete der Valetta-Gipfel mit dem Khartum-Prozess, ebenso wie spätere Abkommen zwischen der EU und der Türkei bzw. Libyen, die Grundlage für die Externalisierung der Migrationspolitik. Ersterer brachte die Staatsoberhäupter der Afrikanischen Union (AU) und der EU an einen Tisch. Einfach ausgedrückt, finanziert die EU über den Khartum-Prozess afrikanische Länder, um Migrant_innen in ihren Herkunftsländern zu halten und leistet diesen Ländern im Gegenzug Entwicklungshilfe. Während sich der Valetta-Gipfel wieder nur auf die traditionellen Migrationsmuster Richtung EU konzentrierte, erreichte die zweite Fluchtbewegung aus dem Nahen Osten ihren Höchststand.
Die in dieser Situation von der EU beschlossenen Maßnahmen sind kurzfristige ad-hoc Lösungen, die allenfalls Symptome bekämpfen. Hierzu gehören die Schließung der Westbalkan-Route, die diversen Abkommen mit der Türkei und Libyen sowie die zunehmende Auflösung der Dublin-Verordnung. Letztere wurde durch die von Innenminister Matteo Salvini angeordnete Schließung aller italienischen Häfen für die Landung von Schiffen mit Migrant_innen und geflüchteten Menschen an Bord weiter vorangetrieben.
Die Externalisierungsabkommen (Khartum-Prozess, EU-Türkei und EU-Libyen Abkommen), deren erklärtes Ziel eigentlich ist, Schlepperbanden das Handwerk zu legen, bewirken also genau das Gegenteil: Sie befeuern den Menschenschmuggel und verschließen die Augen vor dem Sterben auf dem Meer oder den Versuchen von Menschen über gefährliche Fluchtrouten zu fliehen. So halten die Abkommen das migrationsfeindliche Narrativ der extremen Rechten am Leben und ignorieren gleichzeitig völkerrechtliche Bestimmungen und humanitäre Pflichten.
Indem die EU das millionenschwere Italien-Libyen-Abkommen unterstützt und dadurch die libysche Küstenwache finanziert, nimmt sie in Kauf, dass Geflüchtete in unmenschlichen Lagern festgehalten werden und vermeidet es bewusst, Verantwortung für die notleidenden Menschen zu übernehmen.
Das Italien-Libyen-Abkommen steht sinnbildlich für die Strategie der EU: Durch die Unterstützung strenger Migrationskontrollen sollen Migrant_innen in ihren Herkunftsländern verbleiben. Gleichzeitig wird die Verantwortung für den Schutz der Rechte dieser Menschen den Entsenderländern zugeschoben. Das Ergebnis ist, dass die meisten Flüchtline und Migrant_innen ihr Recht auf Asyl nicht auf legalem Weg einfordern können. Denn die einzige Möglichkeit, eventuell Asyl gewährt zu bekommen ist, Europa durch illegale Mittel und auf gefährlichen Migrationsrouten zu erreichen.
Die eigentlichen Probleme, nämlich die anhaltenden Krisen im Nahen Osten und in Afrika, bleiben jedoch bestehen. Innenpolitische Spannungen haben zu Brüchen zwischen EU-Mitgliedsstaaten geführt – und ebenso anders herum. Trotz dieser offensichtlichen Spannungen weigern sich die EU Staats- und Regierungschefs, sich den wirklichen Problemen zu stellen und schieben diese weiterhin vor sich her.
Im Jahr 2018 starben mehr als 2000 Menschen bei dem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren – ein direktes Resultat der durch die Politk der EU zunehmend gefährlicheren Routen und der illegalen Mittel, zu denen Migrant_innen gezwungenermaßen greifen müssen. So steigt die Zahl der Todesfälle weiterhin an, während die Zahl der Menschen die Europa erreichen sinkt.
Die EU kann ihre Augen nicht weiterhin verschließen. Es besteht kein Zweifel, dass Menschen auch zukünftig vor den ausgedehnten Konflikten im Nahen Osten und Afrika nach Europa fliehen, oder es zumindest versuchen werden – und dabei ihr Leben riskieren.
Migrationsbewegungen sind ein symbolischer Ausdruck und Träger von Wandlungsprozessen in der globalisierten Welt. In jüngster Zeit haben diese jedoch einen sehr tragischen Charakter angenommen.
Wir erleben momentan die intensive Ausdehnung des staatlichen Sicherheitsapparates und die Zunahme einer angstbasierten Politik, insbesondere um die „Festung Europa“ herum. Globalisierung und Migration, beides Phänomene unserer Zeit, werden durch die zunehmende Verzahnung von Handel, Kapital, Gütern, Dienstleistungen und Kommunikationsnetzwerken angetrieben. Doch trotz dieser weitreichenden globalen Vernetzung besteht gegenüber der Bewegungsfreiheit von Menschen Feindseligkeit – insbesondere wenn diese Menschen um ihr Leben fliehen, arm sind, aus einer anderen Kultur stammen, oder einfach nur den falschen Pass haben.
Ein Beitrag von Peter Ruhenstroth-Bauer, Geschäftsführer der UNO-Flüchtlingshilfe, anlässlich des Weltflüchtlingstages am 20. Juni.
Die Kriminalisierung von NGOs und die Unterstützung libyscher Milizen sind kein Ersatz für eine europäische Lösung im Mittelmeer.
Niger ist ein Schlüsselstaat für Migration aus Afrika nach Europa. Doch die westliche Militärpräsenz wird dort kritisch gesehen.
Anlässlich des Weltflüchtlingstages am 20. Juni sprachen wir mit Marie von Manteuffel von Ärzte ohne Grenzen über die Lage im Mittelmeer.
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