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Europa braucht die Finanztransaktionssteuer – gerade jetzt

von Stephan Schulmeister



Eine EU-weite Finanztransaktionssteuer (FTS) könnte wesentlich zur Finanzierung des neuen Aufbauinstruments Next Generation EU beitragen. Ihre Einführung wäre gleichzeitig ein Signal für einen grundlegenden Kurswechsel von der Dominanz der Finanzwirtschaft und damit der Interessen der Shareholder_innen zum Vorrang für die Realwirtschaft und damit den Interessen von Arbeitnehmer_innen und Unternehmer_innen als Stakeholder_innen. Denn eine europäische FTS würde eine wesentliche Ursache der sich seit den 1970er Jahren vertiefenden Krise bekämpfen: die Instabilität der Finanzmärkte. Diese Instabilität hat nicht nur Aktivitäten in der Realwirtschaft, sondern auch die Bekämpfung des Klimawandels erschwert. Denn die Schwankungen der Preise fossiler Energieträger sowie der CO2-Emissionsrechte machen die Kalkulation des Ertrags von Investitionen zur CO2-Reduktion unmöglich.

Von realkapitalistischer Prosperität in die finanzkapitalistische Krise

Bis Anfang der 1970er Jahre konnte sich das Profitstreben nur in der Realwirtschaft entfalten: Bei festen Wechselkursen, stabilen Rohstoffpreisen, Zinssätzen unter der Wachstumsrate und „schlafenden“ Aktienbörsen war durch Finanzspekulation nichts zu holen. Mit den Realinvestitionen expandierte die Gesamtwirtschaft, schon 1960 war Vollbeschäftigung erreicht. Die Unternehmen finanzierten ihre Investitionen teilweise durch Kredite, ihre Defizite waren etwa so hoch wie die Überschüsse (Sparen) der privaten Haushalte. Unter diesen Bedingungen hatte der Staat einen ausgeglichenen Haushalt. Bei Zinsen unter der Wachstumsrate ging die Staatsschuldenquote 20 Jahre lang zurück.

Der Übergang vom Real- zum Finanzkapitalismus begann mit der Aufgabe des Systems fester Wechselkurse durch die USA 1971. Zwischen 1971 und 1973 sowie zwischen 1976 und 1979 verlor der US-Dollar jeweils 25 Prozent an Wert. Darauf reagierten die Ölexporteure mit den beiden „Ölpreisschocks“. Diese lösten zwei globale Rezessionen aus sowie einen Inflationsschub, der mit einer Hochzinspolitik bekämpft wurde, insbesondere in den USA. Die nachfolgende Aufwertung des US-Dollars wertete alle Dollarschulden auf, 1982 brach dadurch die Schuldenkrise Lateinamerikas aus – diese Länder hatten sich in den 1970er Jahren massiv in US-Dollars verschuldet.

Zinssätze über der Wachstumsrate sowie die enormen Schwankungen von Wechselkursen und Rohstoffpreisen verlagerten das Profitstreben von Real- zu Finanzinvestitionen, zusätzlich gefördert durch den 1982 einsetzenden Aktienboom. Mit sinkendem Wirtschaftswachstum nahmen Arbeitslosigkeit und atypische Beschäftigung immer mehr zu. Die Unternehmen senkten ihre Kreditaufnahme, seit etwa 20 Jahren erzielen sie sogar Überschüsse. Da die privaten Haushalte weiter sparten, „erlitten“ die Staaten nahezu permanent Budgetdefizite. Öffentliche Sparpolitik erschien „alternativlos“ und damit auch die Schwächung des Sozialstaats.

Auf den Einbruch der Aktienkurse 2000/02 folgte ein neuerlicher Boom. Gleichzeitig stiegen auch die Preise von Rohstoffen und Immobilien, insbesondere in den USA. 2007/08 wurden alle drei Vermögen durch drei „Bärenmärkte“ entwertet – die wichtigste systemische Ursache der Finanzkrise. Während die Wirtschaft in der EU danach jahrelang stagnierte, stiegen die Aktienkurse bis März 2015 auf mehr als das Dreifache und legten danach weiter zu. Eine „Korrektur“ in Gestalt eines Bärenmarkts wurde immer wahrscheinlicher. Die Corona-Krise löste daher im März 2020 den schärfsten Kurssturz der Geschichte aus: In vier Wochen verloren die Aktien etwa 40 Prozent an Wert.

Das freie Spiel der Marktkräfte hätte diese Entwicklung in einen Bärenmarkt münden lassen (wie 2000 und 2008), der auch andere Vermögenspreise erfasst und (damit) auch kapitalgedeckte Renten gekürzt hätte. Zur Vermeidung einer solchen neuerlichen Finanzschmelze begannen die wichtigsten Notenbanken, Financial Assets in noch nie dagewesenem Ausmaß zu kaufen. Damit signalisierten sie den Finanzinvestor_innen: Mit den Kursen kann es nur wieder nach oben gehen! Innerhalb weniger Monate stiegen die Aktienkurse um etwa 50 Prozent – genau in jener Phase, in der die Weltwirtschaft infolge der Corona-Krise stärker einbrach als je zuvor.

Die Folgen der „manisch-depressiven“ Schwankungen der Finanzmärkte

Bullen- und Bärenmärkten beeinträchtigen die ökonomische, soziale und ökologische Entwicklung in mehrfacher Weise.

Erstens: Die Auf- und Abwertungen von Vermögen und Schulden ziehen massive Nachfrageschwankungen nach sich. So hat die Entwertung des US-Dollars in den 1970er Jahren die realen Exporterlöse der Ölproduzenten entwertet und wesentlich zu deren Gegenreaktion in Gestalt der beiden „Ölpreisschocks“ beigetragen. Die nachfolgende Dollaraufwertung erhöhte die Last der Dollarschulden der Entwicklungsländer. Seit den 1990er Jahren stimulierte die Aufwertung des Aktien- und Immobilienvermögens die Konsumnachfrage, dessen Entwertung 2000 und 2008 in schwere Rezessionen führte.

Zweitens: Die Instabilität von Wechselkursen, Rohstoffpreisen, Aktienkursen und Anleihekurse bzw. Zinssätzen verlagert langfristig (strukturell) das Profitstreben der Unternehmen von Aktivitäten in der Realwirtschaft zu Finanzveranlagung und -spekulation.

Drittens: Die von Bullen- und Bärenmärkten verursachten Finanzkrisen und Rezessionen sowie die strukturelle Dämpfung der Realinvestitionen sind die Hauptgründe für die Abschwächung des Wirtschaftswachstums und den langfristigen Anstieg von Staatsverschuldung, Arbeitslosigkeit, prekärer Beschäftigung, Armut und Ungleichheit.

Viertens: Die Bekämpfung der Erderwärmung wird durch die Schwankungen der Preise fossiler Energie sowie der CO2-Emissionszertifikate geradezu systematisch erschwert. Denn Investitionen in die CO2-Reduktion weisen extrem lange Amortisationszeiten auf. Sie erfordern daher die Sicherheit, dass die Emissionskosten in Zukunft stetig steigen (ihr Profit besteht ja in den dadurch vermiedenen Kosten). Tatsächlich haben allein in den vergangenen zwölf Jahren sinkende Erdölpreise drei Mal die CO2-intensiven Endprodukte wie Treibstoffe, Heizöl etc. massiv verbilligt. Noch instabiler entwickelten sich die CO2-Emissionspreise. Daher spekulieren viele CO2-Emittenten auf niedrige CO2-Kosten, statt in deren Vermeidung zu investieren.

Wie sich Bullen- und Bärenmärkte entwickeln

Dieses für alle Finanzmärkte typische Phänomen aufeinanderfolgender Bullen- und Bärenmärkte entsteht aus dem Zusammenwirken neuer Nachrichten (News), technischer Spekulationssysteme (Algo Trading), dem „Nachhinken“ von Amateuranleger_innen und optimistischen bzw. pessimistischen Marktstimmungen (Bullishness bzw. Bearishness), im Folgenden skizziert am Beispiel eines Bullenmarktes:

  • Eine unerwartete Information (News) löst einen Kursschub (Run) nach oben aus.
  • Darauf produzieren Trend-following Trading Systems eine Serie von Kaufsignalen (je nach ihren Parametern reagieren Modelle unterschiedlich rasch; ein triviales System wäre z. B.: Kaufe bzw. verkaufe, wenn der Preis die Linie des gleitenden Durchschnitts von unten bzw. oben schneidet).
  • Die sequentielle Exekution der Serie von „technischen“ Kaufsignalen verstärkt den Aufwärtstrend.
  • Es folgen die Käufe von Amateur_innen aller Art (Late-coming Bandwagonists).
  • Verliert der Run an Dynamik, so beginnen die Contrarian Models Verkaufssignale zu produzieren (sie setzen auf eine Richtungsänderung).
  • Schließlich löst eine negative News eine Gegenbewegung aus.
  • Bei optimistischer Marktstimmung dauern Runs nach oben länger als nach unten, weil Trader_innen mehr Kapital auf eine Kursbewegung setzen, die der Grundstimmung entspricht.
  • Dies gilt für alle Datenfrequenzen: Mehrere Runs auf Basis von Tickdaten (sie erfassen jede Transaktion) akkumulieren sich zu einem Run auf Basis von Minutendaten, mehrere Minutenruns zu Stundenruns und so fort.

Bullen- bzw. Bärenmärkte entwickeln sich somit in einem stufenweisen Aufwertungsprozess, indem über mehrere Jahre (Mini-)Trends nach oben bzw. unten länger dauern als Gegenbewegungen – egal, ob es sich um Aktien-, Devisen-, Anleihekurse, Rohstoff- oder CO2-Zertifikatspreise handelt bzw. die Preise der darauf bezogenen Derivate.

Stabilisierung der Märkte durch eine generelle Finanztransaktionssteuer

Die meisten Finanztransaktionen werden von computergestützten Trading Systems ausgelöst, zumeist ohne eine Aktivität von Trader_innen (Automated Trading). Sie verarbeiten zumeist nur vergangene Kurse (die Fundamentalwerte werden in jedem Fall ignoriert) und versuchen, das Phänomen von Kursschüben (Trending) zu nutzen. Die extremste Form von Algo Trading stellt der Hochfrequenzhandel dar, bei dem innerhalb von Milli- oder sogar Mikrosekunden gekauft und verkauft wird (die Gewinnspanne liegt unter 0,001 Prozent, der Gesamtprofit resultiert aus dem hohen Volumen je Transaktion und deren Häufigkeit).

Generell konzentriert sich das „schnelle“ Trading auf börsengehandelte Derivate, da die Transaktionskosten niedriger und die Exekutionsgeschwindigkeiten höher sind als auf den Kassamärkten. Eine EU-weite FTS macht daher nur dann Sinn, wenn sie auch die Derivatemärkte erfasst. Als Steuersatz wäre der von der EU-Kommission vorgeschlagene Wert von 0,01 Prozent für Käufer_innen und für Verkäufer_innen, also 0,02 Prozent je Transaktion, zweckmäßig, weil damit nur das destabilisierende, „schnelle“ Trading belastet würde. Dieser Satz sollte einheitlich für sämtliche Finanztitel gelten. Denn der von der EU-Kommission vorgeschlagene – zehn Mal höhere – Steuersatz von 0,1 Prozent für den Handel mit „echten“ Aktien und Anleihen (Kassamarkt) diskriminiert Transaktionen, die der längerfristigen Veranlagung dienen (dagegen liefen Pensionsfonds – erfolgreich – Sturm).

Und so würde eine FTS von 0,02 Prozent bei Börsengeschäften „funktionieren“. Kauft jemand Aktien im Wert von 10.000 Euro, so würde dafür 1 Euro an FTS fällig. Einmalige Käufe mit dem Ziel, einen Finanztitel zu halten, oder nur fallweise getätigte Transaktionen wie Kurssicherungsgeschäfte (Hedging) werden durch die FTS somit nicht belastet. Ganz anders im Fall des „schnellen Trading“ mit Derivaten. Beispiel: Jemand spekuliert auf Kursschübe des DAX innerhalb des Handelstages (Day Trading). Der DAX Future hat einen (Basis-)Wert von 25 Euro je Indexpunkt, bei 12.000 Punkten sind dies 300.000 Euro. Erwartet der/die Trader_in einen Kursanstieg, so kauft er/sie einen Kontrakt, muss dafür etwa 15 Prozent als Sicherstellung (Margin) hinterlegen, also 45.000 Euro. Steigt der Dax um 0,1 Prozent und der/die Trader_in verkauft, so hat er/sie 300 Euro gewonnen (0,1 Prozent von 300.000 Euro), bezogen auf seinen Einsatz von 45.000 Euro sind das 0,66 Prozent (der Hebel beträgt 6,6). An FTS müsste er/sie für Kauf und Verkauf des Future je 0,01 Prozent des Kontraktwerts berappen (0,02 Prozent von 300.000 Euro), also 60 Euro oder 20 Prozent des Spekulationsgewinns.

Je schneller spekuliert wird und je geringer daher der Einzelgewinn ist, desto stärker wird dieser steuerlich belastet. Das Ausnützen aller Kursschübe, in denen der jeweilige Finanztitel um weniger als 0,02 Prozent steigt oder fällt, wird selbst durch einen minimalen Steuersatz von 0,02 Prozent unprofitabel. Der Hochfrequenzhandel würde daher durch eine FTS „weggesteuert“. Gleichzeitig belastet die FTS Derivatspekulationen umso stärker, je höher der Hebel ist und damit auch das Verlustrisiko. Denn die Bemessungsgrundlage ist immer der Kontraktwert. Da sich Bullen- und Bärenmärkte aus der Akkumulation von (Mini-)Runs ergeben, die für längere Zeit nach oben bzw. unten länger dauern als Gegenbewegungen, würde die Eindämmung des „(ultra-)schnellen“ Trading auch das Ausmaß des Overshooting von Aktien-, Anleihe- und Wechselkursen mildern, also ihrer Abweichungen von den jeweiligen Fundamentalwerten.

Umsetzung und Ertragspotenzial einer europäischen Finanztransaktionssteuer

Technisch wäre die Umsetzung einer gemeinsamen FTS in allen 26 EU-Mitgliedstaaten einfach, da sämtliche Transaktionen mehrfach elektronisch erfasst sind, und zwar nicht nur jene auf Börsen, sondern auch im außerbörslichen (bilateralen) Handel (Over The Counter – OTC). Dem/der Käufer_in und Verkäufer_in werden je 0,01 Prozent der Transaktionssumme abgebucht. Die Administration würde vereinfacht und zusätzlich die Verlagerung des Handels in Nicht-EU-Länder (insbesondere Großbritannien) beschränkt, wenn hinsichtlich der Steuerpflicht das Territorialprinzip (alle Transaktionen innerhalb der EU werden erfasst) mit dem Residenzprinzip kombiniert wird (zusätzlich werden auch alle Transaktionen von in der EU angesiedelten Finanzinstitutionen in Nicht-EU-Ländern erfasst).

Die Entscheidung, wie die FTS-Erträge verteilt werden sollen – ausschließlich an EU-Institutionen als Eigenmittel oder teilweise an die EU-Mitgliedstaaten –, hängt davon ab, in welches wirtschafts- und gesellschaftspolitische Gesamtkonzept die europäische FTS eingebettet ist. Geht es um den Vorrang für die Bewältigung der Grundprobleme wie sozialer (Un-)Sicherheit, steigender Ungleichheit – von Einkommen und Vermögen bis zu den Chancen auf Bildung, Job und Wohnung – und nicht zuletzt der Verschlechterung der Umweltbedingungen, dann braucht es „mehr Europa“, da diese Probleme allen Mitgliedsländer gemeinsam sind und neue, gesamteuropäische Leitlinien der Politik verlangen.

Selbst wenn alle technischen Details – vom Steuersatz bis zu den steuerpflichtigen Transaktionen – feststünden, ist eine verlässliche Schätzung der Erträge einer einheitlichen FTS in der EU26 unmöglich (einen besonderen Unsicherheitsfaktor stellt die Zukunft des Finanzplatzes London dar, auf den – bisher – etwa zwei Drittel aller Finanztransaktionen in der EU entfielen). Vergleicht man aber die wichtigsten Schätzungen der vergangenen zehn Jahre, dann erscheint bei einer Erfassung aller Instrumente (insbesondere einschließlich der Derivate), einem Steuersatz von 0,02 Prozent und der Durchsetzung des Residenzprinzips (und damit einer Besteuerung aller Transaktionen von EU-Finanzinstitutionen auch außerhalb der EU26, insbesondere auch in Großbritannien) ein Ertrag zwischen 40 Milliarden Euro und 70 Milliarden Euro wahrscheinlich.

Die wichtigste politische Voraussetzung für die Einführung einer europäischen Finanztransaktionssteuer wäre die Einsicht, dass die neoliberal-finanzkapitalistische „Spielanordnung“ der vergangenen Jahrzehnte Europa in eine Sackgasse geführt hat. An deren Ende muss man umkehren.
 


Über den Autor

Dr. Stephan Schulmeister ist Universitätslektor und Wirtschaftsforscher. Von 1972 bis 2012 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) in Wien. Schwerpunkte: Spekulation auf den Finanzmärkten und ihre Folgen sowie der „lange Entwicklungszyklus“ als Abfolge real- und finanzkapitalistischer „Spielanordnungen“.


Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Vorabveröffentlichung. Die Langfassung des Textes ist als WISO direkt erschienen.

 

 


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