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In der Debatte über die Auswirkungen der Digitalisierung in einer globalisierten Welt wurde eine Gruppe bislang weitgehend vergessen: Frauen. Die EU könnte dies ändern.
Die Anfangsjahre der digitalen Revolution waren voller Versprechungen für Frauen und ihre Arbeitswelten. Es schien, als seien radikale Veränderungen in Reichweite: internetbasiertes Unternehmerinnentum, lebenslanges Lernen, Zugang zu globalen Märkten, flexibles Arbeiten und vieles mehr. Die Realität sieht jedoch anders aus: Handlungsräume – wirtschaftliche wie politische – sind für Frauen enger geworden.
Rückschauend kann das niemanden überraschen. Digitale Technologien sind zum Instrument einer neoliberalen Globalisierung geworden; das Wirtschaftsparadigma hat Ungleichheiten rapide verschärft. Zwischen 1980 und 2016 – also in der Blütezeit der Digitalisierung – hat sich der Fortschritt im Bereich wirtschaftlicher Ungleichheit sogar verlangsamt: Ungleichheiten zwischen Ländern sinken nicht schnell genug, während sie innerhalb von Ländern sogar wieder ansteigen.
Arbeit macht einen immer niedrigeren Anteil am BIP eines Landes aus. Derweil fahren die Tech-Giganten Rekordgewinne ein. Sie machen sich dabei einen digitalen Informationsvorsprung zunutze: Indem sie mithilfe von Daten ganze Märkte konsolidieren, haben Plattformen die bisherige Wirtschaftsordnung komplett auf den Kopf gestellt. Die Veränderungen sind überall spürbar: Die Datenbarone haben mittlerweile in allen Sektoren einen Fuß in der Tür – von der Landwirtschaft über den Einzelhandel, Transport und Logistik bis hin zu Dienstleistungen. Dabei verdrängen sie nicht nur traditionelle Akteur_innen, sondern vernichten auch die Existenzen kleiner Unternehmer_innen.
Insbesondere für arbeitende Frauen im Globalen Süden verheißt das nichts Gutes. Die Pandemie hat sich überproportional hart in Entwicklungsländern ausgewirkt und dort zu nicht nachhaltiger Überschuldung geführt. Die überwältigende Mehrheit der Frauen in diesen Ländern arbeitet im informellen Sektor. Für diese Frauen gibt es keinerlei soziale Sicherheit. Sie sind diejenigen, die wahrscheinlich am meisten unter der Krise leiden. Ohne tiefgreifende strukturelle Veränderungen auf internationaler Ebene werden sogar die wenigen Fortschritte, die Frauen im Globalen Süden in der Vergangenheit erzielt haben, wieder zunichte gemacht werden.
Was ist aus dem Optimismus in Sachen Industrie 4.0 geworden? Was haben die vollmundigen Versprechungen der Digitalwirtschaft Frauen tatsächlich gebracht? Die Arbeitsgruppe „Feministische Perspektiven zur Zukunft der Arbeit“ der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) hat sich 2019 und 2020 mit dieser Frage beschäftigt – also zu einer Zeit, als die COVID-19-Krise bereits im Gange war.
Während der Reichtum der Tech-Milliardäre im Lauf der Pandemie noch weiter angestiegen ist, haben Frauen im globalen Süden immer noch keinen nennenswerten Zugang zu digitalen Technologien. Diese Kluft zwischen Anspruch und Realität hat dazu geführt, dass die Arbeitsgruppe einen Feministischen Aktionsrahmen für die Digitalwirtschaft entwickelt hat. Damit wollen wir eine Diskussionsgrundlage für eine Weltwirtschaftsordnung nach der Pandemie anbieten, in der wir dem Siegeszug des digitalen Kapitalismus etwas entgegensetzen.
Studien besagen, dass die Plattformisierung und intelligente Automatisierung in globalen Wertschöpfungsketten die Arbeitsmärkte noch weiter polarisiert. Die Mitte wird ausgehöhlt. Auf der einen Seite entstehen einige wenige, hochbezahlte und hochqualifizierte Arbeitsplätze für Menschen, die Aufgaben übernehmen, die sich nicht automatisieren lassen – wie zum Beispiel Datenwissenschaft und Programmierung von künstlicher Intelligenz (KI). Für die Mehrzahl der Arbeitenden bleibt dagegen nur die gering qualifizierte, schlecht bezahlte, austauschbare Arbeit in der Gig-Economy.
Für Frauen in Entwicklungsländern, die in der globalisierten Wirtschaft überproportional häufig in schlecht bezahlten, unsicheren Arbeitsverhältnissen stehen, sind die hochqualifizierten Jobs im Datenmanagement und in der KI-Entwicklung unerreichbar. Mangelnde Ausbildung und regressive Geschlechternormen bilden unüberwindliche Hindernisse. Ihre einzige Nische scheint im Moment der informelle Sektor zu sein – etwa die Arbeit für Dienstleistungs-Plattformen. Unter dem Deckmäntelchen der ‚selbstbestimmten Flexibilität‘ reproduzieren diese Plattform-Arbeitsmärkte jedoch überkommende Hierarchien – sei es nach Geschlecht, Klasse oder Rassifizierung. Aufstiegsmöglichkeiten? Fehlanzeige!
Auf dem Höhepunkt der Pandemie haben die Weltbank und die Welthandelsorganisation (WTO) einen Bericht darüber veröffentlicht, wie die COVID-19-Krise den elektronischen Handel mit Waren und Dienstleistungen befeuert hat und wie Entwicklungsländer dies nutzen können, um die unternehmerische Tätigkeit von Frauen zu fördern. Die Voraussetzung: Die Länder müssten ihre Wirtschaft in die globalen, digitalen Wertschöpfungsketten integrieren.
Schaut man sich die Realitäten auf den Arbeitsmärkten vor Ort an, klingt diese Empfehlung zweifelhaft, wenn nicht gar zynisch. Die meisten von Frauen geführten Unternehmen in Ländern des globalen Südens sind kleine Unternehmen mit geringem Output, begrenztem Wachstumspotenzial, dünnen Margen und kaum digitaler Kapazität. Diese Unternehmerinnen können sich die hohen Provisionen und einseitigen Bedingungen der Plattform-Marktplätze der Tech-Giganten schlicht nicht leisten. Die Trends weisen schon jetzt darauf hin, dass der grenzüberschreitende E-Commerce die lokale Wirtschaft untergräbt und kleine Unternehmen mit seinen komplexen Logistikarrangements unter die Räder geraten lässt.
Die voranschreitende Digitalisierung in der Landwirtschaft und die Vermehrung von Plattform-Modellen, die auf datenbasierter Zielgruppenansprache, auf Finanzprodukten und Direktvermarktung basiert, stellen eine reale Bedrohung für kleine und marginalisierte Landwirt_innen im globalen Süden dar. Wiederum trifft es hauptsächlich Frauen. Studien wie z. B. von GRAIN und der ETC Group legen nahe, dass Landwirt_innen von großen Agrounternehmen und Tech-Giganten in ausbeuterische Vertragsbeziehungen gedrängt werden, was ihnen nicht nur die Selbstbestimmung über die Arbeitsweise, sondern auch die Ernährungssouveränität nimmt.
Der Feministische Aktionsrahmen weist drauf hin, dass Geschlechtergerechtigkeit in einer digitalisierten Weltwirtschaft noch dadurch erschwert wird, dass es keinen globalen Governance-Rahmen für die Daten- und KI-Wirtschaft gibt. Die fortgeschritten Volkswirtschaften an der Spitze der Pyramide haben diese Lücke genutzt, um sich einen strategischen Vorteil zu verschaffen. Sie nutzen das weltweite Gemeingut an Daten, um extraktivistische Geschäftsmodelle zu verfolgen, und eignen sich diese Daten dann durch Handelsgeheimnisse und geistige Eigentumsrechte an. Damit privatisieren sie öffentliche Daten und verschaffen sich ein Monopol auf die Gewinne aus uneingeschränktem grenzüberschreitenden Datenverkehr.
Für die Länder des globalen Südens bleibt da nicht viel Platz, um ihre eigenen Daten- und KI-Strategien zu entwerfen und für ihre wirtschaftliche Entwicklung zu nutzen. Ohne Kontrolle über ihre Datenressourcen ist es ärmeren Ländern kaum möglich, eine KI-Wirtschaft aufzubauen, die Frauen eine zukunftsträchige Arbeitswelt bietet. Ohne Regulierung von Tech-Giganten und sinnvolle Regelungen zur wirtschaftlichen Nutzung von Daten wird die Digitalwirtschaft ein unfaires, verzerrtes System bleiben, das die vulnerabelsten Menschen ausgrenzt und/oder ausbeutet.
Die Arbeitsgruppe „Feministische Perspektiven zur Zukunft der Arbeit“ ruft dazu auf, den Status quo konsequent zu hinterfragen und die strukturelle Basis der Digitalwirtschaft zu reparieren. Dies beruht auf drei Säulen:
Ein neuer, globaler Ordnungsrahmen für Daten: Es braucht einen zwischenstaatlichen Konsens, um die Grenzen des Überwachungskapitalismus zu definieren. Datengestützte Geschäftsmodelle, die die Privatsphäre und Autonomie von Menschen und Gemeinschaften verletzen oder aus der viralen Verbreitung von Frauenhass und Fake News Profit schlagen, müssen verboten werden. Wir brauchen einen neuen, globalen Datenkonstitutionalismus, um eine gleichberechtigte, gerechte und friedliche digitale Weltordnung auf der Grundlage gemeinsamer Werte zu schaffen. Zu einer globalen digitalen Demokratie gehört auch, dass Staaten souverän eine angemessene Digitalstrategie beschließen können, die Frauen stärkt. Das ist wichtig – nicht nur, um den Datenextraktivismus durch großen Konzerne zu begrenzen, sondern auch, um die Vorteile der datenbasierten Innovationen in einer internationalen Entwicklungsordnung gerecht zu verteilen.
Regulierung von Tech-Giganten: Es braucht dringend einen internationalen, rechtsverbindlichen Vertrag zur Regulierung transnationaler Konzerne, wie ihn zivilgesellschaftliche Bewegungen des globalen Süden seit langem fordern. Ein solcher Vertrag muss dem Kontext des digitalen Kapitalismus Rechnung tragen und die Forderung nach Rechenschaftspflicht für die Tech-Giganten in Bezug auf die Menschenrechte von Frauen und den Schutz der Umwelt reflektieren. Es sollte zügig ein globales, progressives digitales Besteuerungssystem für Tech-Giganten eingeführt werden. Nur so können Entwicklungsländer Steuereinnahmen generieren, um die öffentlichen Dienstleistungen und sozialen Sicherungsmechanismen einzuführen, die Frauen die Teilhabe an der Digitalwirtschaft ermöglichen. Vereinbarungen zur digitalen Handelspolitik müssen Entwicklungsländern den Raum lassen, Marktzugang für transnationale digitale Unternehmen und deren wirtschaftliche Aktivität vor Ort zu regulieren.
Eine feministische digitale Infrastrukturpolitik: Die Entwicklungsländer müssen einen digitalpolitischen Ökosystem-Ansatz verfolgen. Dazu gehören Zugang zu qualitativ hochwertiger Konnektivität, Programme für den Erwerb digitaler Kompetenzen, unternehmerische Entwicklung und Kreditvergabe, sowie Fördermittel für Programme, die Frauen in der Arbeitswelt unterstützen. Öffentliche Daten- und Cloud-Infrastrukturen können der Digitalisierung von frauengeführten Unternehmen einen Schub verleihen. Eine nationale Initiative zur Förderung von Tech-Startups könnte zum Beispiel Landwirtinnen mit frauengeführten Tech-Startups vernetzen und zu einer neuen Smart-Farming-Initiative führen. Mithilfe öffentlicher Cloud-Intelligence-Systeme könnte das Startup den Landwirtinnen Analysen und Informationen bereitstellen. Auch bei der Schaffung einer digitalen Infrastruktur kann Süd-Süd-Kooperation hilfreich sein.
Die Europäische Union rühmt sich damit, Vorreiterin eines rechtebasierten Ansatzes bei der Regulierung der Datenwirtschaft zu sein. Sie hat sich den Begriff der Technologiesouveräniät auf die Fahne geschrieben – aber dieser progressive Anspruch schlägt sich nicht in den Handelsverträgen der EU und in ihrer internationalen Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern nieder. Stattdessen nutzt die EU Handelsverträge, um ihren digitalen Infrastrukturunternehmen unbeschränkten Zugang zu Entwicklungsländern zu verschaffen und ihnen die Möglichkeit zu geben, dort mit minimaler Regulierung zu operieren – nicht viel anders als die USA mit ihrem Laissez-faire-Ansatz.
Um dem Abhilfe zu schaffen, muss die EU Wegbereiterin für eine verantwortungsvolle Entwicklungszusammenarbeit sein. Die Politik muss engstirnige Nationalismen überwinden und ihren Worten Taten folgen lassen, um die digitale Zukunft für alle zu einem Gewinn zu machen. Sie muss anerkennen, dass Frauen im globalen Süden ein Recht auf Entwicklung haben, und die Handlungsräume der Entwicklungsländer in Bezug auf ihre Digitalpolitik respektieren. Darauf aufbauend, muss sie sich entschlossen für die Finanzierung digitaler Infrastrukturen engagieren und ihr diplomatisches Gewicht dafür einsetzen, einen neuen Internationalismus zu schaffen, der die Grundlage für eine feministische Digitalwirtschaft bildet. Alles andere wäre nichts als Fortschreibung eines katastrophalen Status quo.
Dear Text erschien im Original in englischer Sprache auf socialeurope.eu.
Übersetzung aus dem Englischen: Bianca Walther
Anita Gurumurthy ist geschäftsführende und Nandini Chami stellvertretende Direktorin der in Indien ansässigen Nichtregierungsorganisation IT for Change (ITfC). ITfC arbeitet zu den Themen digitaler Paradigmenwechsel und soziale Gerechtigkeit und ist Teil der FES Arbeitsgruppe Feministische Perspektiven zur Zukunft der Arbeit.
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