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Wir müssen die Kriegsrhetorik hinter uns lassen, uns der ökologischen und gesundheitlichen Ursachen der Pandemie annehmen und diese auf die politische Agenda setzen. Das wird uns dabei helfen, positiv auf die größte Herausforderung der Menschheitsgeschichte, die Klimakrise, zu reagieren und einen großen ökosozialen und ökonomischen Pakt zu schließen.
Bild: Buenos Aires am 16. Tag des Lockdown von AP
Buenos Aires am 16. Tag des Lockdowns
Pandemien gab es bereits einige in der Menschheitsgeschichte. Den Anfang machte die Schwarze Pest im Mittelalter, später folgten dann Epidemien, die die Europäer_innen während der sog. Conquista nach Amerika einschleppten und die autochthone Bevölkerung dezimierten. Heute schätzt man, dass Grippe, Masern und Typhus dreißig bis neunzig Millionen Menschen das Leben kosteten. Später folgten dann die Spanische Grippe (1918-1919), die Asiatische Grippe (1957), die Hongkong-Grippe (1968), HIV/Aids (seit den achtziger Jahren), die Schweinegrippe AH1N1 (2009), SARS (2002), Ebola (2014), MERS (Coronavirus, 2015) – und nun eben Covid-19.
Und dennoch ist es das erste Mal überhaupt, dass die ganze Welt unter Quarantäne steht. Wer hätte es für möglich gehalten, dass ein staatlich verordneter Ausnahmezustand, gewissermaßen ein gesundheitspolitischer Leviathan, mit einem solchen Tempo von den Nationalstaaten verhängt würde? Doch nun betreffen die Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbote knapp ein Drittel der Weltbevölkerung. Grenzen werden geschlossen, Kontrollposten eingerichtet, das Sicherheits- und Kontrollparadigma wird ausgeweitet, Isolation und Social Distancing sind die neue Norm. Gleichzeitig fordern diejenigen, die vor kurzem noch nach einem schlankeren Staat riefen, nun notwendige staatliche Eingriffe. Und die Sparprogramme, mit denen zuvor das Gesundheitswesen zusammengekürzt wurde, werden nun selbst in den Ländern des globalen Nordens zum Teufel gejagt.
Man kann sich kaum noch vorstellen, dass die Welt vor diesem Jahr der großen Pandemie in wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht relativ stabil gewesen ist. Doch das Coronavirus hat uns in eine Welt katapultiert, in der die großen gesellschaftlichen Debatten neu geführt werden müssen: Wie können wir die Gesellschaft begreifen? Wie finden wir Wege aus der Krise? Welche Rolle soll der Staat dabei einnehmen? Und als wäre das alles nicht schon genug, müssen wir uns am Rande des Systemkollapses auch noch über die Zukunft unserer Zivilisation Gedanken machen.
Dieser Artikel nimmt sich vor, einen Beitrag zu diesen großen Debatten zu leisten. Dabei soll der Frage nachgegangen werden, was wir aus der Pandemie lernen und wie wir unsere Zukunft gestalten können.
Die Rückkehr des Staates und der Ambivalenz: der gesundheitspolitische Leviathan und seine zwei Gesichter
Unter Rückgriff auf das von Geoff Mann und Joel Wainwright formulierte Konzept des Klima-Leviathans lässt sich sagen, dass wir derzeit die Entstehung eines zeitlich befristeten gesundheitspolitischen Leviathans miterleben, der zwei Gesichter hat. Zum einen scheint es eine Rückkehr zum Sozialstaat zu geben. Denn die Maßnahmen, die derzeit in aller Welt umgesetzt werden, zeugen von einem entschlossenen Eingreifen des Staates. Beobachten lässt sich dies sowohl in Ländern mit starkem Staat – wie Deutschland und Frankreich – als auch in ausgesprochen liberalen Demokratien wie den Vereinigten Staaten. So kündigte Angela Merkel ein 156 Milliarden Euro schweres gesundheits- und wirtschaftspolitisches Hilfspaket an. Ein Teil des Geldes geht an Solo-Selbstständige und Unternehmen mit bis zu zehn Mitarbeitern. In Spanien werden bis zu 200 Milliarden Euro in die Hand genommen, was ganzen 20 Prozent des BIP entspricht. Und in Frankreich kündigte Emmanuel Macron ein Hilfspaket in Höhe von 45 Milliarden Euro und Bürgschaften im Wert von 300 Milliarden Euro an. Die Situation ist angesichts der Arbeitsplatzverluste und der vielen Millionen Arbeitslosen, die diese Krise verursachen wird, sogar so ernst, dass selbst ausgesprochen liberal gesinnte Ökonome_innen einen zweiten New Deal ins Gespräch bringen, um der Systemkrise Herr zu werden. Mittel- bis langfristig stellt sich jedoch wie immer die Frage, welche Sektoren von einer solchen Politik profitieren. So stellte Donald Trump bereits unmissverständlich klar, dass sein zwei Billionen Dollar schweres Konjunkturpaket (der Coronavirus Aid, Relief, and Economic Security Act, kurz CARES-Act) unter anderem dem Ziel diene, besonders anfällige Wirtschaftssektoren zu retten. Hierzu zählt offenbar auch die Fracking-Industrie, die zu den umweltschädlichen und am stärksten vom Staat subventionierten Wirtschaftszweigen überhaupt gehört.
Der beschriebene gesundheitspolitische Leviathan wird von einem Ausnahmezustand flankiert. Dieses Thema ist bereits eingehend beschrieben worden und muss an dieser Stelle nicht wieder aufgegriffen werden. Begnügen wir uns mit der Feststellung, dass sich die verstärkte soziale Kontrolle in vielen Ländern in Form von Rechtsverletzungen, einer zunehmenden Militarisierung und der Unterdrückung besonders verwundbarer Teile der Gesellschaft zeigt. In den Ländern des Globalen Südens treffen wir indes keine digitale Überwachungsgesellschaft asiatischer Prägung an, sondern beobachten die Ausweitung eines weitaus weniger fortgeschrittenen Überwachungsmodells, das insbesondere auf Sicherheitskräfte baut. Dieses ist geeignet, die besonders anfälligen Bereiche der Gesellschaft unter Berufung auf den Kampf gegen das Coronavirus noch stärker zu unterdrücken, als dies ohnehin schon der Fall war.
Eine immer wiederkehrende Frage lautet, wie weit der Staat den gesellschaftlichen Wiederaufbau vorantreiben kann. Die Antwort auf diese Frage werden wir schon bald erfahren. Mit einiger Sicherheit wird es zu neuen sozialen Konflikten kommen, die sowohl von unten als auch von oben, in den Wirtschaftszweigen mit besonders starker Vermögenskonzentration, ausgefochten werden. Doch die Länder der Peripherie verfügen über deutlich geringere Ressourcen. Mit Blick auf Argentinien ist dabei vor allem an den Beinahe-Staatsbankrott und das soziale Desaster zu denken, in die die Regierung von Mauricio Macri das Land manövriert hat. Kein Land ist stark genug, um sich aus eigener Kraft zu retten, ganz gleich welch progressive Maßnahmen es auch verhängen mag. Alles deutet darauf hin, dass eine Lösung nur auf globaler Ebene möglich ist und eine grundlegende Neuausrichtung der Nord-Süd-Beziehungen unter den Vorzeichen eines demokratischen Multilateralismus erfordert. Dieser sollte auf die Schaffung von Nationalstaaten abzielen, in denen Soziales, Ökologie und Wirtschaft im Mittelpunkt der politischen Agenda stehen und aufs Engste miteinander verknüpft sind.
In Krisen lernt man, nicht auf falsche Lösungen zu vertrauen
Die Pandemie legt offen, wie weit die soziale Ungleichheit und die extreme Vermögenskonzentration weltweit fortgeschritten sind. Das ist beileibe keine neue Erkenntnis, bietet uns aber die Gelegenheit, über Auswege aus anderen globalen Krisen zu reflektieren. In dieser Hinsicht kommt einem die globale Krise von 2008 als jüngstes Beispiel in den Sinn, wenngleich sie unter anderen Vorzeichen stand. Verursacht wurde sie durch die Immobilienblase in den USA und war zunächst eine Finanzkrise, verbreitete sich dann aber über den Globus und wuchs sich zu einer Wirtschaftskrise mit globalen Ausmaßen aus. Die Wirtschafts- und Finanzkrise bleibt aber auch als mahnendes Beispiel der Krisenbewältigung in Erinnerung, denn ihre Folgen sind bis heute spürbar. Von einigen Ausnahmen abgesehen, retteten die Regierungen damals die großen Finanzunternehmen und sogar deren Vorstände, die sogar noch vermögender aus der Krise hervorgingen, als sie es ohnehin schon waren.
In gesellschaftlicher Hinsicht verlief die Erholung weltweit gesehen also eher rückwärtsgewandt. Man sagt zwar, die Wirtschaft habe sich erholt, doch das reichste Prozent der Bevölkerung wurde nur noch reicher, während die Ungleichheit weiter zunahm. Als Reaktion darauf entstand 2011 die Bewegung Occupy Wall Street mit ihrem Motto »Wir sind die 99 Prozent«. Millionen Menschen verloren ihr Zuhause und blieben überschuldet und arbeitslos zurück. Die Ungleichheit verschärfte sich, Reformpläne und Investitionskürzungen in Gesundheit und Bildung griffen in zahlreichen Ländern um sich. Das lässt sich etwa am Beispiel Griechenland in besonders dramatischer Weise ablesen, zeigt sich aber auch in Ländern wie Italien, Spanien und sogar Frankreich. Am Vorabend des Weltwirtschaftsforums von Davos im Januar 2020 hieß es in einem Bericht von Oxfam, dass die lediglich 2.153 Multimillionäre der Welt mehr besäßen als 4,6 Milliarden Menschen (60 Prozent der Weltbevölkerung). In der Weltpolitik ergaben sich enorme tektonische Verschiebungen, etwa die Entstehung neuer Parteien und autoritärer Regime in aller Welt: eine reaktionär und autoritär gesinnte Rechte, der etwa die Tea Party und Donald Trump in den USA, Jair Bolsonaro in Brasilien, Scott Morrison in Australien, Matteo Salvini in Italien oder Boris Johnson in Großbritannien angehören.
Bis vor wenigen Jahren glaubte man noch, dass sich Lateinamerika der fortschreitenden Radikalisierung nach rechts widersetze, die sich heute in einem Großteil Europas und in den USA beobachten lässt und dort zu mehr Ungleichheit, Fremdenhass und Globalisierungsfeindlichkeit führt. Nun muss man jedoch feststellen, dass auch in Südamerika seit einiger Zeit ein neuer Wind weht. Das gilt vor allem seit dem Aufstieg Bolsonaros in Brasilien und dem Staatsstreich in Bolivien. Hier muss man erwähnen, dass Lateinamerika unter den Vorzeichen des commodity consensus die Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 dank der hohen Rohstoffpreise und der enormen Exportleistung zwar überstanden hat. Doch nun sind die fetten Jahre vorbei und es ist wenig übriggeblieben. So ist der Kontinent noch immer die Weltregion mit der größten Ungleichheit (20 Prozent der Bevölkerung besitzen 83 Prozent des Vermögens).
Zugleich findet hier (dank der Ausweitung der Landwirtschaft) Landraub im großen Stil statt. Außerdem leben Umwelt- und Menschenrechtsaktivist_innen* in Südamerika besonders gefährlich (60 Prozent aller Morde an Umweltaktivisten in den Jahren 2016 und 2017 ereigneten sich Lateinamerika). Und als wäre all das noch nicht genug, ist Lateinamerika die gefährlichste Region für Frauen, die hier besonders häufig Opfer von Feminiziden und anderen Formen geschlechtsspezifischer Gewalt werden.
Die Bewältigung der Krise von 2008 und ihre negativen Folgen sind also auch heute noch deutlich spürbar. Die Maßnahmen von damals – Vermögenskonzentration und räuberischer Neoliberalismus – sollten uns heute als mahnendes Beispiel dienen und den Weg freimachen für innovative, demokratische Lösungen zur Förderung der Gleichheit und der Solidarität. Zugleich sollte es uns zu denken geben, dass nicht einmal die Länder des globalen Südens, die in Zeiten des commodity consensus aus der Krise fanden und von außergewöhnlich hohen Einnahmen aus dem Rohstoffexport im Zeichen des Neo-Extraktivismus profitierten, heute wirklich funktionieren oder als positive Beispiele herhalten könnten.
Verschleierung der Umweltursachen und Omnipräsenz der Kriegsrhetorik
Oben wurden die äußerst negativen Entwicklungen in gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht nach der Krise von 2008 beschrieben. Nun soll noch etwas näher auf die ökologischen Ursachen der Pandemie eingegangen werden. In zahlreichen Artikeln ist unter Berufung auf diverse wissenschaftliche Untersuchungen zu lesen, dass die Viren, die die Menschheit in der jüngeren Geschichte heimgesucht haben, unmittelbar mit der Zerstörung der Ökosysteme, der Abholzung und dem Wildtierverkehr verknüpft sind, die durch die Errichtung von Monokulturen verursacht werden. Gleichzeitig lässt sich beobachten, dass bei aller Aufmerksamkeit für die Pandemie selbst und die Strategien zu ihrer Eindämmung dieser Kernaspekt unberücksichtigt bleibt. Das alles bietet Anlass zu größter Sorge.
Hat irgendjemand in den Ansprachen von Merkel oder Macron Hinweise auf die Umweltprobleme vernommen, die hinter der Pandemie stecken? Oder ist der argentinische Präsident Alberto Fernández, der in den vergangenen Wochen viel Anerkennung für seine Präventionspolitik und den ständigen Austausch mit einem Expertenkomitee erhalten hat, jemals auf die sozioökologischen Hintergründe der Pandemie eingegangen? Die sozioökologischen Ursachen der Pandemie zeigen, dass der Feind keineswegs das Virus selbst ist, sondern dessen Ursachen. Wenn es also einen Feind gibt, ist es die räuberische Globalisierung moderner Prägung und das Verhältnis zwischen Kapitalismus und Natur. Zwar kursiert das Thema in sozialen Netzwerken und in den Medien, es findet aber keinen Widerhall in der politischen Agenda. Die Kehrseite dieses nach Horacio Machado Aráoz als »epistemische Blindheit« zu bezeichnenden Phänomens bildet eine beispiellose Kriegsrhetorik.
Die Verbreitung von Kriegsmetaphern und die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg durchziehen den gesamten Diskurs von Macron und Merkel bis hin zu Trump und Xi Jinping. Und auch der argentinische Präsident Alberto Fernández spricht ständig von einem »unsichtbaren Feind«. Dieses sprachliche Bild dient dazu, die Gesellschaft hinter der Angst vor Ansteckung und Tod zu einen und sozusagen die Reihen im Angesicht eines gemeinsamen Feindes zu schließen. Sie verstellt jedoch den Blick für die Ursachen des Problems und verschleiert diese sogar. Zudem soll sie die soziale Kontrolle über die als besonders problematisch angesehenen Teile der Gesellschaft (die Armen, die Gefangenen, die Unbeugsamen) normalisieren und intensivieren.
Die kriegerische Rhetorik vermischt und verdeckt die Ursachen des Problems und konzentriert sich stattdessen auf die Symptome, während die tieferliegenden Ursachen außer Acht gelassen werden. Diese haben mit dem Gesellschaftsmodell im Kapitalismus neoliberaler Prägung und der voranschreitenden Ausbeutung der natürlichen Ressourcen zu tun. Sie führen zu einem verstärkten Kontakt mit Wildtieren, die aus ihren zerstörten Ökosystemen fliehen. Die Kriegsrhetorik schürt zudem eher Angst, als die Solidarität zu stärken und soll die Wachsamkeit gegenüber Verstößen gegen die staatlichen Maßnahmen zur Verhinderung von Ansteckungen verstärken. Immer wieder ist in Argentinien und anderen Ländern von der Verbindung zwischen kriegerischem Diskurs und der Gestalt der »wachsamen Bürger_innen« zu hören, die man in Deutschland wohl auch als Blockwart bezeichnen würde. Diese sind stets aufmerksam und bereit, ihre Nachbar_innen beim geringsten Verstoß gegen die Quarantänevorschriften zu denunzieren. Dieser kriegerische Diskurs muss überwunden werden, damit wir uns stattdessen der ökologischen und gesundheitlichen Ursachen der Pandemie annehmen können. Denn diese gehören auf die politische Agenda, damit wir uns bestmöglich auf die größte Herausforderung der Menschheit vorbereiten können: die Klimakrise.
Ausblick – Vom Fürsorgeparadigma hin zu einem großen ökosozialen und wirtschaftlichen Pakt
Im Jahr der großen Pandemie befinden wir uns an einem zivilisatorischen Scheideweg. Angesichts neuer politischer und ethischer Dilemmata können wir nun die Wirtschafts- und Klimakrise aus einem neuen Blickwinkel betrachten. Dabei geraten sowohl die unterschiedlichen Entscheidungsebenen (global/national/lokal) als auch geopolitische Fragestellungen (Nord-Süd-Beziehungen in einem neuen Multilateralismus) ins Blickfeld. Das eigentliche Dilemma ließe sich wie folgt beschreiben: Entweder lassen wir uns auf eine immer autoritärere neoliberale Globalisierung ein und unterwerfen uns dem Sicherheitsparadigma und der digitalen Überwachung asiatischer Prägung, wie sie der Philosoph Byung-Chul Han im El Pais so herausragend beschreiben hat– wenngleich diese in unseren peripheren Gesellschaften des globalen Südens weniger vollkommen ausfallen würde – im Rahmen eines »Chaos-Kapitalismus« im Sinne des bolivianischen Analysten Pablo Solón. Oder aber die Krise ebnet uns den Weg hin zu einer demokratischeren Globalisierung unter dem Paradigma der Fürsorge, in der wir Solidarität leben und anerkennen und unsere wechselseitigen Abhängigkeiten als gesellschaftliche und länderübergreifende Verbindungen auffassen und in der sich die Politik an einem »neuen ökosozialen und ökonomischen Pakt« orientiert, der gesellschaftliche und ökologische Gerechtigkeit zusammenführt.
Wir dürfen nicht vergessen, dass die Krisen auch Prozesse der »kognitiven Befreiung« anstoßen, wie sie in der Literatur über kollektives Handeln insbesondere von Doug McAdam beschrieben wird. Diese ermöglicht eine Bewusstseinsveränderung aller potentiell Betroffenen, die Überwindung des Fatalismus und der Passivität und ermöglicht das, was zuvor undenkbar erschien. Dafür müssen wir jedoch verstehen, dass wir unser Schicksal in der eigenen Hand haben und dass es Möglichkeiten für Veränderungen inmitten der Katastrophe gibt. Schlimmstenfalls aber verbarrikadieren wir uns zu Hause, weil wir unser Schicksal für vorherbestimmt halten und uns lähmen lassen von der Annahme, dass sich die entstehenden sozialen und politischen Möglichkeiten und die staatliche Agenda ohnehin nicht beeinflussen lassen. Noch schlimmer wäre es nur, wenn sich als Ausweg der vom Gesundheitsnotstand verursachten Systemkrise die »Katastrophe in der Katastrophe« weiter vertiefte. Davon geht zumindest die afroamerikanische Feministin Keeanga-Yamahtta Taylor unter Berufung auf Naomi Kleins Konzept des »Katastrophen-Kapitalismus« aus. Wir müssen anerkennen, dass wir uns in einer außergewöhnlichen Lage, in einer Systemkrise befinden und unser Horizont keineswegs verschlossen ist, sondern noch immer verhandelt werden kann.
In diesem Sinne sollten wir zwar einige Pforten schließen (so sind Lösungen wie 2008, die vor allem die reichsten und zerstörerischen Teile der Gesellschaft begünstigen oder zu einer zunehmenden Ausbeutung natürlicher Ressourcen führen, inakzeptabel). Andere sollten wir dagegen offen halten und unterstützen (etwa einen Staat, der dem Paradigma der Fürsorge und des Lebens folgt). So können wir Wege aus der Krise finden und eine andere Welt ersinnen. Wir müssen Wege aus der Globalisierung heutiger Prägung finden und dabei die Zerstörung von Umwelt und Ökosystemen und ein Gesellschaftsmodell hinterfragen, in dem soziale Beziehungen ausschließlich dem Individualinteresse dienen und das der Kommerzialisierung und einem irregeleiteten Konzept von Autonomie folgt. Grundlage dieser neuen Sprache sollte sowohl ein Paradigma der Fürsorge in sozial-kognitiver Hinsicht als auch ein großer ökosozialer und ökonomischer Pakt auf nationaler und globaler Ebene bilden.
Zunächst sollte das Paradigma der Fürsorge mehr Anerkennung erfahren, wie es der Ökofeminismus, der lateinamerikanische Populärfeminismus und die feministische Ökonomie schon lange fordern. Dabei handelt es sich um ein beziehungsorientiertes Paradigma, das gegenseitige Anerkennung und Achtung in den Vordergrund rückt und uns bewusst macht, dass unser Fortbestand die gesamte Menschheit betrifft und uns als soziale Wesen fordert. Entsprechende Beiträge können uns dabei helfen, die Beziehungen zwischen dem Menschlichen und dem Nichtmenschlichen neu zu denken und das Konzept der Autonomie zu hinterfragen, das unsere moderne Weltsicht und unser Wissenschaftsverständnis hervorgebracht haben. Stattdessen sollten wir Konzepte wie wechselseitige Abhängigkeit, Gegenseitigkeit und Komplementarität in den Mittelpunkt rücken. Dazu gehört, dass wir alltägliche Aufgaben der Daseinsfürsorge und der Fortpflanzung, die im Rahmen des patriarchalischen Kapitalismus seit jeher entwertet werden, als zentrale Aufgaben ansehen, die für die ökologische Frage von entscheidender Bedeutung sind. Wir müssen uns von dem trügerischen Konzept der Autonomie verabschieden, das uns der liberale Individualismus eingebrockt hat. Wir müssen verstehen, dass wir voneinander abhängig sind und müssen unsere anthropozentrische Weltsicht aufgeben. Stattdessen sollten wir uns als Teil eines Ganzen begreifen, das wir zusammen mit den Anderen und unserer Umwelt bilden. Angesichts der zivilisatorischen Krise lässt sich die wechselseitige Abhängigkeit heute zunehmend auch als ökologische Abhängigkeit lesen, so dass die Prinzipien von Fürsorge und Wechselseitigkeit auch auf andere Lebewesen und die Umwelt ausgeweitet werden sollten.
Vor dem Hintergrund einer globalen menschlichen Tragödie nimmt die Fürsorge nicht nur in häuslicher sondern auch in gesundheitlicher Hinsicht als Grundlage für Nachhaltigkeit eine herausgehobene Stellung ein. Einerseits bedeutet dies eine neue Wertschätzung der im Gesundheitssektor beschäftigten Männer und Frauen, von Infektiolog_innen, Epidemiolog_innen, Intensivmediziner_innen und Allgemeinmediziner_innen, Krankenpfleger_innen und Sanitäter_innen und mithin allen im Gesundheitswesen Beschäftigten, die tagtäglich gegen die Pandemie kämpfen und die Einschränkungen und Defizite in den einzelnen Ländern überwinden. Auch bedeutet es eine Verabschiedung von der merkantilistischen Logik und eine Umleitung staatlicher Investitionen in die sozialen Berufe. Andererseits brauchen wir die Stimmen und die Erfahrungen der Menschen im Gesundheitswesen mehr denn je, um das undurchdringliche Geflecht zwischen Gesundheit und Umwelt angesichts des Klimakollapses auf die politische Agenda zu setzen. Denn auf uns warten nicht nur neue Pandemien, sondern auch immer mehr Krankheiten, die auf Umweltverschmutzung und die sich verschärfende Klimakrise zurückgehen. Dabei müssen wir bedenken, dass die Medizin trotz ihrer tiefgreifenden Kommerzialisierung in den vergangenen Jahrzehnten ihre gesellschaftliche und gesundheitliche Bedeutung keineswegs eingebüßt hat – wie sich derzeit einmal mehr beobachten lässt. Sie muss von nun an gemeinsam mit den Beiträgen aus Ökologie und Feminismus, von Jugendlichen und Indigenen verstärkt in die großen gesellschaftlichen Debatten, die kommenden Veränderungen und unsere Maßnahmen zur Einhegung des Klimawandels eingebunden werden.
In Argentinien hat die neue Regierung von Alberto Fernández mehrfach erkennen lassen, welche Relevanz sie der Pflege als Aufgabe und Wert an sich einräumt. Hierzu zählt etwa die Schaffung des Ministeriums für Frauen, Genderpolitik und sexuelle Vielfalt und die Einbindung von Expert_innen in die Regierung, deren feministische Beiträge bestimmte Bereiche des staatlichen Handelns durchziehen. Diese Geste zur Einbindung des Feminismus in die Regierungspolitik muss sich allerdings auch in einer Ausweitung der öffentlichen Agenda mit Blick auf die Pflege niederschlagen. Es steht zu hoffen, dass die im Beamtenapparat tätigen Frauen die Aufgabe übernehmen, die engen Beziehungen zwischen Pflege, Gesundheit und Umwelt in den politischen Diskurs einzubinden.
Darüber hinaus eröffnet die aktuelle Krise die Chance, globalere Lösungen der öffentlichen Politik in den Blick zu nehmen. Vor wenigen Tagen schlug die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) einen neuen Marshallplan zur Freigabe von 2,5 Milliarden Dollar Hilfsgeldern für Schwellenländer vor, der zudem einen Schuldenschnitt und einen Notfallplan für den Gesundheitssektor sowie diverse Sozialprogramme umfasst. Eine Neuordnung der Weltwirtschaft und ein Schuldenerlass erscheinen inzwischen denkbar. Auch ein Bürgergeld erscheint im Bereich des Möglichen. Der Debatte darüber wurde durch eine Pandemie, die Millionen von Arbeitsplätzen vernichtet und dank Telearbeit samt längeren Arbeitszeiten prekäre Beschäftigungsverhältnisse vertieft, neues Leben eingehaucht.
Doch einen solchen New Deal sollten wir keineswegs ausschließlich aus wirtschaftlicher und sozialer Perspektive, sondern auch aus ökologischem Blickwinkel betrachten. Schlimmstenfalls geht die Wiederbelebung der Wirtschaft nämlich zulasten der Umwelt und verschärft die Umwelt- und Klimakrise und die Nord-Süd-Ungleichheit. Zahlreiche Stimmen, darunter die US-Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez, forderten deshalb bereits 2019 einen »Green New Deal«. Unter anderem Naomi Klein und Jeremy Rifkin griffen das Thema auf und weiteten es auf Themen wie soziale Gerechtigkeit, ökologische Gerechtigkeit und die Gerechtigkeit zwischen den Hautfarben aus.
Vor dem Hintergrund der aktuellen Pandemie gab es bereits erste Signale. So vertritt Chris Stark, Vorsitzender des britischen Ausschusses zum Klimawandel (CCC) die Position, dass die staatlichen Wirtschaftshilfen zur Überwindung der Coronakrise auch die Abkommen zum Klimawandel berücksichtigen sollten. Sie müssten mithin so ausgestaltet werden, dass sie nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in ökologischer Hinsicht wirkten. In den USA wandte sich eine Gruppe von Wirtschaftswissenschaftler_innen, Akademiker_innen und Finanzexpert_innen unter dem Schlagwort des green stimulus in einem Schreiben an den Kongress und forderte diesen auf, den Schutz der Arbeitnehmer_innen zu verstärken und nachhaltige Unternehmen zu fördern, um die Klimakatastrophe auch in einer vom Coronavirus geprägten Wirtschaftslage abzuwenden.
Gemeinsam mit Enrique Viale weise ich in unserem neuesten Buch Una brújula en tiempos de crisis climática [etwa: Wegweiser durch die Klimakrise], das demnächst bei Siglo Veintiuno erscheint, in genau diese Richtung. Darin regen wir einen großen ökosozialen und ökonomischen Pakt an. Natürlich sind wir uns darüber im Klaren, dass in unseren Breiten die Debatte über den Green New Deal eher unbekannt ist. Ursächlich dafür sind zahlreiche Faktoren wie wirtschaftliche Notlagen und fehlende historische Bezüge. Schließlich gab es in Lateinamerika weder einen New Deal noch einen Marshallplan. In Argentinien ist vielleicht noch der Plan Quinquenal der ersten Perón-Regierung zu nennen, der jedoch nationalistischen Umverteilungszielen diente. Doch befand sich Argentinien damals in einer anderen Lage: das Land verzeichnete einen Haushaltsüberschuss und die Preise für Getreideexporte waren hoch. Das Land profitierte in wirtschaftlicher Hinsicht vom Krieg in Europa, so dass die Regierung Perón die Möglichkeit hatte, eine bestimmte Autonomie zu erlangen. Dabei richtete sie ihre Umverteilungspolitik vor allem auf die Arbeitnehmer in den Städten aus.
In Argentinien gibt es also keine historischen Beispiele für einen Wiederaufbau, wie ihn Europa mit dem Marshallplan oder die USA mit dem New Deal verbinden. Was jedoch existiert, ist die kollektive Vorstellung einer Sozialpartnerschaft mit engen Verbindungen zum Peronismus, in der Entschädigungsforderungen (soziale Gerechtigkeit) noch immer mit der omnipräsenten Idee des Wirtschaftswachstums verknüpft sind. Heute mag das an die Ideale der Industrialisierung erinnern. Dabei hatte stets das Modell einer auf Rohstoffe basierenden, ausfuhrorientierten Wirtschaft Vorrang, die unter den Vorzeichen der Erdölförderung (Vaca Muerta), des Agrarbusiness und in geringerem Maße auch des Tagebaus steht. Diese Vorstellungswelt ist jedoch kaum geeignet, Wege in Richtung eines gerechten Übergangs zu finden oder eine landesweite Debatte über einen ökosozialen und wirtschaftlichen Pakt zu führen. Zudem verstellt sie den Blick und wittert angesichts der Klimakrise vor allem Gefahren.
Das bedeutet jedoch keineswegs, dass nicht auch emanzipatorische Narrative und konkrete Utopien in Lateinamerika existierten. So sollte man nicht vergessen, dass auf diesem Kontinent immer wieder neue Formen der Politik erprobt werden, die auf lokale Widerstandsbewegungen und ökoterritoriale Bewegungen (etwa der Land- oder Stadtbevölkerung, indigenen Bevölkerung, Bäuer_innen und Mestiz_innen oder die jüngsten Jugendbewegungen für Klimagerechtigkeit) zurückgehen. Diese postulieren ein neues Verhältnis zwischen den Menschen sowie zwischen Gesellschaft und Umwelt und mithin zwischen Menschlichem und Nichtmenschlichem. Auf lokaler Ebene werden selbst in einem derart von Gentechnik bestimmten Land wie Argentinien präfigurative und systemkritische Erfahrungen wie die Agrarökologie weitergegeben. Diese Prozesse der Reterritorialisierung werden von einem politisch-ökologischen Narrativ begleitet, das das »gute Leben«, Postdevelopment-Theorie und Postextraktivismus, die Rechte der Natur, das Gemeinwohl, eine Ethik der Fürsorge und eine gerechte sozial-ökologische Entwicklung in sich vereint. Zu den Schlüsselbegriffen zählen hier die Verteidigung des Gemeinwohls und die Schaffung einer neuen Beziehung zur Umwelt sowie die Weiterentwicklung sozialer Beziehungen unter dem Vorzeichen der sozialen und ökologischen Gerechtigkeit.
Dabei geht es um die Konstruktion einer wahrhaftigen nationalen und globalen Agenda mit einer Reihe öffentlicher Politiken zur Schaffung eines gerechten Übergangs. Dies erfordert zweifelsohne nicht nur eine vertiefende Debatte über diese Themen, sondern auch den Aufbau eines Nord-Süd-Dialogs mit den Vordenker_innen des Green New Deal auf Grundlage eines neu definierten Multilateralismus im Zeichen der Solidarität und Gleichheit.
Niemand behauptet, dass das einfach ist – unmöglich ist es jedoch ebenso wenig. Wir müssen uns mit der Natur aussöhnen und mit ihr und uns selbst in Einklang kommen. Die aktuelle Debatte und eine noch zu formulierende Reformagenda eignen sich nicht nur zur Einhegung der herrschenden liberalen Denkweise, sondern auch der fatalistischen, dystopischen Perspektiven, die in einigen linken Bewegungen vorherrschen, und der epistemischen Blindheit so vieler progressiver und entwicklungspolitischer Strömungen. Das Coronavirus und der nahende Zusammenbruch befreien unser Denken und können nicht nur unsere politische Vorstellungskraft zur Sicherung unseres Überlebens und der Daseinsfürsorge anregen, sondern auch den Blick für die Schnittmenge neuer und alter (sozialer, ethnischer, feministischer und ökologischer) Konflikte schärfen. All das kann uns zu einem ganzheitlichen, reformorientierten Denken führen, das heute noch in weiter Ferne scheint.
Maristella Svampa ist Soziologin und Schriftstellerin. Themen ihrer Arbeiten sind der Neo-Extraktivismus in Lateinamerika sowie sozio-ökologische Konflikte.
*Der Text ist eine Übersetzung aus dem Spanischen, erschienen in der von der FES herausgegebenen spanischsprachigen gesellschaftspolitischen Zeitschrift für Lateinamerika, Nueva Sociedad, April 2020.
In der deutschen Fassung verwenden wir eine geschlechtersensible Sprache.
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Mareike Schnack Hiroshimastr. 28 10785 Berlin
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