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Die Mehrheit der iranischen Bevölkerung könnte in diesem Jahr der Wahlurne fernbleiben. Das macht die Präsidentschaftswahlen jedoch keineswegs bedeutungslos.
Bild: Zamirirad von SWP
Azadeh Zamirirad
Wenn am 18. Juni zum 13. Mal Präsidentschaftswahlen in Iran stattfinden, stehen mehr als 59 Millionen Wahlberechtigte einmal mehr vor der Frage, ob sie wählen gehen sollen.
Abstimmungen sind in der Islamischen Republik enge Grenzen gesetzt. Freie und faire Wahlen, die sich unter anderem dadurch auszeichnen würden, dass die Regeln des politischen Wettbewerbs für alle gleichermaßen gelten oder der reguläre Ablauf durch eine unabhängige Kommission gesichert wird, existieren nicht. Einer Mehrheit der iranischen Bürger*innen bleibt das Präsidentenamt versperrt. Gemäß der Verfassung müssen Präsidenten der schiitischen Staatsreligion angehören, religiöse Minderheiten können nicht antreten. Das Amt muss zudem von einer Person aus dem Kreis bekannter religiöser und politischer Persönlichkeiten (rejal-e mashabi va siyasi) besetzt sein. Frauen wurden bislang ausgeschlossen. Dabei ist umstritten, ob der Begriff „rejal“ lediglich Männer umfasst.
Die Deutungshoheit darüber wird vom iranischen Wächterrat beansprucht. Das zwölfköpfige Gremium setzt sich aus sechs religiösen Geistlichen und sechs Juristen zusammen, die im Gegensatz zum Präsidenten oder dem Parlament nicht direkt vom Volk gewählt sind. War der Wächterrat ursprünglich nach Artikel 99 der Verfassung lediglich für die generelle Beaufsichtigung verschiedener Wahlen im Land zuständig, legte er 1992 seine eigene Deutung von Artikel 99 vor. Mit dieser erklärte sich der Rat explizit auch für die Zulassung und Ablehnung von Kandidat*innen verantwortlich. Heute stellt der Wächterrat die zentrale Instanz dar, die den Zugang zu politischer Macht im Land kontrolliert.
Die von Konservativen und Hardlinern dominierte Institution schließt regelmäßig tausende potenzielle Kandidat*innen von den Wahlen aus, ohne öffentlich Rechenschaft ablegen zu müssen. Betroffen sind bislang neben sämtlichen Frauen vor allem so genannte Reformer und Pragmatisten.
Bedeutsam sind Präsidentschaftswahlen in der Islamischen Republik nicht als Mittel des politischen Wettbewerbs, sondern vor allem als nationales Ereignis, das unterschiedliche gesellschaftliche Dynamiken freisetzen kann. Die Wochen vor den Wahlen sind traditionell Zeiten der intensiven politischen Debatte im Land. Schon oft hat der Wahlkampf dabei kontroverse Themen in die Öffentlichkeit getragen und lange bestehende Tabus gebrochen, vor allem während der zahlreichen Live-Debatten im Fernsehen. Längst werden hierzu auch soziale Medien genutzt, darunter seit wenigen Monaten auch die Audioplattform Clubhouse. Der Reformer Mostafa Tajzadeh, der mit hoher Wahrscheinlichkeit vom Wächterrat abgelehnt werden wird, nutzte die Plattform unter anderem dazu, um größere Aufmerksamkeit für umstrittene Anliegen wie eine Verfassungsreform oder die Begrenzung der Amtszeit des Revolutionsführers zu erzielen.
In Wahlphasen rückt auch die Rolle des Wächterrats regelmäßig in den Fokus und in die Kritik. Dadurch öffnen sich politische Räume, um systemische Missstände offenzulegen und sich diesen zu widersetzen. Immer wieder treten iranische Frauen als Kandidatinnen an und fordern damit den Wächterrat heraus. Die 2019 verstorbene Journalistin und frühere Abgeordnete Azam Taleghani registrierte sich insgesamt fünf Mal, zuletzt bei den Präsidentschaftswahlen von 2017. Neben ihr meldeten sich in jenem Jahr auch 136 weitere Frauen an, die allesamt abgewiesen wurden. Obwohl der Sprecher des Wächterrats Abbas Ali Kadkhodaei mehrfach öffentlich versicherte, dass Frauen rechtlich nicht vom Präsidentenamt ausgeschlossen seien, spiegelte sich dies in der Entscheidungspraxis des Rats bislang nicht wider. Trotz der bisherigen Rückschläge treten auch in diesem Jahr wieder vierzig Frauen an – und erhalten damit den Druck auf den Wächterrat aufrecht.
Schließlich stellen Wahlen auch Phasen der Volatilität dar, aus denen unerwartete gesellschaftspolitische Entwicklungen erwachsen können. Dies war 2009 der Fall, als im Nachgang der umstrittenen Wiederwahl Mahmud Ahmadinedschads hunderttausende Bürger*innen und selbst Teile der politischen Eliten auf die Straße gingen und dem Staat Wahlfälschung vorwarfen. Viele sahen das verkündete Endergebnis als offenen Verstoß gegen das Credo, dass das System zwar die Kandidat*innen, die Bürger*innen jedoch den Sieger bestimmen.
Seit Gründung der Islamischen Republik hat die Mehrheit der iranischen Wahlberechtigten regelmäßig an Wahlen teilgenommen – trotz der klaren institutionellen Limitierungen und praktischen Beschränkungen des politischen Wettbewerbs. Präsidentschaftswahlen erzielten im Schnitt eine Beteiligung von über 70%. Dies deutet darauf hin, dass entgegen weit verbreiteter Annahmen im Ausland, viele Iraner*innen dem Amt für ihren Alltag unmittelbare Bedeutung beigemessen haben. Unter der Wählerschaft befanden sich dabei keineswegs nur Unterstützer*innen der bestehenden politischen Ordnung, sondern auch jene, die dem System kritisch gegenüberstehen oder es gar ablehnen.
Die Gründe dafür, warum Bürger*innen sich in autokratischen Systemen an Wahlen beteiligen, sind vielfältig. Sie reichen von der Hoffnung auf schrittweisen politischen Wandel über eine schlichte Verbesserung der eigenen wirtschaftlichen Lage bis zur Verhinderung des Wahlsiegs bestimmter Kandidaten. Die Islamische Republik könnte in diesem Jahr jedoch ein Rekordtief bei der Wahlbeteiligung verzeichnen. In einer Umfrage der staatlichen Rundfunkgesellschaft IRIB vom Mai gaben 51% der Befragten an, nicht wählen zu wollen. Nur 33% ließen wissen, in jedem Fall abstimmen zu werden. Bereits in einer Erhebung der iranischen Umfrageagentur ISPA vom April teilte weniger als die Hälfte der Befragten mit, ihre Stimme abgeben zu wollen.
Der Frust und die Enttäuschung im Land sind groß. Zahlreiche Reformversuche scheiterten, die Bevölkerung leidet unter Misswirtschaft und weit verbreiteter Korruption, einer hohen Arbeitslosenquote, genereller Perspektivlosigkeit für weite Teile der jüngeren Generation, anhaltender staatlicher Repression und der Einschränkung persönlicher Freiheiten. Zu oft wurden dabei Erwartungen für politischen Wandel geweckt und blieben doch unerfüllt, zuletzt unter dem als moderat geltenden Präsidenten Hassan Rohani. Die Verzweiflung vieler Iraner*innen spiegelte sich 2017/18 und 2019/20 in landesweiten Massenprotesten wider, auf die der Staat mit der gewaltsamsten Niederschlagung der letzten Jahrzehnte reagierte. Hunderte Demonstrant*innen wurden getötet, tausende weitere verhaftet. Die wirtschaftlich ohnehin angeschlagene Lage wurde durch ein drakonisches US-amerikanisches Sanktionsregime (ab 2018) und die Coronakrise (seit 2020) noch verschärft.
Wie in nahezu allen iranischen Wahlen wurden daher auch dieses Mal Rufe nach einem Wahlboykott laut. Zahlreiche prominente Kritiker*innen der politischen Zustände wie die frühere Abgeordnete Faezeh Haschemi (Tochter des ehemaligen Präsidenten Ali Akbar Haschemi Rafsandschani) oder die Menschenrechtsverteidigerin Narges Mohammadi lehnen eine Beteiligung explizit ab. Selbst für ehemalige Verfechter einer Stimmabgabe wie den Teheraner Universitätsprofessor Sadegh Zibakalam haben Wahlen als Mittel des politischen Wandels ausgedient.
Dass ein Großteil der Wahlberechtigten auf ihr Stimmrecht verzichten wird, ist wahrscheinlich, aber keineswegs sicher. Schon oft haben Präsidentschaftswahlen in Iran für Überraschungen gesorgt. Viele Iraner*innen könnten ihre Entscheidung davon abhängig machen, wer überhaupt zu den Wahlen zugelassen wird. Dennoch dürfte es gerade den Reformern schwerfallen, Wähler*innen zu mobilisieren. Deren Protagonisten, etwa Tajzadeh, stehen in der Kritik, kein tragfähiges politisches Programm, keine Strategie und generell keine Antwort auf wirtschaftliche oder gesellschaftspolitische Fragen liefern zu können. Es bleibt unklar, wieso Tajzadeh oder anderen reformorientierten Kandidat*innen gelingen sollte, was keinem Amtsinhaber seit dem ersten Wahlsieg der Reformer 1997 gelungen ist. Vielen Iraner*innen gilt das System nicht länger als reformierbar.
Manche könnten aus Apathie der Wahlurne fernbleiben, andere ihre Abwesenheit als bewussten Akt des Protestes ansehen und als wirkmächtigstes Instrument, um dem Staat die erwünschte Legitimität zu versagen und damit auch international vorzuführen.
Doch ist ungewiss, ob sich dies im amtlichen Endergebnis überhaupt widerspiegeln würde. Zum einen könnte die Wahlbeteiligung auch aufgrund der Coronakrise niedriger ausfallen. Zum anderen lässt sich die tatsächliche Zahl der abgegebenen Stimmen angesichts mangelnder Kontrollmöglichkeiten nicht zuverlässig ermitteln.
Ob iranische Bürger*innen mehrheitlich der Wahlurne den Rücken kehren oder nicht: Eine Stimmabgabe kann weder als gesellschaftlicher Rückhalt für die Islamische Republik gedeutet werden noch bedeutet sie, dass die Wähler*innen ihren gesellschaftspolitischen Anliegen nicht auch abseits der Wahlurne weiter Ausdruck verleihen werden.
Dr. Azadeh Zamirirad ist Politikwissenschaftlerin und stellvertretende Leiterin der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.
Auf Twitter: @zadehmiri
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Äußerst kurz, sehr intensiv und durchaus entscheidend – auch für die iranische Politik sind Wahlkampfzeiten besonders
Eine vielschichtige Debatte mit offenem und kritischem Blick
Unser Blog möchte eine vielschichtige Debatte zu den iranischen Präsidentschaftswahlen am 18. Juni bieten. Hierzu wirft er Schlaglichter auf Aspekte, die für Iraner*innen im Kontext der Wahlen wichtig sind, ebenso wie auf Grundsätzliches, etwa der Frage nach der Bedeutung von Wahlen in einem autokratischen System. Beachtung finden auch die Perspektiven ausgewählter Regionalakteur*innen.
David Jalilvand ist Analyst und leitet die Berliner Research Consultancy Orient Matters.
Achim Vogt verantwortet das FES-Projekt Frieden und Sicherheit in der MENA-Region.
info.nahost(at)fes.de
V.i.S.d.P.
Achim Vogt