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Im Schatten des Ukrainekriegs und der globalen Großmächtekonkurrenz vollzieht sich ein geopolitischer Wandel im Nahen und Mittleren Osten: Die traditionellen Verbündeten des sogenannten Westens in der Region betreiben zunehmend eine Politik der Multipolarität. Wie die Bevölkerungen in zwölf Ländern des Mittleren Ostens und Nordafrikas die geopolitische Situation einschätzt, haben wir in einer neuen Studie untersucht.
Die gesamte Studie steht hier zum Download zur Verfügung.
Drei Tage nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz vor dem versammelten Bundestag: „Wir erleben eine Zeitenwende“. Seither ist klar: Die westliche Unterstützung für die Ukraine gilt nicht nur dem Land selbst, sondern dem weitaus höheren Ziel – der Verteidigung der sogenannten regelbasierten Weltordnung.
Recht schnell wurde aber deutlich, dass andere Teile der Welt den Kampf für eine solche Weltordnung weitaus skeptischer betrachten; einer westlichen „Achse der Empörung“ stand eine „Achse der Gleichgültigkeit“ jenseits Europas und Nordamerikas gegenüber, wie es der britische Journalist Gideon Rachman ausdrückte. Nirgends stimmt dies mehr als im Mittleren Osten, wo die Regierungen eine besonders raffinierte Kunst der Balancepolitik praktizieren. Während Moskau seine wenigen Verbündeten (Iran, Syrien) eng an seiner Seite weiß, sind es gerade die tatsächlichen oder vermeintlichen Alliierten des Westens (Israel, Saudi-Arabien, Türkei, VAE), die sorgsam darum bemüht sind, nicht alle Brücken nach Moskau abbrechen zu lassen. Für sie war die „Zeitenwende“ ganz offensichtlich ein Auftakt in eine schöne neue Welt des multipolaren Mächtespiels.
Ausgehend von dieser Diskrepanz zwischen westlicher und mittelöstlicher Reaktion beauftragte die Friedrich-Ebert-Stiftung zu Jahresende 2022 eine Studie, die in zwölf ausgewählten Ländern des Mittleren Ostens und Nordafrikas untersuchen sollte, ob die ambitionierte Schaukelpolitik der Regierungen auch von den Menschen vor Ort getragen wird.
Das Resultat in weiten Teilen: ein dröhnendes Ja. So unzufrieden die Menschen der Region mit ihren Regierungen und Herrschern oftmals sind (mitunter trieb es sie zu Tausenden gegen sie auf die Straße), so spiegeln sie deren Positionen zum Ukrainekrieg und den damit verbundenen geopolitischen Veränderungen durchaus wider.
Zwar fliegen dem vermeintlich starken Mann Wladimir Putin die Herzen der öffentlichen Meinung der Region keineswegs zu, ganz im Gegenteil: Die Befragten quer durch alle Länder sind Russland gegenüber höchst skeptisch, zweifeln seine Motive an, betrachten seine Rolle in der Region überwiegend als schädlich. Ähnlich kritisch bewerten sie jedoch auch die USA, denen eine Mehrheit die Verantwortung für den Fortgang des Krieges zuschreibt und sie zum größten Profiteur desselbigen erklärt. Ein Krieg, den eine große Mehrheit nicht als reinen Territorialkonflikt sieht, sondern als Teil eines größeren geopolitischen Ränkespiels zwischen Moskau und dem Westen.
Wirtschaftssanktionen gegen Russland lehnen die meisten der Befragten ab – und bewegen sich damit ganz auf der Linie ihrer Regierungen. Ganz offensichtlich erfreut sich dieses beliebte Maßregelungs-Instrument westlicher Außenpolitik in der Region geringer Popularität. Ausnahmen hiervon sind lediglich Israel und – ja, tatsächlich – Iran. Davon wird noch zu sprechen sein.
Generell wähnen sich die Bevölkerungen in den zwölf befragten Staaten entweder schon in der neuen multipolaren Wirklichkeit oder auf dem Weg dahin. Die unipolare Realität scheint überwunden, fast niemand möchte dahin zurück. Und wenn der lang angekündigte qualitative Rückzug der USA – im Sinne ihrer Hinwendung nach Asien – in der Region auf sehr viel Zuspruch stößt (im Übrigen auch bei vielen der traditionellen Alliierten wie der Türkei, Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten), dann ist dies auch ein Zeichen dafür, dass Washington sein seine hochtrabenden Pläne für die der Region aus der Zeit des „unipolar moment“ der 1990er und frühen 2000er Jahre bis heute nachhängen.
Regionale Lösungen für regionale Probleme ist somit am ehesten das Credo. Die Befragten erwarten, dass sich die Beziehungen der Regionalstaaten untereinander sogar bessern, sobald die Amerikaner sich aus der Region zurückgezogen haben. Diese Sicht ist auch eine Absage an die, in ihrer unmittelbaren Nachbarregion längst zum glücklosen Zaungast marginalisierte EU, die eine Mehrheit nicht als Amerikaersatz haben möchte.
Fast scheint es, als ob ausgerechnet die Vorstellung des Regimes in Teheran, das jegliche westliche Akteure aus dem Mittleren Osten herauswünscht, die Mehrheitsmeinung ganz gut trifft. Mit einer bedeutenden Einschränkung: Den iranischen Befragten selbst. Sie sind tendenziell, und hier einig mit den israelischen Befragten, pro-amerikanischer, pro-westlicher und russland-kritischer als alle anderen. Israel und Iran, in der Realpolitik die Antipoden dieser Region, sind die gemeinsamen Ausreißer. Sollte es jemals zu einem grundlegenden politischen Wandel in Teheran kommen, könnte sich der Westen hier wohl auf eine recht zugewandte Bevölkerung stützen.
Was aber folgt konkret für den Westen aus diesen Einstellungen? Sein Einfluss ist begrenzt. Die hehren Reden von der Verteidigung der regelbasierten Weltordnung und einer alleinigen Schuldzuweisung an Russland verfangen nicht.
In der Tendenz wissen die Regierungen des Mittleren Ostens ihre Bevölkerungen überwiegend hinter sich was die, positiv formuliert, aktive Neutralität in dem Konflikt angeht. Will der Westen hier die berühmten Herzen und Gedanken erobern, für eine Welt, in der die Stärke des Rechts und nicht das Recht des Stärkeren gilt, muss er das begreifen und angesichts seines Glaubwürdigkeitsproblems andere Ansprachen finden. Denn die größte Herausforderung bleibt die oft spürbare Diskrepanz zwischen den Sonntagsreden über wertegeleitete Außenpolitik und den allzu profanen Mühen der realpolitischen Ebene. Die bittere Erkenntnis: Selbst in einem doch so augenfälligen Fall wie dem völkerrechtswidrigen Krieg Russlands gegen die Ukraine überwiegt bei den Menschen der Region die Skepsis, ob sich die Dinge tatsächlich so eindeutig gestalten.
Marcus Schneider leitet das FES-Regionalprojekt für Frieden und Sicherheit im Mittleren Osten mit Sitz in Beirut, Libanon. Zuvor war er für die FES unter anderem als Leiter der Büros in Botswana und Madagaskar tätig.
Schneider, Marcus; Gürsel, Dilek; Starke, Clemens
Short analysis / [Authors: Marcus Schneider, Dilek Gürsel, Clemens Starke]. - Nicosia : Friedrich-Ebert-Stiftung, Project on Peace and Security in the MENA Region, 2023. - 19 Seiten = 3,2 MB PDF-File. - (MENA Peace & Security Project)Electronic ed.: Nicosia : FES, 2023ISBN 978-9925-8021-0-4
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