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In der Bewertung des Russischen Angriffs unterscheiden sich Polen und die Baltischen Länder von den Sichtweisen in Deutschland und Westeuropa. Unser Büroleiter in Riga Dr. Reinhard Krumm blickt in seinem Gastbeitrag auf die verschiedenen Sichtweisen.
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat in Deutschland eine Zeitenwende und in Polen sowie den drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen eine beispielslose Welle der Solidarität und Unterstützung gegenüber der Ukraine ausgeölst. Gleichzeitig zeigte sich dort ein hohes Misstrauen gegenüber Deutschland. Berlin, so der Vorwurf, hätte jahrelang ein ungehörig gutes Verhältnis mit Russland gepflegt und dabei die Mahnungen aus Mittelost- und Nordosteuropa gegenüber diesem gefährlichen Land sträflich missachtet.
Schon zuvor war das Deutschlandbild in den vier östlichen EU-Mitgliedstaaten seit Jahren immer kritischer geworden. Die deutsche Politik nahm dies zwar durchaus wahr, unterschätzte dabei aber zwei Entwicklungen – zum einen die Spätfolgen des seit Jahren nachlassenden Interesses Deutschlands, vor allem am Baltikum, weniger an Polen, und zum anderen die in diesen Staaten immer geringer werdenden Kenntnisse über Deutschland, seine sicherheitspolitischen Interessen und die damit zusammenhängenden kontroversen Debatten.
Dazu gehörte auch, dass es in der deutschen Gesellschaft weiterhin viele Vorbehalte gegenüber jeglichen Kriegen gibt. Diese Lehre aus den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, aber auch aus den militärischen Einsätzen in Afghanistan (mit deutscher Beteiligung) und dem Irak-Krieg (ohne deutsche Beteiligung), ist weit verbreitet. Das Verständnis, einen guten Krieg führen zu können, fällt in Deutschland schwer. Auch wenn der Einsatz deutscher Soldaten im ehemaligen Jugoslawien Blutvergießen beenden konnte.
Diese anti-militärische Einstellung stößt in den drei baltischen Staaten und in Polen auf völliges Unverständnis. Und das schon seit Jahren. Unvergessen die Aussage des einstigen polnischen Außenministers Radosław Sikorski: „Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit.“ Er bezog das vor allem auf die Wirtschaftsmacht Deutschland, doch später kritisierte er im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine auch die mangelnde sicherheitspolitische Führungsstärke Berlins. Und der ehemalige lettische Verteidigungsminister Artis Pabriks legte auf Twitter noch nach: „Können wir Deutschland vertrauen, wenn es um die Verteidigung Lettlands und der Nato geht? Wir sind bereit zu sterben. Und Sie?”
In den Hauptstädten Riga, Tallinn, Vilnius und Warschau ist der Krieg kein kühl analysierter „europäischer Krieg“, sondern wird emotional als „unser Krieg“ bezeichnet und empfunden. Denn dass, was in der Ukraine geschieht, erinnert fatal an die jeweilige eigene Geschichte. Sei es durch den Einmarsch der sowjetischen Truppen in alle vier Länder aufgrund des Geheimabkommens zwischen Deutschland und der Sowjetunion 1939, sei es durch die erneute Okkupation nach 1944 und sei es vor allem durch die in dieser Zeit stattgefundenen Deportationen und Ermordungen von Menschen. Daher das klare Ziel für die Ukraine, diesen Krieg zu gewinnen und alle Territorien zurückzugewinnen. Sonst, so die Befürchtung, ist das Baltikum das nächste Ziel einer möglichen russischen Aggression. Es geht um alles oder nichts, tertium non datur.
Deshalb könne eine Berichterstattung über die Ukraine auch in keiner Weise neutral, abwägend oder gar kritisch sein, so zumindest einige Mitglieder einer Gruppe baltischer und polnischer Journalist_innen bei einem Gespräch mit Vertreter_innen der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin. Und natürlich seien die Redaktionsräume nicht selten in die ukrainischen Nationalfarben, gelb und blau getaucht. Denn Parteinahme sei nachvollziehbar, weil es, erneut, „unser Krieg“ ist, der Feind ist Russland. Im Gegensatz zu Deutschland, so die Journalist_innen, könnten sich die Menschen in ihren Ländern eine russische Aggression gegen ihr Land konkret vorstellen.
Während in der Vergangenheit in Deutschland grob formuliert zwei Denkschulen zu Osteuropa existierten, so war dies in Mittelost- und Nordosteuropa nicht der Fall. Dort gab es nur die polnisch-baltische Denkschule, die ihren Anteil am Ende des Kalten Krieges, zusammen mit dem der USA, hochschätzt und schon zu Beginn der 1990er Jahre die größtmögliche Distanz zu Russland forderte. Die russische Denkschule, in Deutschland weiter verbreitet als die polnisch-baltische, erkannte vor allem in Gorbatschow und seiner Politik den Grund für die Möglichkeit der deutschen Einheit und fühlte sich folglich verantwortlich, Russland seit 1990 im Rahmen der OSZE in das europäische Sicherheitssystem einzubinden.
Dies scheint für die kommenden Jahrzehnte nicht mehr möglich zu sein. Gleichwohl wird Russland sich nicht in Luft auflösen. So stellen sich in allen Staaten gleichermaßen Fragen zum zukünftigen Verhältnis mit Moskau: Kann man nach dem Krieg tatsächlich noch von Russland als einem Teil Europas sprechen, oder muss das Verhältnis völlig neu definiert werden? Wie sollen Veränderungen herbeigeführt werden? Durch einen Wechsel der Regierung, möglicherweise durch den Westen initiiert? Oder ist ein Wandel Russlands nur von innen, aus der eigenen Gesellschaft heraus möglich? Vor diesem Hintergrund besteht eine Chance sowohl für die baltischen Staaten als auch für Polen und Deutschland sich gemeinsame Antworten zurecht zu legen. Denn die Frage einer zukünftigen Sicherheit ist eine europäische – und damit unsere.
Dr. Reinhard Krumm leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung für die Baltischen Staaten in Riga. Zuvor war er unter anderem als Leiter des FES-Regionalbüros für Zusammenarbeit und Frieden in Europa mit Sitz in Wien, des FES-Büros in Moskau und des Referats Mittel- und Osteuropa in Berlin tätig.
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