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Sérgio Moros Rücktritt und seine Anschuldigungen drohen eine politische Krise in Brasilien auszulösen. Wie spielen die verschiedenen Akteure? Gibt es eine echte politische und soziale Koalition in der Tasche? Ist es ein Kampf zwischen der Rechten und der extremen Rechten?
Brasilien hat es bereits mit zwei großen Krisen zu tun: der Gesundheits- und der Wirtschaftskrise. Nun kommt noch eine politische Krise hinzu. Der Präsident Jair Bolsonaro hat den Chef der Bundespolizei, Mauricio Valeixo, abberufen und ihn durch einen Vertrauten seines Sohnes Carlos Bolsonaro ersetzt. Sérgio Moro, der schon eine Rolle in dem als »Operation Autowäsche« bezeichneten Korruptionsskandal spielte, trat von seinem Amt als Justizminister zurück und beschuldigte den Präsidenten, Zugriff auf Geheimdienstinformationen zu Ermittlungen gegen ihn und sein Umfeld verlangt zu haben. Erst kürzlich genehmigte das Oberste Bundesgericht Brasiliens entsprechende Ermittlungen. Der Bundesrichter Alexandre de Moraes setzte die Ernennung von Alexandre Ramagem als neuen Polizeichef aus.
In diese Verwicklungen mischt sich nun auch Bolsonaro ein, der die Radikalisierungskarte inmitten der sich verschärfenden Corona-Pandemie ausspielen will. Das Virus hat bereits über 5 000 Tote gefordert. Trotzdem stachelt der Präsident seine Gefolgschaft gegen die soziale Distanzierung an. André Singer, Professor an der Universität von San Pablo und Sprecher der ersten Regierung von Luiz Inácio Lula da Silva, verschafft uns in diesem Gespräch einen Überblick über die aktuelle Lage.
Der Abgang von Moro war nicht abzusehen, zumindest nicht zu dem Zeitpunkt, als er sich ereignete. Zu der Frage, wer ihn stürzte und aus welchen Gründen, gibt es zahlreiche Interpretationen, doch gesichert ist nichts. Erst die Zeit und eingehende Untersuchungen werden uns einen Einblick in die Geschehnisse geben, die voller Unbekannter und Intrigen stecken. Ich bin mir zwar nicht sicher, habe aber den Eindruck, dass Bolsonaro einmal mehr die Initiative ergriffen und einen sehr riskanten Schachzug gegen das symbolträchtige Amt und gegen den ehemaligen Richter gemacht hat. Dieser wird in der Gesellschaft als Vorkämpfer gegen die Korruption angesehen. Bolsonaro verfolgt eine Strategie der ständigen Radikalisierung. Als Moro sein Amt niederlegte, sendete er damit zwei indirekte, aber kraftvolle Botschaften: dass Bolsonaro einerseits die Arbeit der Bundespolizei behindern will, die seit der Verabschiedung der Verfassung im Jahr 1988 eigentlich Ermittlungsfreiheit genießt; und dass er bereit ist, bei der Präsidentschaftswahl 2022 anzutreten.
Die erste dieser beiden Botschaften stößt eine Debatte über einen mutmaßlichen Straftatbestand an, der zu einem Antrag auf Eröffnung eines Amtsenthebungsverfahrens oder eines normalen Strafverfahrens (wegen Justizbehinderung) führen könnte und in den Zuständigkeitsbereich des Obersten Bundesgerichts fällt. Das Problem besteht darin, dass beide Verfahren die Unterstützung von mindestens zwei Dritteln des Kongresses benötigen, das entspricht 342 Stimmen. Das wäre nur denkbar, wenn eine breite, parteiübergreifende Koalition zustande käme.
Und genau das ist der Knackpunkt: eine solche Koalition gibt es bislang nicht. Vielleicht werden aber entsprechende Impulse aus der Gesellschaft kommen, die dann auf die Parteien übergreifen. Denn die wahltaktischen Interessen sind unterschiedlich, was einer für die Verteidigung der Demokratie notwendigen Einigung im Wege steht.
Mit seiner zweiten Botschaft könnte es Moro gelingen, diejenigen Wähler hinter sich zu versammeln, die von Bolsonaro und seiner Politik enttäuscht sind. Er könnte eine »legalistische« Debatte in den Teilen der Gesellschaft anstoßen, die sich noch bis vor Kurzem bei der extremen Rechten zu Hause fühlten. Da er jedoch über keinerlei politische Erfahrung verfügt, lässt sich kaum absehen, ob und wie ihm dies gelingen wird. Momentan ist der größte Widersacher von Moro der Gouverneur von São Paulo, João Doria. Dieser steht für eine Politik, die soziale Distanzierung zur Bekämpfung der Pandemie befürwortet, und er will wie Moro die Opposition zu Bolsonaro verkörpern. Doria hat den Vorteil, dass er bereits Gouverneur ist und über eine – wenn auch kurze – Wahlkampferfahrung verfügt. In jedem Fall sind diese beiden Namen durch die Corona-Krise landesweit bekannt geworden.
In den letzten fünf Jahren hat sich offenbar ein ideologischer und gesellschaftlicher Block herausgebildet, der Bolsonaro unterstützt. Doch es ist ungewiss, wie groß dieser wirklich ist, da er aus zahlreichen kleinen Teilen der Gesellschaft hervorgegangen ist, die sich 2015 in der Gegnerschaft zur brasilianischen Arbeiterpartei radikalisiert haben. Diese Bewegung wuchs immer weiter und zeigte ihre geballte Kraft dann im Wahlkampf 2018, als sie auch Wähler anzog, die von Lula enttäuscht waren. So gelang es ihr, den Präsidentschaftswahlkampf für sich zu entscheiden.
Doch schon in den ersten vier Monaten seiner Amtszeit im Jahr 2019 verlor Bolsonaro gut 20 Prozent seiner Wählerschaft. Alles deutete darauf hin, dass er sich schnell isolieren und seine Unterstützung auf den harten Kern der Bolsonaro-Fans zusammenschrumpfen würde. Diesen beziffern einige Analysten auf etwa zehn Prozent der Wählerschaft, die sich besonders stark ideologisiert und radikalisiert haben. Ihr Markenkern ist die Gegnerschaft zur Arbeiterpartei, die sie mit einem Antikommunismus US-amerikanischer Prägung und der Ablehnung der sogenannten »Altpolitik« vermischt.
Die Umfragen zeichnen ein widersprüchliches Bild, was die Beliebtheit von Bolsonaro seit dem Ausbruch der Pandemie angeht. Dabei muss man stets bedenken, dass gute Umfragen im persönlichen Gespräch stattfinden, was seit Beginn der Quarantäne ausgeschlossen ist. Deshalb greift man auf Handygespräche zurück, was aber die Vergleichbarkeit der Daten mindert.
Wenn man diese Unsicherheit berücksichtigt, dann gibt es bislang noch keinen klaren Beleg für eine sinkende Zustimmung für die Regierung seit Beginn der Pandemie. Noch immer unterstützen Bolsonaro ungefähr 30 Prozent der Wahlbevölkerung. Andererseits ist die Zahl derjenigen, die das Vorgehen des Präsidenten seit dem Corona-Ausbruch für schlecht oder sehr schlecht halten, von 33 auf 45 Prozent gestiegen.
Noch ist nicht klar, wer genau zu diesem Drittel der Wählerschaft zählt, das Bolsonaro seit Beginn seiner Amtszeit unterstützt. Einer Analyse zufolge, die in der Tageszeitung Folha de S. Paulo veröffentlicht wurde, haben sich die einkommens- und bildungsstärksten Gesellschaftsschichten in den letzten vier Monaten vom Präsidenten abgewendet. Zugleich ist seine Beliebtheit bei den Ärmsten, den Selbstständigen und den informell Beschäftigten gestiegen.
Zudem hat Bolsonaro zeitgleich mit der Corona-Pandemie die Unterstützung in den Gegenden der Mittelschicht verloren, die 2018 noch für ihn gestimmt haben. Öffentliche Schmähungen gegen den Präsidenten sind nun auch in den Vierteln zu hören, die ihn früher unterstützt haben. Die Leugnung des Coronavirus, die fehlende Beachtung der Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und seine Gleichgültigkeit gegenüber den – tatsächlich wie auch potenziell – Betroffenen können diesen Meinungsumschwung erklären. Zahlreiche seiner früheren Verbündeten haben sich jedenfalls vom ehemaligen Hauptmann abgewendet.
Andererseits könnte Bolsonaro sein Eintreten für eine Wiederaufnahme der Wirtschaftstätigkeit und gegen die soziale Distanzierung Sympathien genau aus der Richtung einbringen, die besonders von Lula begeistert war, nämlich aus der Arbeiterklasse. Auch die beginnenden Hilfszahlungen in Höhe von je 600 brasilianischen Real (112 US-Dollar) können gewisse Veränderungen im Ansehen des Präsidenten erklären.
Dies deutet einerseits darauf hin, dass sich Bolsonaros Wählerbasis noch nicht stabilisiert hat. Es könnte außerdem bedeuten, dass die Pandemie Veränderungen mit sich bringt, die sich als relevant für die Herausbildung eines ideologisch-sozialen Blocks erweisen könnten. Man muss aber betonen, dass diese Entwicklung noch ganz am Anfang steht und man sie deshalb genau verfolgen sollte.
Die Position der Armeeangehörigen ist noch völlig unklar. Zwar besteht ein beträchtlicher Teil der Regierung aus Angehörigen der Streitkräfte, trotzdem ist nicht ersichtlich, welche Beziehungen diese zum Präsidenten aufgebaut haben. Einige Monate lang hieß es, die Militärs würden einen mäßigenden Einfluss auf den Präsidenten ausüben. Doch Bolsonaro ist in Stil und Politik so radikal wie eh und je. Steckt er einmal zurück, geht er schon kurz darauf zwei Schritte weiter. Die größte Gefahr besteht meiner Ansicht nach nicht in einem möglichen Staatsstreich sondern in einem kontinuierlichen, kaum wahrnehmbaren Abrutschen in den Autoritarismus mit Billigung der Armee. Adam Przeworski bezeichnet das als »verkappten Autoritarismus«. Das erscheint mir als Begriff für die aktuelle Lage passend.
Die Ungewissheit wird noch dadurch verschärft, dass im Falle einer Amtsenthebung Bolsonaros der General Hamilton Mourão automatisch zum Präsidenten Brasiliens würde. Wie würde der regieren? Wie steht er überhaupt zur Demokratie? Das weiß momentan niemand.
Nachdem sie zunächst eine moderate Position vertraten, haben sich Lula Da Silva und die PT in jüngster Zeit darauf verlegt, dass der Präsident aus dem Amt entfernt werden müsse. Noch ist aber nicht klar, wie das gelingen soll. Es gibt mehrere Möglichkeiten: ein Amtsenthebungsverfahren, ein Verfahren vor dem Obersten Bundesgericht oder aber eine Klage gegen Bolsonaro und Mourão wegen der Verbreitung von Falschmeldungen im Wahlkampf von 2018.
Am besten für die PT wäre es, wenn die Demokratie bis 2022 fortbesteht und Lula da Silva im Präsidentschaftswahlkampf antreten könnte. Die ständige Radikalisierung durch Bolsonaro lässt das auf drei Jahre betrachtet aber sehr ungewiss erscheinen. Bisher haben die Partei und der ehemalige Präsident noch nicht den passenden Weg gefunden, um im politischen Spiel die Initiative zu ergreifen. Dieses politische Spiel ist derzeit in einer Konfrontation zwischen der Rechten und der extremen Rechten versunken.
André Vítor Singer ist Politikwissenschaftler, Professor und Journalist.
*Das Interview ist eine Übersetzung aus dem Spanischen, erschienen in der von der FES herausgegebenen spanischsprachigen gesellschaftspolitischen Zeitschrift für Lateinamerika, Nueva Sociedad, April 2020.
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