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Eine Änderung der chilenischen Verfassung wurde im September vom Volk abgelehnt. Wie ist es dazu gekommen und wie können die Errungenschaften und Innovationen wie Geschlechtergerechtigkeit und Umweltschutz auch im Folgenden beibehalten werden?
Bild: Foto TomasLeighton von Tomas Leighton
Das Ergebnis des Referendums über die Verfassung für Chile war eine bittere Überraschung. Warum wurde der Vorschlag am 4. September 2022 so deutlich abgelehnt?
Bereits frühzeitig haben Beobachter_innen in Chile vor einem Scheitern des Referendums über die neue Verfassung gewarnt. Allerdings hat niemand damit gerechnet, dass von dem Rekordanstieg der Wahlbeteiligung ausschließlich das Lager der Ablehnung profitieren würde. Die Gründe für diese Niederlage sind auf der kommunikativen, soziologischen und politischen Ebene zu unterscheiden.
Die konservative Desinformationskampagne konnte nur aufgrund eines strategischen Fehlers der Linken so erfolgreich sein: Wir haben die Ausarbeitung einer Verfassung mit der Ausarbeitung eines innovativen progressiven Regierungsprogramms verwechselt. Das strukturelle Problem bei der Ratifizierung neuer Verfassungen per Volksabstimmung besteht darin, dass die Wähler_innen umso mehr Gründe haben, den Text abzulehnen, je umfangreicher er ist. Im Falle Chiles interpretierten weite Teile des Volkes die Plurinationalität als einen Angriff auf ihre patriotische Identität.
Aus soziologischer Sicht gab es einen Moment im Prozess, in dem die Linke begann, sich dazu hinreißen zu lassen, "die fortschrittlichste Verfassung der Geschichte" zu schaffen. Ich glaube nicht, dass das Phänomen so sehr mit einem Rache akt gegen die Konservativen zu tun hat. Vielmehr waren wir in Chile immer davon besessen, uns der Welt als außergewöhnlich zu präsentieren: der chilenische Weg zum Sozialismus, das Laboratorium des Neoliberalismus, der perfekte demokratische Übergang und jetzt die fortschrittlichste Verfassung der Geschichte.
Und schließlich verzerrte die Anzahl der gewählten Unabhängigen in der verfassungsgebenden Versammlung das Gewicht bestimmter gesellschaftlicher Ideen und erschwerte es, Vereinbarungen mit der Rechten zu treffen. Um es mit den Worten des norwegisch-US-amerikanischen Sozialwissenschaftlers und Philosophen Jon Elster zu sagen: Eine verfassungsgebende Versammlung braucht viele beratende Teilnehmer_innen, aber wenn es keine Verhandler_innen gibt, wird der Prozess wahrscheinlich scheitern. Es ist enttäuschend, dass in der verfassungsgebenden Versammlung zwar bekannte Parteiführer_innen vertreten waren, es aber an einer Kontrolle ihrer politischen Parteien mangelte, um zu verhindern, dass sie dem Klima in der Versammlung zum Opfer fielen. Leider wurde von den Mitgliedern der verfassungsgebenden Versammlung als Vorteil angesehen, sich autonom zu bewegen, weil sie dadurch dem Fetisch der Unabhängigen (von denen es schon so viele gab!) ähnlicher wurden.
Trotz der deutlichen Ablehnung befürworten die Mehrheit der politischen Akteure sowie der Bevölkerung weiterhin eine Reform der aktuellen Verfassung. Welche umsetzbaren Ideen für diesen Prozess gibt es? Welche Themen sind mehrheitsfähig?
Es ist eingetreten, was befürchtet wurde. Die Rechte spielt mit dem Hinauszögern der Verfassungsverhandlungen, bis die Notwendigkeit für eine neue Verfassung in der Bevölkerung an Rückhalt verliert. Es ist eine Win-Win-Situation für sie, und sie haben auch deshalb Erfolg, weil die Zentristen ihnen glauben, dass sie "ablehnen wollen, um einen besseren Entwurf zu schreiben". Andererseits: Welchen Anreiz hat die Linke, einen neuen Prozess einzuleiten, wenn eine weitere Wahlniederlage absehbar ist? Da soziale Rechte und die Gleichstellung der Geschlechter nach wie vor populäre Forderungen sind, sollten die Politiker_innen verstehen, dass sie vom Erfolg eines neuen Prozesses profitieren würden.
Wie kann dieser Prozess dazu beitragen, die Krise der repräsentativen Demokratie in Chile zu überwinden? Was wäre dafür notwendig?
In der Analyse erläutere ich, dass die derzeitige Verfassung nicht nur ein Problem mit der Legitimität des Ursprungs, sondern auch mit der Legitimität der Ausübung hat. Sie ist der Grund dafür, dass die Forderungen der Bürger_innen nicht in konkrete Reformen umgesetzt werden. In diesem Jahr stimmte die Mitte-Rechts-Fraktion im Kongress für eine Reform der verfassungsmäßigen Quoren, die sie schützen. Umfragen zeigen jedoch, dass die Chilen_innen nach wie vor eine neue Verfassung wollen. Wenn wir schließlich Erfolg haben, wird dies die Krise der repräsentativen Demokratie nicht beenden, aber wir sollten nie die Möglichkeit unterschätzen, dass die Menschen ihr Vertrauen in die Demokratie und die politischen Parteien wiederfinden.
Auf welche Reformprojekte konzentriert sich die chilenische Regierung derzeit? Wie kann eine Mehrheit im Kongress erreicht werden?
Das Erreichen einer Mehrheit im Kongress zur Verabschiedung der von der Regierung vorgelegten Rentenreform ist eine Frage ihres Überlebens . Die beiden Vorgängerregierungen (Mitte-Links und Mitte-Rechts) sind mit diesem Versuch gescheitert. Es hat sich ein Unbehagen breit gemacht, das leicht von Populisten ausgenutzt werden kann, die darauf drängen, dass die Menschen ihre Rentenersparnisse abheben können, als wären es Sozialleistungen. Andererseits ist es ein Thema, das die nächsten zehn Jahre bestimmen wird: Präsident Boric muss sein Erbe mit konkreten Reformen aufbauen, so wie Bachelet ihr Erbe mit der Bildungsreform aufgebaut hat.
Vielen Dank für das Gespräch!
Leighton, Tomás
(Noch) keine neue Verfassung für Chile / Tomás Leighton ; [Herausgebende Abteilung: Internationale Zusammenarbeit, Referat Lateinamerika und Karibik]. - Bonn : Friedrich-Ebert-Stiftung e.V., November 2022. - 16 Seiten = 200 KB, PDF-File. - (Analyse). - (Demokratie und Menschenrechte)Electronic ed.: Berlin : FES, 2022ISBN 978-3-98628-276-9
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