Die FES wird 100! Mehr erfahren

1340 Grenzkilometer mehr zu Russland: Was ändert sich durch eine Norderweiterung der NATO?

Warum die möglichen Beitritte Finnlands und Schwedens ein Sicherheitsgewinn für Nordeuropa und das Bündnis wären und was dies für die bislang exponierten baltischen Staaten bedeutet, erläutern Reinhard Krumm und Kristina Birke Daniels.

 

Die Fragen stellten Eva Ellereit und Felix Kösterke.

 

Die geplante Erweiterung der NATO um Finnland und Schweden wäre für die Länder, aber auch für das Bündnis ein Sicherheitsgewinn. Inwiefern würde ihr Beitritt auch die Rolle Europas in der NATO verändern?


Reinhard Krumm: Diese Nordost-Erweiterung der NATO hätte mehrere Auswirkungen auf Europa. Zum einen verschiebt sich der sicherheitspolitische Mittelpunkt der EU und der NATO gen Nordosten. Neben den drei russischen Nachbarn im Nordosten, also Estland, Lettland und Litauen, kommt Finnland mit weiteren 1340 Grenzkilometern hinzu. Die Ostsee wird zum NATO-See und das Baltikum besser geschützt vor einer zumindest denkbaren russischen Aggression.

Kristina Birke: Das ist richtig. Zusätzlich spielt, wenn wir an die Grenznähe zu Russland, bzw. an die Verteidigungsfähigkeit der NATO denken, auch die Arktis eine Rolle. Ein sicherheitspolitisch integrierter europäischer Norden als Teil der NATO verbessert die Position des Verteidigungsbündnisses und der EU, denn die beiden gut ausgerüsteten Armeen und die starke schwedische Rüstungsindustrie bringen Knowhow, militärische Ressourcen und Skills. Sie können aber auch wichtige Akzente in die NATO einbringen: Bei Zivilschutzmaßnahmen beispielsweise, hat vor allem Finnland die Nase vorn.

 

Für Schweden und Finnland stellt der angestrebte NATO-Beitritt eine ganz eigene Zeitenwende dar, Schweden blickt beispielsweise auf über 200 Jahre militärischer Neutralität zurück, wie gehen die Gesellschaften mit dieser drastischen Veränderung um?


Kristina Birke: Das Ende des Kalten Krieges und der EU-Beitritt setzten der militärischen Neutralität schon ein Ende. Obwohl sie danach bündnisfrei blieben, hatten beide Länder die engste Kooperation mit der NATO weltweit. Jetzt drängt sie die Sicherheitslage, diesen letzten Schritt auch noch zu gehen. Historisch und geographisch war die russische Bedrohung in Finnland nie wegzudenken. Auch die Annexion der Krim sahen beide kritisch. Als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine, drehte sich – besonders in Finnland und quasi über Nacht – der Beitrittswille in der Bevölkerung um 180 Grad. Nationale Sicherheitsstudien drängten zusätzlich zum Beitritt. Im Fokus dort lag die nordische Sicherheitskooperation. Erstaunlich ist, dass das kleine Finnland dem traditionell gewichtigeren Schweden das Tempo vorgab. In Schweden war die Bündnisfreiheit eine Frage der politischen Identität. Auch diese Zeitenwende braucht Zeit und neue Strategien. Der sehr schnelle Beitrittsprozess war nur möglich, weil sich die Parteispitze der Sozialdemokraten, das Parlament und die Bevölkerungen mehrheitlich dafür aussprachen.

 

Bereits vor dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine waren Bundeswehr Soldat_innen in Litauen stationiert, um das Baltikum zu schützen. In der aktuellen Publikation heißt es, die NATO-Norderweiterung führe zu mehr Sicherheit für die baltischen Staaten. Heißt Zeitenwende dennoch, dass wir uns auf eine größere, langfristige Präsenz der Bundeswehr in diesen Ländern einstellen müssen?


Reinhard Krumm: Die Bundeswehr führt in Litauen seit 2017 eine internationale Kampfeinheit im Rahmen der NATO Enhanced Forward Presence an. Seit 2022 ist zudem eine deutsche Kampftruppenbrigade als Teil der litauischen Verteidigung geplant. Diese Sicherheitspolitik mittels Truppenpräsenz ist mittelfristig bis langfristig angelegt – solange, bis Russland keine Bedrohung mehr darstellt.

 

Was erwarten die NATO-Partner im Baltikum zukünftig von der Bundesrepublik und (wie) kann Deutschland diese Erwartungen erfüllen?


Reinhard Krumm: Die drei baltischen Staaten erwarten von Deutschland ein klares Bekenntnis zur Einhaltung des vereinbarten Zwei-Prozent-Ziels der NATO. Sie erwarten zudem eine Anerkennung ihrer Bedrohungswahrnehmungen und eine damit einhergehende Unterstützung bei ihrer militärischen Abschreckung. Nach den Erfahrungen des russischen Angriffskrieges sehen die baltischen Staaten das Konzept der strategische Tiefe, also den Rückzug mit einer späteren Rückeroberung verlorener Gebiete, als nicht mehr relevant an.

 

Es scheint, als würden Schweden und Finnland der NATO aufgrund des türkischen Widerstands zu unterschiedlichen Zeitpunkten beitreten. Wie wird das in den beiden Ländern aufgenommen? Bedeutet dies ein größeres Risiko für die Allianz und was könnte/sollte Deutschland tun, um solch ein Risiko zu minimieren?


Kristina Birke: In Schweden führt es schon zu einer gewissen Angst, abgehängt zu werden und womöglich als einziges nordisches Land nicht NATO-Mitglied zu werden. Sollten Schweden und Finnland nicht gleichzeitig der NATO beitreten, bedeutet das jedoch kein unmittelbares Risiko. Tritt Finnland früher bei, so stärkt sein Beitritt auch die Sicherheitsposition Schwedens – jedenfalls ist das die Auffassung des schwedischen Ministerpräsidenten. Schweden profitiert davon, dass die finnische EU-Außengrenze und der Rest des Nordens geschlossen dann die Sicherheitsgarantien der NATO genießen. 

 

Kristina Birke Daniels ist Direktorin des FES-Regionalbüros für die Nordischen Länder in Stockholm. Dr. Reinhard Krumm leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung für die baltischen Staaten in Riga.

 

Mehr zur NATO-Norderweiterung finden Sie auch in der Publikation „Kein weißer Fleck mehr“.

 

Hassebrauck, Lukas

Kein Weisser Fleck mehr - die NATO-Norderweiterung und das Baltikum

Riga, 2023

Zum Download (PDF) (160 KB, PDF-File)


Referat Asien und Pazifik

Leitung

Mirco Günther

Kontakt

Nicole Castillo

Referat Asien und Pazifik
Friedrich-Ebert-Stiftung
Hiroshimastraße 28
10785 Berlin

030 26935-7461

E-Mail-Kontakt
 

Wir freuen uns, wenn Sie mit uns in den Austausch treten.

Hier finden Sie unsere thematischen Ansprechpartner_innen

weiter

nach oben