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Geopolitik und Geflüchtete - Wieso eine Zeitenwende im deutsch-türkischen Verhältnis ausbleibt

Berlin und Ankara haben eine komplizierte aber wichtige Beziehung. Der türkische Politikwissenschaftler Dr. Ilhan Uzgel argumentiert: Will Deutschland seine Zeitenwende umsetzen, ist es auf Kontinuität im Verhältnis zur Türkei angewiesen. In diesem Beitrag benennt er die bilateralen Vorteile des Status Quo.

 

 

Der Text steht hier auch im englischen Original zur Verfügung.

 

Für die Türkei ist Deutschland neben den USA und Russland eines der drei wichtigsten Länder in der Welt. Und auch Deutschland widmet seiner sehr komplizierten Beziehung zur Türkei besondere Aufmerksamkeit. Über die letzten zwanzig Jahre hatte Deutschland es mit einem Land zu tun, das seine Ideologie, seine Politik und sein gesamtes strategisches Denken verändert hat. Berlin musste sich immer wieder auf die Unbeständigkeit der Erdoğan-Regierungen einstellen. Jetzt, wo Deutschland mit der größten Bedrohung für seine Sicherheit seit Jahrzehnten konfrontiert ist, hat die Regierungskoalition in Berlin eine dramatische Wende in der Außen- und Sicherheitspolitik eingeleitet, deren Folgen für die Türkei noch nicht abzusehen sind.

 

Ähnlich wie Deutschland die Gewährleistung seiner Sicherheit an die USA und die NATO abgegeben und sich in Punkto Energiesicherheit auf Russland verlassen hatte, hat es die Bewältigung der Flüchtlingsströme ab Mitte der 2010er Jahre an die Türkei ausgelagert. Der russische Angriff auf die Ukraine hat nun zumindest einige Säulen dieser Herangehensweise ins Wanken gebracht und Deutschland gezwungen, eine Neujustierung seiner Außen- und Sicherheitspolitik vorzunehmen. Inwieweit diese Entwicklungen im strategischen Denken der Bundesrepublik etwas an den bilateralen Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland verändern werden, bleibt jedoch abzuwarten.

 

In Bezug auf die demokratischen Rückschritte in der Türkei herrscht in Berlin schon länger Gleichgültigkeit

 

Dem Grundgedanken von „Wandel durch Handel“ folgend, wollte die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel Russland und China durch wachsende Handelsbeziehungen und zunehmende Investitionen zu Reformen veranlassen und sie zur Integration in die regelbasierte Weltordnung bewegen. In beiden Fällen jedoch scheint dieser Ansatz gescheitert zu sein. Wichtig ist aber, dass die Merkel-Regierungen gegenüber Russland und China zwar eine Politik des Wandels durch Handel verfolgten, in Bezug auf die demokratischen Rückschritte in der Türkei aber Gleichgültigkeit herrschte. In der Türkei herrscht die Meinung vor, dass Bundeskanzlerin Merkel und ihre verschiedenen Regierungen Präsident Erdoğan unterstützt haben, um so den unethischen Flüchtlingsdeal zu erhalten. Merkel persönlich unterstützte Erdoğan in kritischen Momenten – etwa durch ihren umstrittenen Besuch in Ankara vor den Wahlen im November 2015 – und Deutschland nahm zunehmende Menschenrechtsverletzungen der Erdoğan-Regierung stillschweigend hin.

 

Bisher hat diese Haltung in mindestens drei Punkten entscheidende Vorteile für Deutschland geliefert:

 

In erster Linie war vor allem der Flüchtlingsdeal aus dem März 2016 ein großer Erfolg für die Bundeskanzlerin, weil er Deutschland während einer akuten Fluchtbewegung entlastete. Die Unterbringung von syrischen und anderen Geflüchteten in der Türkei war eine kostengünstige Lösung.

 

Zweitens verlor Erdoğan das Interesse am EU-Beitrittsprozess, der weitere demokratische Reformen erfordert hätte, die mit seinen autoritären Neigungen unvereinbar gewesen wären. Eine türkische Regierung, die keine EU-Mitgliedschaft anstrebt, trug dazu bei eines der umstrittensten Themen in der bilateralen Beziehung aus dem Weg zu räumen. Bundeskanzlerin Merkel musste sich niemals ernsthaft mit den Kniffligkeiten eines ernstgemeinten EU-Beitrittsprozesses der Türkei, der zweifelsohne in Deutschland umstritten wäre, auseinandersetzen.

 

Drittens hat Präsident Erdoğan trotz der Probleme, die er für Deutschland und im regionalen Kontext verursacht hat, auch gezeigt, dass er seine Grenzen kennt, dass er unter Druck einlenkt und dass er offen für Transaktionalismus ist, was sich als Vorteil erwiesen hat.

 

Die liberalen Teile der türkischen Gesellschaft sind enttäuscht – die konservativen misstrauisch

 

Die liberalen Teile der türkischen Gesellschaft und die demokratische Opposition im Land sind hingegen enttäuscht über die Beschwichtigungspolitik Deutschlands und der EU gegenüber der zunehmend autoritären Herrschaft Erdoğans. Im Angesicht des harten Vorgehens der Erdoğan-Regierung gegen namhafte Dissidenten und die Zivilgesellschaft im Allgemeinen gab es lediglich Lippenbekenntnisse aus Europa. Interessanterweise haben aber auch konservative Teile der Gesellschaft unter dem Eindruck der öffentlichen Äußerungen Erdoğans und der antiwestlichen, EU-feindlichen und gelegentlich auch deutschlandfeindlichen Berichterstattung der regierungsnahen Medien (Erdoğan selbst bezeichnete die deutsche Regierung als „Überbleibsel der Nazis“) ein eher negatives Deutschlandbild entwickelt, insbesondere weil Deutschland Terroristen wie Gülen/FETÖ und der PKK Unterschlupf gewähre.

 

Als die Ampelkoalition in Berlin an die Macht kam, hatten die EU-freundlichen Teile der türkischen Gesellschaft keine großen Erwartungen mehr, dass sich die Haltung Deutschlands gegenüber der Türkei an Werten orientieren würde. Vielmehr waren die EU und Deutschland teilweise zum Ziel von Spott geworden, weil Brüssel und Berlin bei fast jeder eklatanten Menschenrechtsverletzung in der Türkei die immer gleiche „ernsthafte Besorgnis“ äußerten. Die Übernahme des Außenministeriums durch die Grünen, die sich als scharfe Kritiker Erdoğans positioniert hatten, weckte bei türkischen Liberalen einige – wenn auch sehr vorsichtige – Hoffnungen , dass die neue Koalitionsregierung ein größeres Gewicht auf Demokratisierung und die Menschenreche in ihrer Türkeipolitik legen würde. Dies ist jedoch nicht geschehen.

 

Die aktuelle deutsche Koalitionsregierung verfolgt eine ähnliche Strategie wie die US-amerikanische Biden-Administration: Die Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland wurden institutionalisiert; persönlicher Kontakt zwischen Erdoğan und Bundeskanzler Scholz ist selten. Zwar telefonierte Scholz bereits elf Tage nach seinem Amtsantritt mit Erdoğan, und der Bundeskanzler besuchte die Türkei auch im März 2022 nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine, aber selbst dieses Treffen war alles andere als herzlich. Es gab keine Pressekonferenz, das Team, das Scholz begleitete, war klein und der Besuch fand unter dem Eindruck des Krieges in der Ukraine statt.

 

Will Deutschland seine Zeitenwende umsetzen, scheint es auf Kontinuität im Verhältnis zur Türkei angewiesen

 

Somit erstreckt sich die Zeitenwende aus verschiedenen Gründen bislang nicht auch auf die Beziehungen Deutschlands zur Regierung von Präsident Erdoğan. Umgekehrt ist Deutschland gewissermaßen gezwungen, die bisherige Form der bilateralen Beziehungen zur Türkei beizubehalten, wenn es seine außen- und sicherheitspolitische Wende in anderen Bereichen tatsächlich umsetzen will. Der Krieg in der Ukraine hat bereits zu neuen Flüchtlingsbewegungen nach Deutschland geführt. Unter diesen Umständen wäre es für Deutschland zu riskant, das mit der Erdoğan-Regierung geschlossene Abkommen zu überdenken und ändern zu wollen.

 

Außerdem hat die Türkei im Ukraine-Krieg eine entscheidende Rolle. Sie kontrolliert den strategisch wichtigen Bosporus und Präsident Erdoğan hat sich als erfolgreicher Vermittler bei der Sicherung des Getreideabkommens, der die Nahrungsmittelknappheit im Nahen Osten und in Nordafrika lindert, erwiesen. Beides ist auch für Deutschland von hoher Bedeutung. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Regierung Scholz – zumindest unter den gegebenen Umständen – die Beziehungen zu Ankara auf niedrigem politischen Niveau hält, vor Kritik an der Menschenrechtslage in der Türkei zurückscheut und radikale Veränderungen der, von den Vorgängerregierungen unter Angela Merkel eingeschlagenen, politischen Linie vermeidet.

 

Aus dem Englischen von Andrea Hellfritz.

 

Dr. İlhan Uzgel war bis zu seiner Entlassung per Präsidialdekret im Jahr 2017 Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Ankara. Seit seiner Entlassung kommentiert er außenpolitischen Themen und Entwicklungen in verschiedenen türkischen und internationalen Medien.

Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen des Gastautors spiegeln nicht die Haltung der Redaktion oder der Friedrich-Ebert-Stiftung wieder.


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