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Wenige Tage nach dem Amtsantritt des neuen Präsidenten Luis Lacalle Pou gab es in Uruguay den ersten Corona-Fall. Die Regierung ignorierte das Angebot der Opposition zu einen Dialog zur Bekämpfung der Pandemie.
Es genügten wenige Wochen und viele interne Debatten, dann drückten die sozialen Bewegungen und Gewerkschaften auf »Neustart« und fanden eine ebenso schnelle wie kluge Antwort.
Bild: Demokratie, Gerechtigkeit, Inklusion von © FES
Die rechtsgerichtete Koalition ist bereits seit 100 Tagen im Amt, seit sie der 15 Jahre währenden Regierungszeit des linken Parteienbündnisses Frente Amplio ein Ende gesetzt hat. Diese war 2005 zum ersten Mal in der Geschichte dieser kleinen Republik östlich des Río Uruguay an die Macht gekommen.
Wenige Tage nach dem Amtsantritt des neuen Präsidenten Luis Lacalle Pou, dem Führer und Urheber der gleichermaßen neuartigen wie instabilen »Mehrfarben«-Koalition (Coalición Multicolor), gab es in Uruguay den ersten Corona-Fall. Das Virus war – wie nicht anders zu erwarten war – aus Europa ins Land gekommen, dieses Mal jedoch auf dem Luftweg und nicht per Schiff wie die vielen Tausend europäischen Einwanderer_innen, die im 19. Jahrhundert an den Río de la Plata kamen, um hier eine »Zweigstelle« Europas zu schaffen, als die viele diese Region noch immer ansehen.
Es war ein perfekter Sturm, könnte man meinen. Doch für die neue Regierung und ihre instabilen Mehrheiten erwies sich das Virus als wahrer Lebensretter. Denn es ermöglichte ihr, ihren Mangel an Ideen und Projekten zu übertünchen, der sich bereits im Wahlkampf abgezeichnet hatte.
Die »beispielhafte« Transition nach der Zeit der Diktatur, die dieses Land auszeichnet, zeigte sich in besonders deutlicher Form, als der neue und der scheidende Präsident (Tabaré Vázquez) gemeinsam der Amtseinführung ihres argentinischen Pendants Alberto Fernández beiwohnten. Das Ereignis war ein weiteres Beispiel für den oft gezogenen Vergleich zwischen den beiden Demokratien, der gleichermaßen von Leichtfertigkeit wie auch von Selbstgefälligkeit zeugt.
Seitdem ist alles etwas merkwürdig, um es vorsichtig auszudrücken.
Die Schwierigkeiten bei der Bildung einer belastbaren, stimmigen und vollständigen Regierungsmannschaft haben den Eindruck erweckt, dass diese Transition niemals zu Ende gehen wird. Das hindert die neue Regierung jedoch keineswegs daran, die progressive Ära und ihre Errungenschaften, Erzählungen und Protagonisten zunichte zu machen.
Doch in diesem Artikel soll es nicht um die aktuelle Regierung gehen.
Vielmehr geht es um die Reaktion der organisierten Zivilgesellschaft, die schnell erkannte, dass ihr die Aufgabe zukam, den Angriff der Konservativen auf die sozialen Rechte und Errungenschaften der vergangenen 20 Jahre aufzuhalten.
Die Regierung ergriff sogleich die politische Initiative und ignorierte das (aufrichtige?) Angebot der Opposition, einen Dialog und ein nationales Abkommen zur Bekämpfung der Pandemie einzugehen. Stattdessen entfaltete sie eine Strategie, wie sie unter normalen Umständen kaum vorstellbar wäre.
Sich sozial verhalten, auf sich aufpassen, nicht nach draußen gehen, keine Leute treffen, nicht protestieren und – wie könnte es anders sein – die offiziellen Maßnahmen befolgen. Diese Logik wurde eingeführt und konnte von der ebenso überrumpelten wie verängstigten Bevölkerung nicht hinterfragt werden.
Dies bot die Möglichkeit, abweichende Meinungen in Zweifel zu ziehen und sie als unverantwortlich oder gar unpatriotisch abzutun. Dies geschah sogar bei einem ebenso simplen wie klassischen (bereits Tausende Male dagewesenen) sogenannten „Cacerolazos“ (wesentliches Merkmal dieser Protestform ist die Erzeugung von Lärm, auf extra von den Demonstrant_innen mitgebrachten Töpfen und Pfannen), der als radikaler Überschwang und Verirrung des Gewerkschaftsbundes (PIT CNT) angeprangert wurde. Der Gewerkschaftsbund hatte zu der Demonstration aufgerufen, um gegen eine Erhöhung der öffentlichen Tarife zu protestieren, die die neue Regierung ohne Rücksicht auf die Gesundheitskrise verabschiedet hatte, nachdem sie auf der Oppositionsbank jahrelang dagegen Stimmung gemacht hatte. Damals hatte sie vom linken Regierungsbündnis lautstark eine Senkung der Tarife gefordert (die auch eines ihrer Wahlkampfversprechen war).
Dieser erste »Fehltritt« bewirkte bei den sozialen Bewegungen (und insbesondere den Gewerkschaften) einen ersten Lerneffekt.
Es genügten wenige Wochen und viele interne Debatten, dann drückten die Organisationen auf »Neustart« und fanden eine ebenso schnelle wie kluge Antwort, die stärker und unerwarteter ausfiel, als man es sich hätte ausmalen können:
Diese Reaktion mag alles andere als unerwartet erscheinen. Doch in den vergangenen 15 Jahren hatten die sozialen Bewegungen (und auch hier insbesondere die Gewerkschaften) große Probleme, in ihre Rolle zu finden und ihr Verhältnis zu der ihr nahestehenden Regierung zu klären.
Dass die Gewerkschaften bereits über 50 Jahre auf Einheit bedacht und von Beginn an soziopolitisch ausgerichtet waren, ihre demokratische Praxis und eine gewisse Offenheit in ihren Prozessen ermöglichten es ihr, (wie so oft in ihrer Geschichte) die Initiative zu ergreifen und gemeinsam mit anderen strategischen Sektoren die Plattform InterSocial zu gründen.
Das ist zweifelsohne eine schlechte Nachricht für die Regierung und ein wahrer Albtraum für ihre Anführer. Denn die hatten sich schon darüber gefreut, die Gewerkschaften mit einer Kampagne zu diskreditieren, die sich gegen ihr Ansehen und ihre Präsenz in der Gesellschaft richtete.
Und das sind die wichtigsten Merkmale der neuen Organisation:
Die Feuerprobe dieses neuen zivilgesellschaftlichen Zusammenschlusses wird unzweifelhaft in ihrer Fähigkeit zur Mobilisierung bestehen, und zwar sowohl mit Blick auf ihre Reichweite (Quantität) als auch ihre Form (angesichts der Pandemie und der Hygienevorschriften).
Am 1. Mai sollte sich zeigen, wie stark diese Initiative bereits ist, und es war ein voller Erfolg!
Eine große Reichweite, eine beispielhafte Organisation, eine kluge Kommunikationsstrategie und eine starke Einbindung in die Tätigkeit der anderen sozialen Organisationen (über die Gewerkschaften hinaus) zeigen, dass die Plattform InterSocial von einem Versprechen zur Realität geworden ist. Und seine Taufe wurde auf der Straße vollzogen.
https://www.youtube.com/watch?v=lkkizwfn0I8
https://www.youtube.com/watch?v=naN-SMVuvME
Nur wenige Wochen später ermöglichte ein weiteres symbolträchtiges Datum eine Aktion, bei der auch InterSocial als Akteur vertreten war.
Gemeint ist der Schweigemarsch, der seit 24 Jahren an jedem 20. Mai von den Müttern und Angehörigen der »Verschwundenen« (Madres y Familiares de Desaparecidosen Uruguay) abgehalten wird, um Wahrheit und Gerechtigkeit angesichts dieser noch nicht aufgeklärten Verbrechen aus der Zeit der Diktatur zu fordern.
Dank großer kreativer Anstrengungen konnte der Marsch in diesem Jahr virtuell stattfinden und erzeugte ein breites Medienecho.
Ein weiterer Erfolg von InterSocial sind die zahlreichen Aktionen rund um diese beiden symbolträchtigen Termine. Hierzu zählte ein Generalstreik in bestimmten Sektoren zur Verteidigung der Plattform, der sich zu einem öffentlichen Sprachrohr für die Unzufriedenheit der Öffentlichkeit mit den Gesetzesvorhaben und der Politik der neuen Regierung entwickelte.
Die Zeit wird zeigen, ob diese Form der sozialen, einheitlichen, solidarischen und kampfbereiten Organisation langfristig in der uruguayischen Gesellschaft Fuß fassen wird und ob es ihr gelingt, die schlimmsten Auswüchse der konservativen Politik einzuhegen, für die dieser uruguayische »Frankenstein« steht. Und mit der er die Linke in der Regierung nicht nur ablösen, sondern für alle Zeiten verhindern will.
Wir werden sehen.
Álvaro Padrón ist Projektkoordinator der FES in Uruguay und des Regionalen Gewerkschaftsprojekts der FES in Lateinamerika und Karibik.
In der deutschen Fassung verwenden wir eine geschlechtersensible Sprache.
Kontakt
Mareike Schnack Hiroshimastr. 28 10785 Berlin
+49 30 269 35-7484+49 30 269 35-9253
Mareike.Schnack(at)fes.de
Das Referat Lateinamerika und Karibik arbeitet in folgenden Themenfeldern:
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