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Die Währungsunion stabilisieren – aus Solidarität und Eigeninteresse

von Sebastian Watzka



Die mit der Corona-Pandemie verbundene schwere Wirtschaftskrise gefährdet den Wohlstand Europas und die Stabilität des Euroraums. Je länger sie andauert, desto größer wird der wirtschaftliche Schaden auch längerfristig sein. Bereits jetzt zeichnet sich eine im Vergleich zur wirtschaftlichen Erholung nach der Finanzkrise von 2008/09 nur äußerst zögerliche Rückkehr zum Vorkrisenniveau des Bruttoinlandsprodukts der meisten Euroraum-Länder ab. Die Corona-Krise verschärft aber nicht nur die bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme im Euroraum, sie legt zugleich auch die weitestgehend ungelöst gebliebenen Defizite in der institutionellen Architektur der Europäischen Währungsunion (EWU) schonungslos offen.

Asynchronität und Divergenz im Euroraum

Eines der zentralen Probleme der EWU ist das Auseinanderdriften der wirtschaftlichen Entwicklung in den verschiedenen Euroländern. Diese Tendenz wird systematisch verstärkt durch die Geldpolitik der EZB, die sich naturgemäß immer an der gesamten Eurozone orientieren muss und auf die spezifischen Erfordernisse einzelner Mitgliedsländer nicht regelmäßig Rücksicht nehmen kann. Durch den einheitlichen Nominalzins, den die EZB vorgibt, fällt für boomende Volkswirtschaften mit vergleichsweise hoher Inflation der Realzins – also nach Preisbereinigung – zu niedrig aus, für stagnierende Länder dagegen zu hoch. Das fördert die Entstehung starker Boom-und-Bust-Zyklen. Zwar wären die nationalen Fiskalpolitiken grundsätzlich in der Lage, hier eine stabilisierende Rolle zu übernehmen. Aber die Eurokrise von 2010-2013 hat offengelegt, wie beschränkt diese Möglichkeit für viele Mitgliedsländer ist. Das fiskalpolitische Regelwerk führt in der Praxis zu einer weitestgehend prozyklischen Ausrichtung der nationalen Fiskalpolitiken. Damit lassen sich weder tragfähige Staatsschuldenniveaus noch eine angemessene Stabilisierung erzielen.

Trotz aller Koordinierungsbemühungen im Rahmen des Europäischen Semesters führen die fiskalpolitischen Regeln darüber hinaus nicht zum gewünschten fiskalpolitischen Kurs für den gesamten Euroraum. Dafür wäre einerseits eine stärkere Verpflichtung zu einer expansiveren Politik in Ländern mit fiskalischem Spielraum notwendig, und andererseits müsste ein Rahmen geschaffen werden, in dem wirtschaftlich angeschlagene Länder die notwendige fiskalische Stabilisierung ihrer Wirtschaft in Krisenzeiten ungehindert leisten können. Das ist nicht der Fall. Denn eine weitere institutionelle Schwäche des Euroraums stellen die regelmäßig aufkeimenden Zweifel an der Zahlungsfähigkeit einzelner Mitgliedsländer dar. Solange es keine wirksamen Garantien für die Sicherheit nationaler Staatsanleihen – einen sogenannten Kreditgeber letzter Instanz (Lender of Last Resort; LoLR) – gibt, steht die Solvenz einzelner Mitgliedsländer des Euroraumes immer wieder infrage.

Zudem hat die Einführung strenger Budget- bzw. Verschuldungsregeln und die sich anschließende Austeritätspolitik in den vergangenen Jahren zu einer starken Vernachlässigung der öffentlichen Investitionen im Euroraum geführt. Gerade sie spielen aber für die längerfristige Wachstums- und Wohlstandsentwicklung von Volkswirtschaften eine entscheidende Rolle. Durch die zu restriktiven fiskalpolitischen Regeln ist der Euroraum wie die EU insgesamt folglich nicht in der Lage, auf Herausforderungen wie die Digitalisierung, den Klimawandel oder die Alterung der Gesellschaft adäquat zu reagieren und in die Zukunft angemessen zu investieren. Damit fehlt dem Euroraum letztendlich auch in erheblichem Maße die Möglichkeit, langfristige Konvergenzprozesse mit fiskalischen Mitteln zu unterstützen, die notwendig sind, um der zwischen den Mitgliedsländern zu beobachtenden zunehmenden ökonomischen und technologischen Polarisierung entgegenzuwirken.

Auf europäischer Ebene sind darüber hinaus die Instrumente, die eine stabilisierende Wirkung entfalten könnten, immer noch zu wenig ausgeprägt. So fehlt bis heute beispielsweise eine europäische Fiskalkapazität oder auch eine europäische Rückversicherung für nationale Arbeitslosenversicherungen, von denen signifikante Stabilisierungseffekte ausgehen könnten. Solange dies der Fall ist, bleibt die konjunkturpolitische Stabilisierungs- bzw. Steuerungsfähigkeit des gesamten Euroraums weit hinter ihrem Potenzial zurück. Und schließlich ist auch das Europäische Semester, mit seinen länderspezifischen Empfehlungen und dem makroökonomischen Ungleichgewichtsverfahren nicht in der Lage, Instabilitäten und gesamtwirtschaftliche Ungleichgewichte effizient und in adäquater Weise zu verhindern. Die Regelungen sind zu wenig bindend, wie die über lange Zeit exzessiv hohen deutschen Leistungsbilanzüberschüsse zeigen.

Zudem wird mit diesen Instrumenten das Problem des steuer- und auch des lohnpolitischen Unterbietungswettlaufs in Europa nicht in ausreichendem Maße adressiert. Der Standortwettbewerb um niedrigere Steuern belastet die nationalen öffentlichen Haushalte zusätzlich. Und die mangelnde Koordination nationaler Lohnpolitiken führt in vielen Volkswirtschaften immer wieder zum Abweichen vom stabilitätskonformen Lohnpfad, insbesondere zu dessen Unterschreitung, mit ebenfalls problematischen Folgen: binnenwirtschaftlich verschlechtert sich die Einkommensverteilung erheblich, was die Nachfrage im Inland dämpft, und außenwirtschaftlich gehen damit große makroökonomische Ungleichgewichte einher, was zu schweren Finanz- und Wirtschaftskrisen in der Eurozone führen kann.

Stabilisierung des Euroraums und Prosperität in Europa

Einige wichtige Reformmaßnahmen der vergangenen zehn Jahre haben ein Auseinanderbrechen des Euroraums bisher verhindert. Besonders die Geldpolitik der EZB unter der Präsidentschaft von Mario Draghi hat dazu beigetragen. Sie wurde dabei aber zunehmend überfrachtet, da sie sich einer zu wenig expansiv ausgerichteten Fiskalpolitik der Mitgliedsländer für den Euroraum als Ganzem ausgesetzt sah. Bis heute liegt der Fokus zur Bekämpfung ökonomischer Verwerfungen und Krisen vorrangig bei der Geldpolitik der EZB. Inzwischen ist die Nullzinsgrenze jedoch längst erreicht, und die Geldpolitik alleine kann den Euroraum nicht ausreichend und differenziert genug stabilisieren und stimulieren.

Auch die Gründung der Europäischen Bankenunion und die Etablierung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) waren wichtige Stabilisierungsmaßnahmen. Beide sind aber mit Mängeln behaftet und nicht abgeschlossen. Zur Vervollständigung der Bankenunion fehlt noch immer die dritte Säule: die gemeinsame europäische Einlagensicherung. Hierfür hat die Europäische Kommission zwar detaillierte Pläne vorgelegt, sie ist politisch bislang aber immer noch nicht in Sicht. Mit Blick auf den ESM ist fraglich, ob er in seiner gegenwärtig gewählten Form und Funktionsweise in schweren systemischen Finanz- und Wirtschaftskrisen als Rettungsschirm für alle Krisenstaaten und als Fiscal Backstop für das Bankensystem im Euroraum ausreichend finanzpolitische Feuerkraft entfalten kann.

Typischerweise ist letztlich immer nur die Zentralbank eines Landes bzw. eines Währungsraumes robust genug und in der Lage, das Gesamtsystem in schweren Krisensituationen effektiv zu stabilisieren. Dies setzt jedoch voraus, dass sie die Funktion des Kreditgebers der letzten Instanz effektiv ausfüllen kann. Zwar hat die EZB mit ihrem OMT-Programm einen gewissen Rahmen dafür geschaffen. Allerdings müssen sich die Mitgliedsländer im Krisenfall explizit den Konditionen eines ESM-Programms unterordnen. Insofern kann die EZB derzeit die ihr eigentlich zustehende Rolle des LoLR nur bedingt erfüllen.

Solange diese Mängel und Unwägbarkeiten bestehen, bleibt der Euroraum dauerhaft anfällig für spekulative Attacken. Daher muss die Bankenunion – neben weiteren Maßnahmen der Risikoreduzierung und -vermeidung (Sanierung des Bankensektors, strengere Banken- und Finanzmarktregulierung) – möglichst bald entlang des Vorschlags der Europäischen Kommission vervollständigt werden. Zudem sollte dringend die Frage nach dem Kreditgeber der letzten Instanz im Euroraum abschließend geklärt werden.

Daneben gibt es vor allem im Bereich der Fiskalpolitik tief sitzende Probleme, die durch weitere Schritte hin zu mehr europäischer Integration angegangen werden müssen. Das fiskalpolitische Regelwerk muss dringend reformiert werden, will man es nach Abklingen der Corona-Pandemie wieder anwenden und eine schädliche Austeritätspolitik mit der Gefahr eines weiteren wirtschaftlichen Auseinanderdriftens der Mitgliedsländer verhindern. Dabei muss das Ziel verfolgt werden, die nationalen Fiskalpolitiken sowohl stärker auf eine längerfristige Nachhaltigkeit (Vermeidung exzessiver Defizite und Schuldenquoten; zugleich Ermöglichung notwendiger öffentlicher Investitionen) als auch auf eine ausreichende Flexibilität zur kurzfristigen Stabilisierung auszurichten.

Im Rahmen des Konsultationsprozesses der Europäischen Kommission gibt es konkrete Vorschläge, wie eine solche Reform der europäischen Fiskalregeln aussehen könnte. Zum einen müsste die Staatsschuldenquote als zentrale (mittelfristige) Zielmarke der nationalen Fiskalpolitiken stärker in den Mittelpunkt fiskalischer Nachhaltigkeitsüberlegungen rücken und deren Obergrenze deutlich über der gegenwärtigen 60-Prozent-Maastricht-Grenze liegen. Zum anderen sollte die jetzige Haushaltsdefizit-Obergrenze von drei Prozent pro Jahr durch eine Ausgabenregel für Länder mit hohem Schuldenstand für nichtinvestive, konjunkturunabhängige Ausgaben ersetzt werden. Schließlich sollten öffentliche Investitionen in Form einer Goldenen Regel von der Ausgabenregel ausgenommen werden. Schuldenfinanzierte Nettoinvestitionen sollten dadurch auch bei höheren Staatsschuldenquoten möglich bleiben.

Auf europäischer Ebene sind zudem weitergehende Integrationsschritte sowohl im Bereich der gemeinsamen Konjunkturstabilisierung als auch im Bereich der gemeinsamen Finanzierung öffentlicher Investitionen erforderlich. Dabei ist der Europäische Aufbauplan der Europäischen Kommission ein in die richtige Richtung weisender Vorschlag. Da der geplante Wiederaufbaufonds aber nur als einmalige Maßnahme mit begrenzten finanziellen Mitteln zur Überwindung der aktuellen Corona-Krise gedacht ist, sind weitere Schritte hin zu einer permanenten gemeinsamen Fiskalkapazität im Euroraum notwendig. Ähnlich verhält es sich mit dem Programm SURE, einem vielbeachteten neuen europäischen Instrument zur Unterstützung von Kurzarbeit in den Mitgliedsländern während der Corona-Krise. Es sollte als Ausgangspunkt für Weiterentwicklungen genutzt werden, insbesondere zur Etablierung eines permanenten europäischen Rückversicherungssystems der nationalen Arbeitslosenversicherungssysteme.

Eine gemeinsame Fiskalkapazität, die über eigene Einnahmequellen wie eine Digitalsteuer oder eine Finanztransaktionssteuer verfügt, die zugleich aber auch gemeinsame europäische Anleihen (Euro-Bonds) auf den internationalen Finanzmärkten begeben kann, würde auch das bis heute nicht adäquat gelöste Problem fehlender sicherer (Staats-)Anleihen und damit eines fehlenden zentralen makroökonomischen Stabilitätsankers in der Eurozone adressieren. Für eine effektive fiskalpolitische Stabilisierung, für stabile Finanzmärkte und für eine effektive Geld- und LoLR-Politik der EZB sind sichere (Staats-)Anleihen im Euroraum unverzichtbar. Auch hier bestehen Vorschläge, wie speziell in Krisenzeiten gemeinschaftliche Anleihen im Euroraum emittiert werden könnten. An Euro-Bonds und damit an weiteren Maßnahmen zur zwischenstaatlichen Risikoteilung geht jedenfalls im Euroraum über kurz oder lang kein Weg vorbei.

Letztlich sind auch Maßnahmen zur besseren Koordinierung der nationalen Wirtschafts- und Sozialpolitiken in der Eurozone unumgänglich. Dazu sollte das Europäische Semester reformiert werden. Das Makroökonomische Ungleichgewichtsverfahren sollte symmetrischer und verbindlicher ausgestaltet werden. Zugleich sollten bei den koordinierenden, länderspezifischen Politikempfehlungen stärker auch ökonomische, ökologische, soziale und fiskalische Nachhaltigkeitsüberlegungen einbezogen werden. Eine rein auf Austerität sowie auf Lohn- und Steuersenkungen abzielende Wirtschafts- und Sozialpolitik, die nur das Ziel hat, die preisliche Wettbewerbsfähigkeit einzelner Länder oder der Eurozone insgesamt auf Kosten anderer Länder oder Regionen in der Welt zu steigern, wird zu keiner stabilen und nachhaltigen Wachstums- und Wohlstandsentwicklung in Europa führen. Um dies zu erreichen, sollte im Euroraum auch ein makroökonomischer Dialog zwischen den Vertreter_innen der Geld-, Fiskal- und Lohnpolitik etabliert und gestärkt werden.

Insgesamt bleibt festzuhalten: Nur wenn der Weg der europäischen Integration weiter beschritten wird, kann der Euroraum dauerhaft stabilisiert werden und Europa auch in Zukunft prosperieren. Gerade Deutschland muss nicht zuletzt aufgrund seiner starken Exportorientierung ein besonderes Interesse an der Integrität und Prosperität Europas haben.
 


Über den Autor

Sebastian Watzka ist Referatsleiter für Europäische Makroökonomik am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf und Fellow im CESifo Research Network.  

 


Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Vorabveröffentlichung. Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.

 

 


Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik

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