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Referat Naher/Mittlerer Osten und Nordafrika

“When I Picture My Future, I See Nothing”

Das Leben syrischer Geflüchteter in der Türkei. Ein kurzer Abriss der wichtigsten Herausforderungen.

“When I Picture My Future, I See Nothing” – so lautet der Titel eines Human Rights Watch-Berichts über Bildungsmöglichkeiten syrischer Geflüchteter in der Türkei vom November 2015. Nach dem Ausbruch des Syrien-Krieges im Jahr 2011 sind in unterschiedlichsten Ländern, wie dem Libanon, Jordanien, Irak, Ägypten und der Türkei, über 5 Millionen registrierte syrische Geflüchtete zu verzeichnen. Zählt man die als illegal geltenden Geflüchteten hinzu, liegt die Dunkelziffer weitaus höher. Die Türkei hat offiziell rund 3 Millionen Menschen registriert (Stand 27.April 2017), allerdings wird angenommen, dass sich mehr als 4 Millionen syrische Geflüchtete im Land aufhalten. Nur rund 10 Prozent der Geflüchteten leben in Flüchtlingslagern in 10 Städten. Die Türkei hat trotz aller immer lauter werdenden Kritiken enorme Anstrengungen unternommen, syrische Geflüchtete aufzunehmen. Die anfängliche Bereitschaft zur Aufnahme und finanziellen Unterstützung für die Schaffung einer Infrastruktur sind bemerkenswert. Allerdings hat man anfangs nicht mit einem lang anhaltenden und derart massiven Strom flüchtender Menschen gerechnet.

Mit der längeren Verweildauer von syrischen Geflüchteten und der Tatsache, dass Millionen von Menschen über Jahre hinweg nicht nur buchstäblich „herumsitzen“, sondern ihr wirtschaftliches und soziales Leben wieder eigenständig gestalten wollen, wurde der Ruf nach Konzepten zur Integration der syrischen Geflüchteten immer lauter. Fragen der Arbeitserlaubnisse, der Besuch von Bildungseinrichtungen, der Anspruch auf adäquate Gesundheitsversorgung oder aber auch der Wunsch nach Einbürgerung stehen weit oben auf der Liste der Herausforderungen, die einer Regelung und schnellen Umsetzung bedürfen. Der Handlungsbedarf ist enorm, jedoch werden Entscheidungen diesbezüglich hinausgezögert oder Berichten zufolge auch blockiert.

Rechtsstatus von Geflüchteten

Die Türkei unterzeichnete 1951 das Genfer Abkommen über die Rechtsstellung von Geflüchteten; allerdings sieht die Ratifizierung des Abkommens eine geographische Einschränkung vor und gilt nur für die aus Europa kommenden Geflüchteten. Aus anderen Regionen stammenden Geflüchteten wird zuallererst ein Status als „Gast“ eingeräumt.

Im Türkischen bezeichnet man Geflüchtete generell als „Gäste“. Die Behörden und die breite Öffentlichkeit galten und gelten in weiten Teilen immer noch als sehr hilfsbereit, wenn es darum geht, Menschen in Notsituationen aufzunehmen.

Jeder (syrische) Flüchtling kann sich bei einer der örtlichen Polizeistationen als „Gast“ registrieren lassen und steht gemäß des Law on Foreigners and International Protection (April 2014) somit unter „temporary protection“ (vorläufiger Schutz).

Dieser „Gaststatus“ verursacht jedoch erhebliche Probleme bei der Anmietung von Wohnraum, der Anmeldung von Kindern in Bildungseinrichtungen, der Nutzung von staatlichen Gesundheitseinrichtungen, dem Zugang zum öffentlichen Dienst, dem Finden einer formalen Arbeit oder der Einrichtung eines Bankkontos.

Arbeitserlaubnisse als ein rares Gut

Die 80.000 Syrer, die seit 2011 offiziell mit ihrem Pass die Grenze der Türkei passiert haben, können laut dem Law on Working Permits for Foreigners formal eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis beantragen. Es gibt keine genauen Statistiken darüber, wie viele Syrer von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht haben. Laut einem Dokument des Außenministeriums ist allerdings ersichtlich, dass 10.227 Arbeitserlaubnisse im Zeitraum von Januar bis November 2016 ausgestellt wurden[1].

Diejenigen, die einen Gaststatus besitzen, dürfen rechtlich nur arbeiten, wenn der Arbeitgeber eine offizielle Arbeitserlaubnis beim Arbeitsministerium in Ankara beantragt. Dieses Verfahren kostet Zeit und Geld, weshalb die wenigsten Arbeitgeber diesen Weg gehen. Nur rund 6.000 Arbeitserlaubnisse sollen bis heute vom Arbeitsministerium ausgestellt worden sein. Aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit wird jedoch auch häufig der Antrag auf Arbeitserlaubnisse für syrische Geflüchtete nicht stattgegeben, um die Stellen für die steigende Anzahl der türkischen Arbeitssuchenden freizuhalten. Um diese bürokratische Hürde zu umgehen und auch niedrigere Löhne zahlen zu können, entscheiden sich viele Arbeitgeber syrische Geflüchtete illegal zu beschäftigen. Schätzungen gehen davon aus, dass 500.000 Syrer informell Arbeit gefunden haben.

Hinzu kommt, dass ca. die Hälfte der syrischen Geflüchteten im arbeitsfähigen Alter keine Berufsausbildung absolviert hat, so dass für sie nur Hilfsarbeiten auf dem türkischen (formalen und informalen) Arbeitsmarkt in Frage kommen.

Kinderarbeit ist ein ausgeprägtes Problem

Das türkische Arbeitsrecht verbietet die Beschäftigung von Kindern unter 15 Jahren. Aufgrund dessen, dass die meisten syrischen Kinder zum  Lebensunterhalt der Familie beitragen müssen, nehmen sie eine illegale Beschäftigung in unterschiedlichsten Sektoren, wie der Landwirtschaft oder der einfachen weiterverarbeitenden Industrie auf. In vielen Fällen unterstützen Kinder ihre Eltern bei deren illegaler Arbeit. Berichten von Menschenrechtsorganisationen zufolge sollen auch eine hohe Anzahl von Kindern dazu gezwungen werden, sich für Geld zu prostituieren oder betteln zu gehen.

Laut offizieller Statistiken von UNHCR sind 44,7 Prozent der syrischen Geflüchteten unter 18 Jahre alt. Von diesen offiziell registrierten 1,4 Millionen Kindern sollen nach Angaben des türkischen Bildungsministeriums nur rund 500.000 Kinder eine Bildungseinrichtung in der Türkei besuchen. UNICEF spricht mittlerweile von der Gefahr einer „verlorenen Generation“, wenn es nicht bald flächendeckend das Angebot gibt, Kinder in die Schule zu schicken. Aber selbst wenn es Angebote geben würde, so besteht keine offizielle Schulpflicht für die Kinder von Geflüchteten. Es ist demnach auch der Wunsch der Eltern maßgeblich, den Kindern eine Schulbildung zuteilwerden zu lassen und sie nicht aus der Not heraus, zur Arbeit zu schicken.

Eingeschränkter Zugang zum Gesundheitssystem

Registrierte syrische Geflüchtete haben laut der türkischen Regierung das Rechts auf eine Basisgesundheitsversorgung. Gerade die staatlichen Krankenhäuser in der Grenzregion zu Syrien stellen 30 bis 40 Prozent ihrer momentanen Kapazitäten für syrische Geflüchtete zur Verfügung. Dies geht wiederum zu Lasten der einheimischen Bevölkerung, da die generellen Kapazitäten der staatlichen Krankenhäuser mit den zunehmenden Zahlen von Geflüchteten nicht erhöht wurden.

Laut der Aussage von Hilfsorganisationen und lokalen NGOs wird immer häufiger von Diskriminierungen in öffentlichen Einrichtungen, einschließlich der staatlichen Krankenhäuser, berichtet. Dies beinhaltet lange Wartezeiten für syrische Geflüchtete, Beschimpfungen und zum Teil auch Drohungen. Die Sprachbarriere ist ein weitreichendes Problem in vielen öffentlichen Einrichtungen.

Nichtregistrierte Geflüchtete können nur auf die Versorgung durch private Krankenhäuser zurückgreifen, wenn sie die finanziellen Mittel hierfür aufbringen können.

Zunahme der Kinderehen

Gerade in den Grenzregionen zu Syrien ist in den letzten Jahren die Anzahl der polygamen Ehen gestiegen. Es wird berichtet von einem zunehmenden Anstieg von religiösen Ehen zwischen zum Teil auch älteren Männern und syrischen Frauen oder Mädchen. Da diese religiösen Ehen nicht von staatlicher Seite registriert werden, fehlen genaue Statistiken.

Gleichzeitig verzeichnete sich ein Anstieg der Scheidungsrate unter türkischen Paaren. Umfragen von NGOs ergeben, dass viele türkische Frauen Angst haben, ihre Ehemänner an syrische Frauen oder Mädchen zu verlieren und deshalb enorm unter Druck stünden.

Es ist bekannt, dass auch die Zahl der Kinderehen angestiegen ist. Teils einvernehmlich, teils unter Zwang werden minderjährige syrische Mädchen mit jungen oder älteren türkischen Männern verheiratet.
Meist zahlen türkische Männer einen Mittelsmann für eine arrangierte Ehe und zahlen üblicherweise noch ein Brautgeld an die Eltern des syrischen Mädchens oder der Frau.

Kinderehen können mehrere Gründe haben. Zum einen ist es der vielerwähnte Schutz der Minderjährigen in einem fremden Land oder bei der Weiterreise nach Europa; zum anderen ist es aber auch die Verheiratung der Töchter, um die Lebenshaltungskosten und die Verantwortung der syrischen Familie zu mindern.

Der Wunsch, nach Europa zu gehen, ist ungebrochen

Einen Asylantrag für ein europäisches Land kann ein syrischer Geflüchteter auf legalem Weg nur dann stellen, wenn er/sie bei UNHCR offiziell als Flüchtling registriert wurde und über ein Auswahlverfahren und Verteilungsschlüssel die Einreise nach Europa erhält.

Da dieser Weg lang ist und viele bürokratische Hürden existieren, versuchen viele Geflüchtete Mittel aufzubringen, um illegal nach Europa zu gelangen. Der Wunsch vieler syrischer Geflüchteter, nach Europa zu gehen, hat sich auch durch die Schließung der Osteuroparoute nicht verringert. Gerade viele Syrer in prekären Lebens- und Arbeitsverhältnissen träumen von Europa als einen Ort des Wohlstands.

Syrische Geflüchtete mit einem sehr hohen Bildungsniveau oder aus wohlhabenden Familien haben bei der Integration in der Türkei weniger Probleme. Es wird berichtet, dass viele dieser Gruppe von Geflüchteten sich mittlerweile durch die Gründung von Unternehmen in der Türkei niedergelassen haben und auch eine Beantragung der türkischen Staatsbürgerschaft in diesen Fällen weniger Probleme bereiten soll.

Interessant ist in diesem Zusammenhang allerdings die Auswahl der syrischen Geflüchteten, die Asyl in unterschiedlichsten europäischen Ländern oder Ländern wie Kanada erhalten sollen.
Die unterschiedlichsten Länder geben über UNHCR eine Namensliste an die türkischen Behörden weiter, die durch diese erst einmal genehmigt werden muss, bevor die Menschen ausreisen dürfen. Es gibt weiterhin Berichte, dass Syrer_innen mit höheren Ausbildungen (Hochschule etc.) durch die türkischen Behörden von diesen Listen gestrichen werden, so dass diese in der Türkei bleiben müssen oder ihnen wird die Ausreise verweigert.

Auf der Suche nach Lösungen

Die Türkei hat mittlerweile erkannt, dass die Notwendigkeit besteht, die Integration der syrischen Geflüchteten besser voranzutreiben, da es auch auf längere Zeit nicht absehbar ist, wann die Geflüchteten in ihre Heimat zurückkehren können.

Die türkische Regierung hat unter anderem Deutschland angefragt, einen Austausch über die Erfahrungswerte deutscher Integrationspolitik zu initiieren.

Im Hinblick auf die innen- und außenpolitischen Herausforderungen der Türkei gerät die Flüchtlingsthematik meist in den Hintergrund. Auch finanziell kommt die Türkei mittlerweile an ihre Grenzen.

Um zukünftige Konfliktherde, ausgelöst durch eine misslungene Integrationspolitik, zu vermeiden, ist es notwendig, Lösungen zu finden, die den syrischen Geflüchteten eine Perspektive gibt und der türkischen Bevölkerung die Angst vor steigender Arbeitslosigkeit und kulturellen Differenzen nimmt. Es ist hierbei notwendig, den öffentlichen Dialog mit Einbezug unterschiedlichster nationaler wie auch internationaler Partner zu eröffnen und den rechtlichen Rahmen zu setzen, um Entscheidungen schnell umzusetzen.

[1] Dies umfasst auch die Arbeitserlaubnisse, die durch den Arbeitgeber beantragt wurden.

 

Kontakt:Daniela Kuzu, FES Türkei

 

Einblicke in die Lebenssituation syrischer Geflüchteter in der Türkei bietet der Kurzfilm "Asfur" der FES Türkei:

 

Kurzfilmreihe: "Menschen in Bewegung" - Warum verlassen Menschen ihre Heimat? Welche Wege gehen sie?

Antworten auf diese Fragen bietet eine Reihe von Kurzfilmen, die FES-Auslandsbüros in Zusammenarbeit mit lokalen Firmen produziert haben. Die Filme erscheinen auf unserem Themenportal "Flucht, Migration, Integration". Gerne können Sie diese für eigene Veranstaltungen nutzen.

Bisher erschienen:

Der Weg war nie das Ziel. "Wir sind zu Migranten geworden...aber eines Tages werden wir ankommen." Kurzfilm über eine Familie aus Kuba auf der Flucht.

Zurück. Lana Mayer flüchtete in den 90er Jahren aus Kroatien nach Deutschland. Sie kehrte zurück nach Vukovar. Dieser Film erzählt ihre Geschichte.

Das Regenbogen-Center in Gaziantep. „Im Exil besteht die Chance, die Schatten der Gewalt zu überwinden“. Kurzfilm über syrische Dissidenten, die sich um traumatisierte Kinder kümmern.

Zwischen den Stühlen. "Ich möchte nicht, dass meine Kinder in Angst leben, so wie ich es tat”. Ein Kurzfilm über äthiopische Geflüchtete im Sudan.

Zwischen den Stühlen, Teil 2. Elsas Mann Yosef ist in Schweden angekommen. Seine Familie konnte er bislang nicht aus dem Sudan nachholen. Teil 2 des Kurzfilms "Zwischen den Stühlen".

Cyber-Mama - Mama in den USA, Kinder in El Salvador. Ein Kurzfilm über Kinder, die bei ihrer Großmutter aufwachsen, weil die Eltern zum Arbeiten weggezogen sind.

Jaminton und Yannia gehen weg - Vertreibung im eigenen Land. Ein Kurzfilm über eine Familie in Kolumbien, die wegen Bürgerkrieg und Gewalt im eigenen Land zu Vertriebenen wird.

Move. Drei Menschen verlassen ihre Heimat. Alle leben in Namibia. Im Kurzfilm 'Move' reflektieren sie über Migration, europäische Doppelmoral und ungleiche Machtverhältnisse.

Die Zurückgelassenen – Wenn die Männer weggehen. Ein Kurzfilm über die Herausforderungen von Frauen und Familien in Indien, deren Männer auf der Suche nach Arbeit migriert sind.

Nowhere Man – Pakistanische Geflüchtete in Südkorea kämpfen um Anerkennung.Familie A. ist aus Pakistan ins 6.000 km entfernte Südkorea geflohen – eine Geschichte auch über die südkoreanische Asylpolitik.

Hinter dem Meer. Der Film zeigt die Geschichte von vier Algerier_innen, die aus verschiedenen Gründen ihre Heimat verließen und nach einiger Zeit wieder nach Algerien zurückgekehrten.


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