Die Behauptung von Thilo Sarrazin, Muslime seien aufgrund ihrer genetischen Beschaffenheit zu wenig intelligent, um sich in eine Demokratie zu integrieren, sind nur ein Beispiel einer grassierenden Feinseligkeit dem Islam gegenüber, die sich immer wieder zum mörderischen Hass steigern kann.
Die Mordserie des NSU in Deutschland und zahlreiche Gewalttaten mit rassistischer oder fremdenfeindlicher Motivation gegen Muslime zeigen, dass ständig öffentlich wiederholte Vorurteile das Risiko einer Entgrenzung von Gewalt gegen Muslime und anderen "schwachen Gruppen" im Sinne der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit drastisch erhöhen können.
Sarrazins Thesen sind von der an der Humboldt-Universität lehrenden Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan ausführlich widerlegt worden (10), aber die populistische Wirkung läßt sich nicht ohne weiteres ungeschehen machen.
Im Extremfall wird der Umgang mit dem Islam hin zur kompletten Abgrenzung radikalisiert.
- Die Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS, Prawo i Sprawiedliwosc) in Polen und der rechtskonservative Premierminister Viktor Orbán in Ungarn wollen überhaupt keine Muslime in ihren Ländern.
- In Polen bildet die Erinnerung an den litauisch-polnischen König Jan III. Sobieski eine wirksame Erinnerungsfolie. Dieser besiegte 1683 die Türken bei Wien und gilt wie "Türkenschreck" Prinz Eugen 1716 in gleicher Funktion als Retter des Abendlandes (11).
- Im aktuellen Nationalismus Ungarns wird die osmanische Zeit als Fremdherrschaft erinnert.
Die Auseinandersetzung mit dem Islam funktioniert oftmals nach den Prinzipien von Halbwissen, Verallgemeinerung und Herabwürdigung (12).
Allerdings trug (trägt) auch der Umgang mit katholischen Iren und Irinnen im anglikanischen England oft Elemente von Rassismus in sich. Trotzdem wären Menschen, die in den 1960er Jahren in Westdeutschland gegen die katholische Sexualmoral demonstrierten, nicht eingefallen, dies zu unterlassen, weil Katholik_innen in Nordirland und England unterdrückt wurden.
Man kann eine Religion durchaus kritisieren, ohne die Diskriminierung ihrer Angehörigen durch die Mehrheitsgesellschaft zu bagatellisieren oder zu unterstützen. Im Kontext einer zeitgenössischen Demokratisierungspolitik ist es wünschenswert, jede Religion an den Errungenschaften der Aufklärung zu messen.
Ein anderes Beispiel liefert der Versuch, sogenannte bildungsferne Schichten in den 1960er und 1970er Jahren stärker an die Universitäten heranzuführen. Die "katholische Arbeitertochter vom Land" bildete den idealtypischen Fall der Bildungsdiskriminierung. Das Engagement für sie hinderte nicht daran, die katholische Kirche und ihre Repräsentanten zu kritisieren.
Die Unentschlossenheit, den Islam an den Traditionen der Aufklärung zu messen, bedeutet einen schwerwiegenden Rückschritt säkularer Religionskritik von denjenigen politischen Akteur_innen, die aus der Arbeiterbewegung oder den Neuen Sozialen Bewegungen entstanden sind.
Von Fall zu Fall wird der Anspruch der allgemeinen Prinzipien der Aufklärung ohne Not eingeschränkt.
Das mag auch damit zu tun haben, dass die Kritik am Christentum für viele Linke auch Selbstkritik und Aufarbeitung der eigenen Geschichte bedeutet. Es ist die Abarbeitung an den Autoritäten aus Kindheit und Jugend. Der Islam gilt auch vielen von denen, die die Rede vom "Kampf der Kulturen" für falsch halten als "das Fremde" (13) oder als Teil davon.
Warum gibt es diese falsche Zurückhaltung, obwohl der Islam als Teil der Gesellschaft doch zu Deutschland gehört und als solcher kritisiert werden kann?