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Von Reichweite und Algorithmen: Analyse des Europawahlkampfs ausgewählter Parteien auf TikTok

Marcus Bösch geht in dieser Analyse der Frage nach, wie politische Kommunikation im Wahlkampf auf neuen sozialen Medien am Beispiel von TikTok aussieht und welche Lehren sich für erfolgreiche Zielgruppenansprache daraus ziehen lassen.


Viele Parteien haben im Europawahlkampf auf die Plattform TikTok gesetzt. Diese hat in Deutschland 21 Millionen vor allem jüngere Nutzer_innen. Das teils große Engagement der Politiker_innen – der Account von Katarina Barley hat in den letzten 35 Tagen vor der Wahl 82 Videos gepostet – hat sich allerdings nicht immer in hohen Reichweiten ausgezahlt. Die AfD, die die Verteilung von Inhalten auf Fans und Follower ausgelagert hat, erzielt mit weniger Videos deutlich höhere Interaktionsraten. Jüngere Wähler_innen werden von der AfD in TikTok-Videos im Vergleich wesentlich direkter angesprochen. Die AfD hat bei den Wähler_innen unter 30 Jahren die stärksten Zugewinne bei der Europawahl verbuchen können.

Auf TikTok veröffentlichen sowohl Accounts, die direkt mit Kandidat_innen verbunden sind als auch die Accounts von Parteien als Organisationen. Eine Besonderheit stellen die Videos der AfD dar: Im Mai 2022 wurde der offizielle Kanal der AfD (@afd.offiziell) wegen wiederholter Verletzungen der Community Richtlinien durch TikTok gesperrt, im März 2024 drosselte TikTok dann die Reichweite des AfD-Spitzenkandidaten Maximilian Krah, ebenfalls wegen wiederholter Verletzungen der Community Richtlinien – Krah soll u.a. auf seinem Account gegen Flüchtlinge gehetzt haben. Die AfD lagern daher ihre Postings auf private Fanaccounts aus, die unter anderem in der Telegram Gruppe „TikTok Guerilla“ koordiniert werden.

TikTok wird zumeist als Teil der sozialen Medien bezeichnet, ist aber in seiner Logik eher ein algorithmisches Medium. Bei „klassischen“ sozialen Medien wie Facebook oder X (ehemals Twitter), steht die Verbindung zwischen Personen bzw. Accounts im Vordergrund. Die Reichweite einzelner Posts wird maßgeblich von der Followerzahl des Accounts beeinflusst; was ein User zu sehen bekommt wird stark davon beeinflusst, welchen Accounts er oder sie folgt. Bei TikTok sind diese beiden Faktoren weniger wichtig. TikTok setzt stärker darauf über die Interaktion der User mit den Inhalten herauszufiltern, welche Videos zu bestimmten Zeitpunkten für eine Gruppe von Menschen am interessantesten ist. Das führt dazu, dass vergleichsweise kleine Accounts millionenfache Views für Videos erreichen können, hohe Followerzahlen aber nicht zwangsläufig zu hohen Viewer-Zahlen führen. Eine Logik, die eine „Guerillataktik“ belohnt, wie die Analyse in diesem Papier zeigt.


Die Accounts im Vergleich: Die Formel „mehr Videos, mehr Reichweite“ gilt nicht
 

Viel hilft viel – das gilt nicht unbedingt auf TikTok, wie der Vergleich von Aktivitäten und generierter Reichweite der untersuchten Accounts zeigt. Der offizielle Account der SPD-Spitzenkandidatin Katarina Barley (@katarina.barley) publizierte im Untersuchungszeitraum zwar die meisten Videos (82), diese konnten jedoch lediglich 1,9 Millionen Views erzeugen. Im Vergleich dazu kommen die 65 veröffentlichten Videos von Bündnis `90/ die Grünen (@diegruenen) auf 2,3 Millionen Views. Die Top Ten Videos mit dem Hashtag #Krah, die zwischen dem 6. Mai und dem 9. Juni 2024 gepostet wurden, können derweil zusammen fünf Millionen Views erzielen. Sie erreichen individuell alle zwischen 374.300 und 683.500 Views und wurden nicht von offiziellen Partei- oder Politiker_innenaccounts gepostet, sondern von User_innen mit Namen wie @deutschlandverteidigen oder @maximilian.krah.afd, hierbei handelt es sich aber nachweislich nicht um einen offiziellen Account.
 


Zielgruppen und Ansprache: jung, direkt und auf Augenhöhe


Laut einer aktuellen Befragung des Berliner Think Tanks interface nutzen 99,5 Prozent aller junger Erwachsenen zwischen 18-25 in Deutschland soziale Medien. 91,5 Prozent von ihnen mindestens einmal am Tag. TikTok ist nach Instagram und YouTube auf Platz Drei, wenn es um die mehrmalige Nutzung am Tag geht. TikTok ist also ein mächtiges Vehikel wenn es um politische Kommunikation mit einer jungen Zielgruppe geht. Ausschlaggebend ist das Wort „mit“: Erfolgreiche Kommunikation auf TikTok zeichnet sich auf Augenhöhe, im Dialog und und durch direkte Ansprache aus.

TikTok Nutzer_innen haben in aller Regel ein feines Gespür für Ansprache, Botschaft und Absender_innen, sind sie doch in den meist langen Sessions – die Durchschnittsnutzung der App pro Tag liegt unterschiedlichen Angaben zu Folge bei 60 bis 90 Minuten – zahlreichen Videos ausgesetzt, die um ihre Aufmerksamkeit buhlen. In diesem Kontext können allgemeine Botschaften gerade für eine junge medienaffine Zielgruppe, vorgetragen im allgemeinen Duktus in klassischer Sender_innenrolle, wenig verfangen. Emotionalisierende konkrete Botschaften innerhalb der ersten Sekunden, Identifikationspotential und konkrete Mehrwertversprechen kommen rein zahlenmäßig betrachtet deutlich besser an. Will man auf einer App die für ihre junge Zielgruppe bekannt ist, diese erreichen, dann empfiehlt es sich selbstredend, diese Zielgruppe auch konkret zu adressieren und abzubilden. Hier herrscht bei demokratischen Parteien und ihren Politiker_innen noch Optimierungspotential.

 

Fazit und Handlungsempfehlungen


Will man hier als Partei oder Politiker_in auf TikTok Erfolg haben, gilt es die Kommunikationsstrategie entsprechend anzupassen. Dazu muss die Relevanz der Plattform anerkannt werden und Akteure verstärkt und kenntnisreich agieren, um die rund 21 Millionen deutsche Nutzer_innen zu erreichen.

Zwar lassen sich die Reichweite und der Erfolg von Inhalten auf TikTok nicht unmittelbar in den Erfolg an der Wahlurne übersetzen. Erste empirische Untersuchungen zeigen gleichwohl einen Zusammenhang bspw. zwischen der Informationsnutzung auf TikTok und einer AfD-Präferenz.
Ziel demokratischer Parteien sollte es fortan sein, Fans und Verbündete aktiv an der Verbreitung überzeugender Kommunikation zu beteiligen, um in einer subjektiv erlebbaren unendlichen Medienumgebung sichtbar zu sein.

 

 

Über den Autor:

Marcus Bösch ist Politik- und Kommunikationswissenschaftler. Er forscht an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg zu postdigitaler Propaganda auf TikTok.

 

Ansprechpartnerin in der FES:

Annika.Arnold(at)fes.de

 

 

 

Bösch, Marcus

Von Reichweite und Algorithmen

Analyse des Europawahlkampfs ausgewählter Parteien auf TikTok
Berlin, 2024

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