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Indiens Plattformökonomie wächst rasant. Das bringt neue Jobs aber auch Unsicherheit. Ein Beitrag von Anup Srivastava.
Plattformarbeit bietet vielen Menschen einen dringend benötigten Arbeitsplatz. Aufgrund der unwürdigen Arbeitsbedingungen werden die Arbeiterinnen und Arbeiter der digitalen Wirtschaft allerdings schnell zum Gesicht einer ausgebeuteten Arbeiterschaft und einer sich verändernden Beschäftigungslandschaft.
Die Anwendung digitaler Technologien beeinflusst rasch die Art und Weise, wie auf der ganzen Welt Geschäfte gemacht werden. Die COVID-19-Pandemie hat diesen Wandel noch weiter befeuert, besonders in großen Ballungsräumen und Sekundärstädten, wo immer mehr Menschen Produkte und Dienstleistungen lieber online bestellen. Dies hat zu einem Anstieg der Gig- und Plattformarbeit geführt. Der Dachverband der Indischen Industrie- und Handelskammern (Associated Chambers of Commerce and Industry of India) stellte fest, dass es 2020 im gesamten Land 15 Millionen Gig-Arbeiterinnen und Arbeiter gab.
Der Aufschwung der Gig- und Plattformunternehmen schafft schnell ein neues Geschäfts-Ökosystem, das den Kunden ein besseres Einkaufserlebnis bietet, bei dem sie eine große Vielfalt an Produkten und Dienstleistungen einschließlich günstigerer Mobilitätsangebote bequem von zu Hause aus bestellen können. Aber die Millionen von Gig- und Plattformarbeiterinnen und Arbeiter, die dieses Konzept zur Realität werden lassen, erhalten nicht einmal minimale Einkommensgarantien und eine angemessene soziale Absicherung. Das Fehlen eines sozialen Dialogs und einer konkreten Beziehung zwischen Angestellten und Arbeitgebern kommen zu diesen Missständen noch hinzu. Angelockt durch wohlklingende Tätigkeitsbezeichnungen wie Zustellpartner, Beförderungspartner oder unabhängige Vertragspartner, um nur einige zu nennen, sind diese Arbeiterinnen und Arbeiter ungeschützt und müssen in Krisenzeiten selbst sehen, wo sie bleiben, wie man es während der COVID-19-Pandemie deutlich beobachten konnte.
65 Prozent der indischen Bevölkerung ist unter 35 Jahre alt. Während dies ein gutes Omen für das potenzielle Wirtschaftswachstum und die sich daraus ergebenden Vorteile der demografischen Dividende des Landes ist, sieht die Wirklichkeit doch etwas anders aus. Indiens demografische Dividende ist vielmehr zur Herausforderung geworden, da nicht genug Arbeitsplätze für alle Neuzugänge im Arbeitsmarkt vorhanden sind. Zwei Jahre nach der COVID-19-Pandemie ist die Jobsuche eine enorme Herausforderung für Millionen von freigesetzten indischen Arbeiterinnen und Arbeitern. Ein neuer Hoffnungsschimmer ist nun die schnell wachsende Gig Economy und Plattformwirtschaft und deren Chancen.
Der Anstieg dieser Beschäftigungsform hat die Aufmerksamkeit von Forscherinnen und Forschern, der Wissenschaft, der politischen EntscheidungsträgerInnen, Think Tanks und ArbeitsrechtsaktivistInnen überall auf der Welt auf sich gezogen. Diese Jobs ermöglichen mehr Flexibilität und unabhängiges Arbeiten - Faktoren, die für junge Arbeiterinnen und Arbeiter attraktiv sind. Die Kehrseite der Medaille ist jedoch, dass diese Beschäftigten letzten Endes lange Arbeitstage in Kauf nehmen, ein mageres Einkommen haben, keinerlei soziale Absicherung erhalten und schlechten Arbeitsschutzbedingungen ausgesetzt sind. Manchmal riskieren sie sogar ihr Leben, um zeitgebundene Aufgaben zu erfüllen, beispielweise die App-gesteuert arbeitenden Fahrerinnen und Fahrer, die Lebensmittel und andere Güter und Dienstleistungen ausliefern. Laut dem Fairwork India-Bericht 2021 erreicht nur eines von elf Unternehmen mehr als fünf Punkte auf der 10-Punkte-Skala von Fairwork. Diese bewertet Plattformen nach Grundsätzen wie faire Bezahlung, Arbeitsbedingungen, Arbeitsverträge, Management und Vertretung der Beschäftigten.
Das unverminderte Wachstum der Plattformwirtschaft stößt nun länderübergreifend auf Widerstand. Arbeiterinnen und Arbeiter haben begonnen, für ihre Rechte einzutreten und erlangten die Aufmerksamkeit der Gesetzgeber. Sie forderten sie auf, Maßnahmen zu ergreifen und ihre Interessen zu schützen. Einzel- und Kollektivklagen setzen Regierungen unter Druck und fordern mehr Klarheit, insbesondere im Hinblick auf den Status der Beschäftigten und auf ihre Rechte. Positive Entscheidungen zugunsten der Arbeiterinnen und Arbeiter in Gerichtsverfahren in England, den Niederlanden und Deutschland sowie Gesetzgebungsinitiativen in Italien, Frankreich und Spanien stellen die Weichen neu und ermuntern Gesetzgeber auch anderswo, über eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen in diesem Sektor nachzudenken. Als wichtige Entwicklung ist auch zu betrachten, dass die Europäische Kommission 2021 eine Richtlinie formulierte, deren Ziel die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Plattformwirtschaft in der gesamten Europäischen Union ist.
Auch in manchen asiatischen Ländern wie z.B. Indien, China, Pakistan und Singapur gibt es Bemühungen, einige der vorherrschenden Probleme anzupacken.
Über 90 Prozent der indischen Arbeiterschaft ist im informellen Sektor tätig. Das ungeregelte Wachstum der Plattformwirtschaft könnte eine neue Welle informeller Beschäftigung einleiten und ist deshalb ein Anlass zur Sorge.
Gig-Economy und Plattformwirtschaft entwickeln sich im Land gerade erst. An unterschiedlichen Orten der Welt gibt es Fälle, in denen Klarheit über den Status der Beschäftigten geschaffen wurde sowie Beispiele für Regulierungsversuche, und diese bereiten den Weg, damit auch andere Länder solche Regulierungsmaßnahmen an ihre örtlichen Gegebenheiten anpassen oder überhaupt eine Regulierung in Erwägung ziehen.
In Indien wurden Regelungen, die die Beschäftigten der Gig- und Plattformwirtschaft betreffen, 2020 ins Sozialgesetzbuch aufgenommen (dieUmsetzung steht noch aus). Dies ist ein begrüßenswerter Schritt und macht den Arbeiterinnen und Arbeitern Hoffnung auf soziale Absicherung in irgendeiner Form und in unmittelbarer Zukunft. Es muss jedoch mehr getan werden, um ihr Recht auf bessere Arbeitsbedingungen zu sichern. Dazu gehören Aspekte wie Mindestverdienst, Arbeitsschutz und die Ausübung von Rechten am Arbeitsplatz.
Künftig sollten politische EntscheidungsträgerInnen einen sozialen Dialog mit allen drei beteiligten Seiten und anderen gleichgesinnten Akteuren in Erwägung ziehen, um Möglichkeiten zur Regulierung der Plattformwirtschaft zu finden. Natürlich sollte eine solche Regulierung das Geschäft nicht drosseln und sollte keinesfalls abschreckend auf den Kapitalzufluss wirken. Erforderlich ist ein ausgewogener Ansatz, der die Kontinuität der Geschäftstätigkeit nicht stört, gleichzeitig aber die grundlegenden Rechte der Beschäftigten und menschenwürdige Arbeitsbedingungen nicht gefährdet.
Anup Srivastava ist Programmberater für Arbeits- und industrielle Beziehungen im Büro der FES in Indien. Mehr Informationen und regelmäßige Updates über die Arbeit des Büros finden sich auf dessen Website oder Facebook-Seite.
Der Artikel erschien am 02.05.22 in englischer Sprache auf asia.fes.de.
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