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Der Bruch mit der Diktatur wurde nie ganz vollzogen – Chile 50 Jahre nach dem Militärputsch

In Chile wirken bis heute die neoliberalen Grundprinzipien der Verfassung aus der Zeit der Pinochet-Diktatur fort. Aktives demokratisches Engagement kann helfen den Bruch abschließend zu vollziehen.

Am 11. September 2023 jährte sich der Militärputsch, mit dem der demokratisch gewählte sozialistische Präsident Salvador Allende gewaltsam abgesetzt wurde, zum fünfzigsten Mal. Mit der Veranstaltung Neue Chance für die Demokratie? Chile 50 Jahre nach dem Militärputsch“ richtet die FES den Blick nach vorne und fragt nach der Zukunft von demokratischer und sozialer Teilhabe in Chile und in Deutschland.

Martin Schulz, Vorsitzende der Friedrich-Ebert-Stiftung betonte in seiner Eröffnungsrede, dass soziale und politische Teilhabe Grundpfeiler funktionierender Demokratien sind. In Chile, in Deutschland und weltweit bedarf es funktionierender Sozialsysteme und einer Ausweitung sozialer Rechte, um der wachsenden Bedrohung der Demokratien durch Rechtspopulist_innen und Rechtsextremist_innen zu begegnen.

 

In Chile wirken jedoch bis heute die neoliberalen Grundprinzipien der Verfassung aus der Zeit der Pinochet-Diktatur fort, insbesondere die Privatisierungen im Bereich der Daseinsvorsorge: Gesundheit, Rente, Bildung und sogar der Zugang zu Wasser.

Das chilenische Entwicklungsmodell begrenzt zudem die Möglichkeiten der Bürger_innen auf soziale, wirtschaftliche und politische Teilhabe und führt damit die bestehenden strukturellen Ungleichheiten fort. In diesem Sinne ist bislang der Bruch mit der Diktatur nicht abschließend vollzogen.Diese fortbestehenden sozialen Ungleichheiten haben seit Herbst 2019 zu massiven Protesten und schließlich zum Versuch einer umfassenden Verfassungsreform geführt. Am 4. September 2022 scheiterte der progressive Reformversuch am Votum der Bürger_innen Chiles und seit Mai dieses Jahrs dominieren sogar rechtsextremistische Akteure den neugewählten Verfassungsrat.

Michelle Bachelet, zweifache ehemalige Präsidentin Chiles und frühere UN-Hochkommissarin für Menschenrechte beschäftigt seither die Frage nach den Gründen des Scheiterns. Aus ihrer Sicht fehlte es progressiven Vertreter_innen, die mit großem Enthusiasmus in die damalige verfassungsgebende Versammlung gewählt worden sind, an Erfahrung beim Aushandeln vonschwierigen Kompromissen. Ihrer Meinung nach liegt die aktuelle Herausforderung für progressive Chilen_innen darin, in der Auseinandersetzung um eine neue Verfassung weiter für die Achtung der Menschenrechte und das Bekenntnis zur Demokratie und ihren Werten einzutreten. Bachelet betonte: „Wir müssen Mut und Entschlossenheit zeigen, den Vormarsch der autoritären Akteure zu stoppen und Brücken zu schlagen“.

Isabel Cademartori , deutsch-chilenische Bundestagsabgeordnete und Co-Vorsitzende des Gesprächskreises Lateinamerika der SPD-Fraktion im Bundestag, deren Großvater Minister im Kabinett Salvador Allendes war, gab zu bedenken: Chile erlebt derzeit eine Verschiebung in der Auseinandersetzung um die Deutungshoheit über den Putsch. Das Erstarken rechter Kräfte führt dazu, dass die Menschenrechtsverletzungen der Putschist_innen und die Diktatur erneut verharmlost werden, nachdem sie lange gesellschaftlich geächtet waren. So spricht das rechtsgerichtete Parteienbündnis gezielt nicht von einem „Putsch“, sondern lediglich von einem „Bruch“. In einer Umfrage vom Mai dieses Jahres erklärte über ein Drittel der Chilen_innen, Pinochet hätte das Land „vom Marxismus befreit“. Michelle Bachelet betont jedoch: „Wir können verschiedene Sichtweisen über die Vergangenheit haben, aber die Zukunft hängt von uns allen ab“.

 

Doch wie kann angesichts einer tiefgreifenden ökonomischen Krise und einer Krise der demokratischen Repräsentation das Vertrauen der Bürger_innen in ihre Demokratie zurückgewonnen werden? Für Yasmin Fahimi, Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), ist mit der Demokratie ein Wohlstandsversprechen verbunden, das nur mit der Ermächtigung von Menschen auf betrieblicher und tariflicher Ebene gehalten werden kann. Wird dieses Versprechen nicht eingehalten, legt man die Axt an die Demokratie und stärkt die Rechtspopulist_innen, so Fahimi. Jedoch sind hierbei nicht nur die Gewerkschaften, die Parteien und die Zivilgesellschaft gefordert, sondern, betonte Isabel Cademartori, auch die Wirtschaft muss in die Pflicht genommen werden, die Demokratie zu verteidigen.

Michelle Bachelet setzt große Hoffnungen darauf, dass Verbesserungen auf dem parlamentarischen Weg erreicht werden können. Die Regierung von Präsident Boric hat bereits wichtige Schritte unternommen, um das chilenische Arbeitsrecht und die Gewerkschaften zu stärken. So wurde der gesetzliche Mindestlohn deutlich erhöht. Klar ist, ob in Chile oder in Deutschland: Soziale und demokratische Teilhabe sind entscheidende Grundpfeiler gesunder Demokratien. Denn nur mit aktivem demokratischem Engagement der Bürger_innen kann eine spürbare soziale Erneuerung gelingen und nur so kann rechtspopulistischen, inhaltsleeren Parolen entgegengewirkt werden.


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