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Referat Naher/Mittlerer Osten und Nordafrika

Deutschsprachförderung unter Pandemiebedingungen

Welche Konsequenzen ergeben sich in Zeiten von Corona für die Deutschsprachförderung von Migrant_innen? Eine Fachtagung gab Antworten.


 

Ausreichend gute Deutschkenntnisse sind die Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe und zentral für die Alltagsbewältigung. Sind sie nicht vorhanden, so kommt es zu Ausgrenzung und Marginalisierung der Betroffenen in allen Gesellschaftsbereichen – daran erinnerte Brigitte Döcker, Vorstandsmitglied des Bundesverbands der Arbeiterwohlfahrt (AWO), in den einführenden Worten zur digitalen Fachtagung Lost in Corona? Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Pandemie für die Deutschsprachförderung im Rahmen des ‚Gesamtprogramms Sprache? am 24. Juni 2021. Sie betonte damit den Stellenwert des Themas „Deutschsprachförderung“, das nur selten in der breiten Öffentlichkeit diskutiert werde, aber eben von zentraler Bedeutung für den Integrationsprozess sei.

Vor diesem Hintergrund haben es sich die Friedrich-Ebert-Stiftung und der AWO Bundesverband zur Aufgabe gemacht, der Deutschsprachförderung von Migrant_innen und den an ihr mitwirkenden Akteur_innen ein Forum für Austausch und Vernetzung zu geben. Rund 170 Personen aus dem ganzen Bundesgebiet nahmen an dieser dritten gemeinsam ausgerichteten Veranstaltung teil und tauschten sich in themenspezifischen Arbeitsgruppen aus.

 

Eine neue Realität

Zentral für den Erwerb der Sprachkenntnisse sind die seit 2005 mit dem Zuwanderungsgesetz verbindlich geregelten Integrationskurse für Migrant_innen, aber auch die darauf aufbauenden Berufssprachkurse. Beide gehören neben anderen Sprachprogrammen zum „Gesamtprogramm Sprache“, das 2016 von der Bundesregierung beschlossen wurde, um einheitliche Standards für die Sprachförderung zu setzen. Im Jahr 2019 lernten so rund 176.000 Neuzugewanderte als auch schon länger in Deutschland lebende Migrant_innen in Integrationskursen und 181.000 Zugewanderte in Berufssprachkursen Deutsch.

Die im März 2020 einsetzende Corona-Pandemie markierte einen schlagartigen Wendepunkt für die Politik wie die Bevölkerung in fast allen Lebensbereichen. Auch die Deutschsprachförderung war und ist von dieser Entwicklung stark betroffen: Von gänzlich ausbleibenden Kursen über eine Umstellung von Präsenz- auf Onlineformate bis hin zu Hybridkonzepten: Für die Situation der Deutschsprachförderung zeigte sich ab März 2020 eine neue Realität.

Betroffen waren hiervon nicht nur Teilnehmer_innen von Sprach- und Integrationskursen, sondern auch Kursträger_innen und Lehrkräfte wie natürlich auch die für die Organisation der Durchführung der Kurse verantwortliche Behörde, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF).

 

Präsenzformate bleiben Mittel der Wahl

Einen Überblick, wie sich die Situation aus Sicht des BAMF darstellt, gab Benjamin Beckmann, Gruppenleiter für Integrationskurse. Er schilderte zunächst die Auswirkungen der Pandemie auf den Ablauf und die Durchführung der Integrationskurse. So mussten diese im April, Mai und Juni 2020 aufgrund der Pandemielage und des ersten Lockdowns nahezu vollständig unterbrochen werden. Er zeigte aber auch die Anstrengungen auf, die das BAMF unternommen hatte, um dem schnellstmöglich entgegenzuwirken.

Elementar sei dabei immer die Frage gewesen: Wie können die Sprachkenntnisse der Teilnehmer_innen erhalten werden? Bereits zum 1. April 2020 führte das BAMF deshalb Online-Tutorien ein, um den Sprachstand der Teilnehmer_innen zu sichern. Ab Juli 2020 wurden zusätzlich verschiedene Kursmodelle wie zum Beispiel das „Virtuelle Klassenzimmer“ realisiert, die das Lernen und Lehren unter Pandemiebedingungen ermöglichen sollten. Auf die Frage, ob der Lernerfolg der Teilnehmer_innen unter der Pandemie leide, entgegnete Benjamin Beckmann mit Bezug auf aktuelle Auswertungen: „Bisher sehen wir stabile Ergebnisse, das ist erfreulich und macht Mut; dennoch sollten wir das mit Vorsicht betrachten, denn wir wissen noch nicht, welche Teilnehmende wegen der Pandemie den Test noch gar nicht absolvieren konnten.“

Gleichwohl sei aus den vorgestellten Daten bereits deutlich ersichtlich, dass Onlineformate nicht für alle Zielgruppen gleich gut geeignet sind, betonte Beckmann. Während sie insbesondere für Teilnehmer_innen von Berufssprach- und Intensivkursen sehr gut funktionieren würden, blieben bislang vor allem die Alphabetisierungskurse, von denen zuletzt nur 8%  virtuell durchgeführt wurden, auf der Strecke. Genau deshalb seien die digitalen Formate nur eine Notlösung für die Zeit der Pandemie. „Der Präsenz-Unterricht bleibt das Mittel der Wahl und die beste Möglichkeit, um Teilnehmende zu erreichen“, betonte Beckmann abschließend.

Was aber, wenn Präsenzformate auf längere Sicht nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung stehen? Gerade bei lernungewohnten Teilnehmenden von Integrationskursen, die meist den Alphabetisierungskursen zugeordnet werden, müsse eine Smartphone-kompatible Fachdidaktik entwickelt werden, so eine Erkenntnis aus der von drei Referent_innen der Universität Potsdam geleiteten Arbeitsgruppe zu dieser speziellen Zielgruppe. Bisherige durch das BAMF entwickelte Kursmodelle setzten aber auf den Laptop oder das Tablet. Deren Nutzung sei für viele lernungewohnte Kursteilnehmende jedoch bereits zu anspruchsvoll.

 

Strukturelle Hürden als Hauptproblem

Durch die Implementierung verschiedener Modelle und die finanzielle Absicherung von Kursträger_innen durch das Sozialdienstleister-Einsatzgesetz (SodEG) konnten zuständige Behörden wie das BAMF den betroffenen Kursanbietenden und damit ihren Lehrkräften wertvolle Unterstützungsmöglichkeiten in der Pandemie zusichern. Dennoch machten die Diskussionen im Rahmen der Veranstaltung sichtbar, dass all das nicht immer ausreichend war, um mit den vielfältigen Belastungen umzugehen.

Erschwerend kam hinzu, was Benjamin Beckmann als einen „unüberschaubaren Flickenteppich“ beschrieb, nämlich die regional weitgehend sehr unterschiedliche Situation im Hinblick auf Inzidenzen und Kontaktbeschränkungen. Diese Unterschiede hätten auch große Auswirkungen auf die Kursträger_innen und ihre Möglichkeiten für eine Umsetzung von Deutschsprachförderungs-Angeboten gehabt, bestätigte Michael Treiber von der AWO Interkulturell Schleswig-Holstein. „Es ist schwierig mit sich ständig verändernden Richtlinien umzugehen, vor allem da die örtlichen Gesundheitsämter teilweise die Landesverordnungen unterschiedlich interpretierten.“, fasste Treiber die Problematik zusammen und fügte hinzu, dass es zu lange gedauert habe, bis diese chaotischen Zustände geregelt gewesen seien.

Wertvolle Zeit, die auch für Teilnehmer_innen von Integrationskursen verloren ging und die unbedingt aufgearbeitet werden müsse. „Der Integrationsprozess ist lang, er sollte nicht unterbrochen werden. Es muss Angebote geben, damit man nicht aufhört, Deutsch zu lernen“, äußerte sich Tarek Saad, Vorstandsmitglied der SPD Schleswig-Holstein und selbst ehemaliger Integrationskursteilnehmer, besorgt. Dabei war sein Anliegen die spezifische Situation der unterschiedlichen Kursteilnehmenden mitzudenken, wie z.B. die der Alleinerziehenden. Er forderte außerdem eine Ausgleichsmöglichkeit der verlorenen Stunden für Kursteilnehmer_innen.

Immer wieder wurde auch  auf die schwierigen Arbeitsbedingungen der  Lehrkräfte hingewiesen. „Die Lehrkräfte stehen unter Druck und leiden genauso wie die Teilnehmer_innen“, hob Christiane Carstensen vom Berufsverband für Integrations- und Berufssprachkurse e.V. (BVIB e.V.) hervor. Und das nicht nur durch ihre eigene prekäre finanzielle Lage, sondern auch durch ihr Verantwortungsgefühl den Lernenden gegenüber. Eine zu geringe Bezahlung, die problematische Ausgestaltung der Verträge und eine Pandemiezulage, die nicht immer für die Absicherung der Lehrkräfte genutzt wird – auch die während der Tagung stattfindende Arbeitsgruppe ‚Lehrkräfte in der Krise‘ fasste die Bedingungen für Lehrkräfte als hochproblematisch zusammen. „Die Integration von Zugewanderten wird von Menschen gestemmt, die ihre eigene Integration ins deutsche Sozialsystem als ungenügend erleben“, brachte es Ansgar Klinger von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) auf den Punkt.

 

Es braucht mehr digitale Professionalität!

Zu regen Debatten führte auch das Thema Digitalität. Dass Deutschland digitalisieren könne, hätten ihm die verschiedenen digitalen Modelle des BAMF gezeigt, beschied Tarek Saad anerkennend. Und auch Cathrin Thomas, Leiterin des Teilprojekts „Deutsch für den Beruf“ des Netzwerks Integration durch Qualifizierung in Nordrhein-Westfalen, stellte mit der dort genutzten interaktiven Plattform ein Best-Practice-Beispiel für das digitale Lehren und Lernen während der Pandemie vor. Doch die besten digitalen Formate nützen nichts, wenn es in den Kursen und bei den Teilnehmer_innen an der nötigen digitalen Infrastruktur wie zum Beispiel digitalen Endgeräten fehle.  Es könne außerdem nicht vorausgesetzt werden, dass sowohl Teilnehmer_innen als auch Lehrkräfte genügend Medienkompetenz besitzen. „Technik ist nicht immer selbsterklärend, der Umgang damit muss geübt werden“, fasste Michael Treiber die Problematik zusammen.

 

Grundlagen für die Zukunft legen

Ist die Deutschsprachförderung also „lost in Corona“?

Der Austausch der Beteiligten hat gezeigt, dass die Pandemie für alle Akteur_innen der Deutschsprachförderung – ob Träger_innen, Teilnehmer_innen, Lehrkräfte und sicherlich auch die Kursteilnehmenden – nicht nur ein Gefühl des „Verlorenseins“ mit sich brachte. Es gab konkrete Herausforderungen und es brauchte von allen Seiten „gewaltige Anstrengungen“, um diese zu bewältigen. Manche aufkommenden Probleme konnten dabei gut, manche zu spät und manche bisher gar nicht zufriedenstellend gelöst werden, wie sich aus den zahlreichen Wortbeiträge in der Diskussion und den Arbeitsgruppen schließen ließ.

Was also können wir aus dem vergangenen Jahr für einen eventuell noch immer Pandemie-geprägten Herbst und Winter lernen? Talibe Süzen vom AWO Bundesverband e.V. verwies hier auf ein Zitat des französischen Schriftstellers Antoine de Saint-Exupery: „Man kann nicht in die Zukunft schauen, aber man kann den Grund für etwas Zukünftiges legen - denn Zukunft kann man bauen“. Eine Zukunft bauen, das funktioniert am besten, wenn man gemeinsam aktuelle Problembereiche anschaut, aber auch gleichzeitig Lösungswege mitdenkt, ergänzte Süzen und fasste somit Inhalt und Ziel der dreistündigen Tagung zusammen. Dass drei Stunden für solch ein komplexes Thema, die Aufarbeitung von Problemen und das Diskutieren von Lösungsansätzen nicht ausreichen würden, sei klar. Schon allein deshalb soll es im nächsten Jahr eine an die Tagung anschließende Veranstaltung geben. Deren Titel lautet dann hoffentlich ungefähr so:Mit neuem Schwung in die Deutschsprachförderung nach der Corona-Pandemie“.

 

Autorin: Johanna Gensch

 


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