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Solidarisch ist man nicht alleine – Anforderungen an eine progressive Wirtschaftspolitik für Europa

von Reiner Hoffmann und Andreas Botsch



This time is different

Die Europäische Union steht vor der größten Herausforderung in ihrer Geschichte. Die weltweite Corona-Pandemie brach zu einem Zeitpunkt über den Kontinent herein, da sich die meisten Mitgliedstaaten der EU gerade erst von den schlimmsten Auswirkungen der globalen Finanzkrise und der ihr folgenden Eurokrise erholt zu haben schienen. Wie sich die Sphären des Wirtschaftens und der Gesellschaft nach der Pandemie neu ausrichten werden, können wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht wissen. Deshalb kommt es jetzt, nach dem symmetrischen Schock für alle europäischen Volkswirtschaften durch die Corona-Krise, darauf an, keinen zusätzlichen asymmetrischen Schock auszulösen, der den Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten in der Krisenbewältigung auf ihre jeweiligen nationalen finanziellen Möglichkeiten beschränkt. Genau das würde die im Zuge der Finanz- und Eurokrise entstandenen ökonomischen und sozialen Zentrifugalkräfte in der EU weiter verstärken und könnte sich zu einer tödlichen Gefahr entwickeln, vor der Jacques Delors kürzlich eindringlich warnte.

Das Grundprinzip der europäischen Solidarität muss deshalb den Mittelpunkt einer gemeinsamen europäischen Strategie bilden. Denn ausgerechnet diejenigen Mitgliedstaaten, die am meisten von den Folgen der Pandemie betroffen sind, sind auch die mit den geringsten fiskalpolitischen Spielräumen infolge der Finanzkrise und dem brutalen Sparkurs der 2010er Jahre. Zudem fördert die Corona-Krise die strukturellen Defizite des aktuellen Wirtschafts- und Sozialmodells der Europäischen Union schonungslos zutage. Dies betrifft Fehlentwicklungen der jüngeren Zeit, z. B. die Economic Governanceim europäischen Semester unter dem revidierten Stabilitäts- und Wachstumspakt, aber auch weiter zurückliegende Versäumnisse, wie die Webfehler der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) und ihre mangelnde Vollendung. Gerade deshalb bietet der tiefe Einbruch durch die Corona-Krise aber auch die Chance zu einem Kurswechsel, der die Fehlentwicklungen der europapolitischen Pfadabhängigkeiten erkennt und korrigiert. Ein solidarisches Europa, das in der Krise auch finanziell zusammensteht, wird es vermögen, eine echte europäische Souveränität zu erlangen.

Solidarische Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, Stärkung der Tarifbindung

Die Corona-Krise hat uns vor Augen geführt, wie eng verflochten die europäischen Volkswirtschaften sind – unmittelbare Krisenbekämpfung und wirtschaftlicher Aufbau müssen daher europäisch angegangen werden. Bei den Bemühungen, die Beschäftigung zu stabilisieren und dem Kampf gegen Arbeitslosigkeit oberste Priorität einzuräumen, wird das deutlich. Mit der SURE-Verordnung hat die EU-Kommission für die Mitgliedstaaten jetzt die Möglichkeit geschaffen, Kurzarbeiterregelungen für Arbeitnehmer_innen oder ähnliche Maßnahmen für Selbstständige zu finanzieren. Über dieses Instrument können die Mitgliedstaaten finanziellen Beistand der EU durch Gemeinschaftskredite von 100 Mrd. Euro zur Finanzierung des plötzlichen massiven Anstiegs der nationalen öffentlichen Ausgaben beantragen. Das Bemerkenswerte daran ist nicht so sehr das finanzpolitisch vergleichbar bescheidene Volumen. Bemerkenswert ist vielmehr, dass die Mitgliedstaaten im Rat der Europäischen Union damit dem Prinzip der Solidarität in der EU mittels einer gemeinschaftlichen Kreditfinanzierung für soziale Belange zugestimmt haben.

Als vorübergehende Unterstützung auf der Basis von Art. 122 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) zur Minderung von Arbeitslosigkeitsrisiken ist das SURE-Instrument zunächst bis Ende 2022 befristet, kann allerdings jeweils um weitere sechs Monate verlängert werden, wenn die durch den Covid-19-Ausbruch verursachten gravierenden wirtschaftlichen Störungen anhalten. Das bietet ausreichend Zeit, um diesen Krisenmechanismus hin zu einer veritablen europäischen Arbeitslosenrückversicherung (ALRV) auszubauen, die als Schutzmaßnahme für die Schwächsten auf dem (gesamt)europäischen Arbeitsmarkt automatisch beim Abweichen von Standardtrends in den nationalen Arbeitslosenraten ausgelöst würde. Ein solcher Mechanismus würde gleichzeitig die Unsicherheiten und Krisenerwartungen verringern und damit die Krise selbst mildern. Eine ALRV müsste mindestens folgende Bedingungen erfüllen: sie muss alle Beschäftigten erfassen, sowie Angemessenheitskriterien, Hilfe bei der Arbeitssuche und alle möglichen aktiven Arbeitsmarktmaßnahmen umfassen.

Die Tarifbindung auf europäischer Ebene zu stärken und einen europäischen Rahmen für existenzsichernde Mindestlöhne zu setzen sind für eine solidarische Arbeitsmarktpolitik elementar. Über Letzteres will die Bundesregierung als Schwerpunkt ihrer am 1. Juli beginnenden Ratspräsidentschaft eine politische Einigung im Rat erzielen. Gesetzliche Mindestlöhne können aber immer nur eine unterste Haltelinie darstellen. Um gute Arbeit und gerechte Löhne zu schaffen, müssen deshalb auch von europäischer Ebene aus Tarifvertragssysteme gestützt und die Tarifbindung gefördert werden. Die deutsche Ratspräsidentschaft sollte Wege aufzeigen, um die Tarifbindung zu erhöhen, z. B. im Bereich des Vergaberechts. Öffentliche Aufträge, Zuschüsse, Subventionen und Mittel aus den Strukturfonds sollten in Zukunft daher nur noch an Unternehmen gehen, die sich an Tarifverträge halten und entsprechend Tariflöhne bezahlen. Außerdem sollte sich die Bundesregierung darum bemühen, dass Tarifsysteme in Ländern (wieder)aufgebaut werden, wo es im Rahmen der Anpassungsprogramme zu Zeiten der Eurokrise massive Eingriffe in bestehende Systeme mit teilweise katastrophalen Auswirkungen gegeben hat. Die Stärkung der Tarifbindung muss allerdings in eine Neuausrichtung der europäischen Wirtschaftspolitik insgesamt eingebettet sein, um ihre angestrebte Wirkung – gute Löhne für gute Arbeit – auch erzielen zu können.

Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik

In den anstehenden Verhandlungen um ein europäisches Wiederaufbauprogramm im Rahmen des Mehrjährigen Finanzrahmens 2021–2017 (MFR) wird es jetzt primär darauf ankommen, die richtigen Weichenstellungen für die wirtschaftliche und soziale Konvergenz in Europa vorzunehmen und den sozialen Zusammenhalt zu stärken. Dafür entscheidend ist, bestehende Instrumente der europäischen Economic  Governance neu auszurichten. So wurde das europäische Semester in der großen Finanzkrise 2010 eingeführt, damit die EU-Länder ihre Wirtschaftspolitik besser koordinieren und die wirtschaftlichen Herausforderungen, die die gesamte EU betreffen, gemeinsam angehen können. Jedes Jahr analysiert die Kommission seither die geplanten haushaltspolitischen, makroökonomischen und strukturellen Reformen der Mitgliedstaaten und gibt länderspezifische Empfehlungen (CSRs). Allerdings weisen die CSRs eine klare soziale Schieflage auf. Alleine für die öffentlichen Haushalte, insbesondere der Krisenländer Südeuropas, wozu auch das Gesundheitswesen zählt, empfahlen sie weit über 100 Mal Einsparungen. Zwar wurden die CSRs 2018 mit einem Social Scoreboard ergänzt. Dessen Potenzial zur Aufdeckung sozialer Missstände in der EU wird bislang aber nur unzureichend genutzt. Dessen Wirksamkeit setzt eine Stärkung durch die Verbindlichkeit seiner Ziele wie die Demokratisierung des Semesters insgesamt voraus. Die Aushandlungen der CSRs hinter verschlossenen Türen zwischen Kommission und den Regierungen der Mitgliedstaaten müssen zudem beendet und in das Ko-Dezisionsverfahren mit dem Europäischen Parlament überführt werden. Dies einzuleiten ist eine Aufgabe der deutschen Ratspräsidentschaften.

Eine zentrale Lehre der Eurokrise ist, dass eine wohlverstandene Geldpolitik der EZB die schwersten Erschütterungen der einheitlichen Währung abmildern kann. Dennoch und trotz richtiger Massnahmen (Pandemie-Notfallankaufprogramm, Asset Purchase Programmes) wird im Zuge der Corona-Krise erneut deutlich, dass die traditionellen Grenzen von Geld- und Fiskalpolitik zunehmend verschwimmen und selbst eine expansive, unorthodoxe Geldpolitik des Quantitative Easing einer stabilisierenden Fiskalpolitik zur effektiven Krisenbekämpfung bedarf. Die WWU muss ihre vollständige souveräne Geld- und Fiskalpolitik selbst nach 20 Jahren gemeinsamer Währung erst noch erringen. Die monetäre und fiskalische Souveränität ist gleichzeitig Bedingung zum Erlangen wahrer europäischer Souveränität der EU in ihrer Politik nach innen und außen.

Die Einigung der französischen und deutschen Regierungen auf einen Corona-Wiederaufbaufonds stellt einen wichtigen Schritt in diese Richtung dar und schuf damit die Voraussetzung für die Vorschläge der Europäischen Kommission, die eine gemeinsame Kreditaufnahme zur Finanzierung europäischer Investitionen vorsehen und unter der Überschrift „Next Generation EU“ seit dem 27. Mai auf dem Tisch liegen. Sie bedeuten eine Chance für eine neue ökonomische Politik: Statt einer verfehlten Kürzungspolitik soll gemeinsam investiert werden.

Erstmalig ist damit das Prinzip gemeinsamer EU-Anleihen für gemeinsame EU-Ausgaben gegeben, und der Ansatz ist gut: Neben den normalen Haushaltsausgaben des Mehrjährigen Finanzrahmens  (MFR) von 1.100 Milliarden Euro sollen 750 Milliarden Euro an Neuverschuldung außerhalb des MFR durch das befristete, neue Konjunkturprogramm hinzukommen. Auch sind dessen Ziele richtig: Ein Großteil der Mittel soll in die Förderung des sozial-ökologischen und digitalen Wandels fließen. Die Modernisierung des europäischen Kapitalstocks durch Investitionen kann Beschäftigung unter der Voraussetzung sichern, dass diese Investitionen die angelaufenen Transformationsprozesse durch ihre soziale Gestaltung intelligent unterstützen. Ein solchermaßen um gute Arbeit und nachhaltigen Wohlstand erweiterte Green Deal würde zu einem Social Deal der EU, und könnte ihr Versprechen der Solidarität einlösen. Jetzt aber kommt es auf die Bundesregierung an. In ihre EU-Ratspräsidentschaft fallen die Verhandlungen über das endgültige Ausgabenvolumen und dessen Finanzierung. Eine Neuorientierung der europäischen Wirtschaftspolitik ist zumindest grundsätzlich gegeben. Nun darf nur der Fehler nicht wiederholt werden, das ganze Unterfangen durch eine rückwärtsgewandte Austeritätspolitik der Mitgliedstaaten zu unterlaufen und aufzuheben. Eine dauerhafte Anhebung der zulässigen Staatsschuldenquote nach dem Ende der Krise, etwa von 60 auf 90 Prozent, würde den Druck auf öffentliches Sparen deutlich abmildern; die Mitgliedstaaten könnten so leichter aus der öffentlichen Verschuldung herauswachsen.

Schließlich muss darauf geachtet werden, dass die Wirtschaftsstärke eines Mitgliedstaates die Wettbewerbsbedingungen der dort ansässigen Unternehmen nicht auf Dauer determiniert. Die vorübergehende Aussetzung des Beihilfenverbots nach Art. 107 AEUV zur raschen Ermöglichung von Rettungsmaßnahmen zugunsten der Realwirtschaft birgt die Gefahr, wirtschaftliche Ungleichheiten im Binnenmarkt weiter zu verstärken: Mitgliedstaaten mit budgetären Engpässen können bei einem solchen Beihilfenwettbewerb nicht mithalten. Auf europäischer Ebene fehlt ein adäquater Ausgleichsmechanismus, der diese ökonomischen Ungleichheiten abfedern könnte. Die EU-Wettbewerbspolitik sollte nationale Beihilfen deshalb künftig durch gemeinsame europäische Strategien unterstützen, etwa um Klimaneutralität zu erreichen, und gleichzeitig europäische Unternehmen gegenüber subventionierten Unternehmen aus Drittstaaten schützen. Strategisches Eigentum ist zu wenig gegen feindliche Übernahmen gesichert. Strategisch wichtige Produktionszweige, beispielsweise in der Pharma- und Biotechbranche und im Gesundheitswesen, sollten nach Europa zurückgeholt bzw. von Abwanderung abgehalten werden. Konditionierte Rekapitalisierungsmaßnahmen für den sozial-ökologischen und digitalen Wandel in Verbindung mit einer Beschäftigungs- und Standortgarantie für die Beschäftigten bis hin zu staatlichen „golden shares“ würden so zur Voraussetzung für eine moderne europäische Industriepolitik im globalen Wettbewerb.

 


Über die Autoren

Reiner Hoffmann ist Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB).

Andreas Botsch ist Internationaler Sekretär des DGB.


Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Vorabveröffentlichung. Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.
 


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