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Eine hohe Wahlbeteiligung wird bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen nicht erwartet, Beobachter sprechen von einer Legitimitätskrise der Staatsführung. Oder ist es die Wirtschaftslage des Landes, die Wähler*innen davon abhält, ihre Stimme abzugeben?
Bild: Batmanghelidj
Esfandyar Batmanghelidj
Die Präsidentschaftswahlen in Iran, die in eine kritische Phase fallen, werden überschattet von Erwartungen einer geringen Wahlbeteiligung. Bereits seit mehreren Monaten konstatieren politische Kommentare eine sich abzeichnende Unlust der iranischen Bevölkerung, an die Wahlurnen zu strömen. Meinungsumfragen belegen diesen Trend. Der Wahlkampf läuft, doch die meisten Kandidierenden sind wenig inspirierend. Diejenigen, die ihre Anhänger*innen zur Stimmabgabe bewegen könnten, werden vermutlich vom Wächterrat nicht zugelassen. Eine niedrige Wahlbeteiligung scheint vorbestimmt.
Im Grunde überrascht das nicht: Die politische Reaktion auf wirtschaftliche Schocks zeigt sich nicht selten in einer geringen Bereitschaft, zur Wahl zu gehen. Seit drei Jahren leidet Iran unter einer Wirtschaftskrise, die durch die von den USA im Mai 2018 wieder eingeführten Sekundärsanktionen und die Covid-19-Pandemie noch angeheizt wurde. Sie steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit bei den Wahlberechtigten, die sich mit hohen Inflationsraten, Massenarbeitslosigkeit und zunehmender wirtschaftlicher Ungleichheit herumschlagen müssen. Die Iraner*innen glauben nicht mehr, dass die Regierung diese Probleme lösen kann. Und sie bezweifeln, dass es einen Unterschied macht, ob sie wählen gehen oder nicht.
Anlässlich einer im März 2021 durchgeführten Erhebung fragte die renommierte Iranian Students Polling Agency (ISPA), welchen Themen sich die neue Regierung mit Priorität widmen sollte. Nur gut zehn Prozent der Befragten nannten die nationale Sicherheit an erster Stelle. Kandidaten wie der ehemalige Verteidigungsminister und Ex-Brigadegeneral der Revolutionsgarden Hossein Dehghan können sich also kaum darauf verlassen, dass sie gewählt werden, weil sie in diesem Bereich über Erfahrung verfügen. Das Kriterium für die Beurteilung der Kandidierenden ist bei den anstehenden Wahlen vor allem die Aussicht auf Erfolge in drei Feldern, die unmittelbar mit der ökonomischen Lage des Landes verbunden sind.
Für 31 Prozent und damit für die relative Mehrheit der Teilnehmenden an der ISPA-Umfrage ist „Gerechtigkeit“ der wichtigste Aspekt. Hierbei thematisieren sie nicht nur Ungleichheit bei den Einkommen, die Kluft zwischen dem städtischen und ländlichen Raum und ähnliche Probleme. Als politisch brisantester Komplex erweist sich vielmehr die Korruption in Iran. Die Wahlmüdigkeit vieler Bürger*innen rührt aus der Wahrnehmung, dass es den Politiker*innen vor allem um ihr eigenes Wohl geht. Kandidaten wie Ebrahim Raisi, aktuell an der Spitze der Justiz stehend und sich im Wahlkampf in der Rolle des Kämpfers gegen die Korruption gerierend, oder Ex-Präsident Mahmoud Ahmadinedschad, der mit populistischen Parolen punkten will und erklärt, er werde den Mächtigen die Wahrheit sagen, bieten Wählenden, die mehr Gerechtigkeit fordern, fundamental andere Visionen an. (Ahmadinedschad bewirbt sich erneut um das Präsidentenamt, wird aber vermutlich wieder nicht zugelassen werden.) Korruption impliziert jedoch nicht nur Fragen von Recht und Gesetz. Das Thema steht auch weit oben auf der politischen Tagesordnung, weil die iranische Wirtschaft am Boden liegt. Angesichts ihrer eigenen ökonomischen Malaise sind die Iraner*innen zunehmend empört über Schmiergelder, Vetternwirtschaft, Veruntreuung und Vorteilsnahme der politischen Klasse.
Zwanzig Prozent der von ISPA Befragten erwarten, dass der Staat sich mit Priorität der wirtschaftlichen Probleme des Landes annimmt und handelt. Ebenfalls zwanzig Prozent wünschen sich bessere internationale Beziehungen und die Förderung der heimischen Industrie. In ihren Antworten zeichnen sich zwei Optionen für eine wirtschaftliche Erholung Irans ab: ein diplomatischer Durchbruch, damit sich das Land von den Sanktionen erholen kann, und der Aufbau dser sogenannten Widerstandsökonomie, die mehr Autonomie und Unabhängigkeit von der Weltwirtschaft bringen soll.
Zwar werden die beiden Ansätze von iranischen Politiker*innen häufig konträr dargestellt, doch es herrscht zunehmend Konsens, dass es eine Kombination von Maßnahmen geben muss. Eine Förderung der verarbeitenden Industrie im Land ist unerlässlich. Ohne Technologietransfers und Investitionen ist dieses Ziel jedoch nicht zu erreichen. Das bedingt jedoch die Aufhebung der Sanktionen, was auch eine Steigerung der Exporte der iranischen Industrie ermöglichen würde. Dieser entstehende Konsens wird von einigen Präsidentschaftskandidaten aufgegriffen, indem sie erklären, beide Wege einschlagen zu wollen. So tritt der Gouverneur der iranischen Zentralbank Abdolnasser Hemmati mit der Hoffnung an, Kapital zu schlagen aus seinem Erfolg bei der Verbesserung der wirtschaftlichen Lage in Iran seit seinem Amtsantritt in 2018, kurz nachdem Präsident Donald Trump die Sanktionen gegen Iran wieder verhängt hat. Saeed Mohammad, ein weiterer Kandidat, der wahrscheinlich nicht antreten darf, versucht, mit seiner Erfahrung beim „Umgehen von Sanktionen“ als Chef der großen, von den Revolutionsgarden kontrollierten Baufirma Khatam al-Anbiya, zu punkten. Während Hemmati als Schlüsselfigur der iranischen Wirtschaftsdiplomatie Bekanntheit erlangte, unter anderem durch die Förderung iranischer Interessen in Ländern wie China oder Irak, verspricht auch Mohammad, „internationale Fähigkeiten“ zu nutzen, damit die Sanktionen aufgehoben werden. An das Atomabkommen werde sich die iranische Regierung halten, erklärt er.
Unabhängig von ihren jeweiligen Prioritäten sind die Wähler*innen in Iran skeptisch, ob ihre Beteiligung an den Wahlen überhaupt etwas bewirken kann. Laut der bereits zitierten ISPA-Umfrage gehen 28 Prozent der Befragten davon aus, dass ihre Stimme signifikante Bedeutung für die Lösung der Probleme im Land haben kann. Fast ebenso viele – 27 Prozent – sind vom Gegenteil überzeugt. Beobachter*innen in Iran und im Ausland interpretieren die zu erwartende niedrige Wahlbeteiligung als Gefahr für die Legitimität der Islamischen Republik insgesamt. Die Wahlmüdigkeit hängt offenbar mit der sichtbaren Schwäche des Reformerblocks und den mageren Aussichten auf politische und ökonomische Reformen im Land zusammen. Mit Blick auf die Fragen, die vor allem die Mittelschicht umtreiben, dürfte diese Diagnose richtig sein. In ihren Augen ist das politische Establishment völlig verkrustet. Pläne von Präsidenten, die wie Mohammad Chatami und Hassan Rohani die Wünsche der Mittelschicht repräsentieren, wurden vom politischen System vereitelt, ihr ökonomisches und soziales Programm blieb weitgehend unerledigt. Das Desinteresse an den Wahlen reicht aber weit über die Mittelschicht hinaus: Wahlmüde sind auch die Arbeiterklasse und Wähler*innen in ländlichen Regionen, die sich in der Vergangenheit von konservativeren Kandidaten schnell mobilisieren ließen.
In einer umfassenden Studie von 2016 stellten Kevan Harris und Daniel Tavana fest, dass 87 Prozent der Iraner*innen „sich nicht mit einer bestimmten politischen Gruppierung“ identifizieren. Dabei gaben 75 Prozent der Befragten an, sie seien „an Politik interessiert“. Die Bürger*innen des Landes haben eine klare Vorstellung, welche Prioritäten ihre Regierung verfolgen sollte, und nehmen Anteil an der Politik. Dennoch stehen sie keinem spezifischen Lager nahe, und die Annahme, dass ihre Wahlbeteiligung kaum Einfluss auf das Regierungshandeln hat, ist weit verbreitet. Damit stellt sich die Wahlmüdigkeit in Iran als weitaus trivialeres Phänomen dar als die Zweifel an der Legitimität der Regierung, die von ausländischen Medien gern zitiert werden.
Mehrere sozialwissenschaftliche Studien konnten eindrücklich belegen, dass die Wahlbeteiligung im Nachgang zu einer Wirtschaftskrise generell sinkt, insbesondere wenn die Depression Folge eines exogenen Schocks ist. Doch ökonomische Probleme senken nicht automatisch den Grad der Politisierung. In Iran nahmen die Proteste und die Mobilisierung der Werktätigen mit den sich verschlechternden ökonomischen Bedingungen zu. Allerdings untergraben Wirtschaftsprobleme das Vertrauen in die Regierung. Resignation macht sich breit und es wird schwerer, die Wahlberechtigten zu mobilisieren.
Eine genauere Analyse dieses Phänomens wäre eine wertvolle, gleichwohl herausfordernde Aufgabe für die Sozialwissenschaften. Vom Ende des Iran-Irak-Kriegs bis zur Verhängung der Finanzsanktionen in 2012, die die Wirtschaft um sieben Prozent einbrechen ließen, erlebte Iran keine bedeutende Rezession. Die Wahlbeteiligung ging zwischen 2009 und 2013 zwar von knapp 85 Prozent auf etwa 76 Prozent zurück, doch reflektiert das zum Teil auch die politischen Nachwehen nach Ahmadinedschads umstrittenen Wahlsieg im Jahr 2009. Die Tatsache, dass die Zahl der Wählenden von 2009 und 2013 nicht stärker fiel, lässt mit Blick auf die für den Juni 2021 erwartete deutlich geringere Wahlbeteiligung vermuten, dass diese eher Skepsis gegenüber den Fähigkeiten der Regierung nach drei Jahren der Rezession zum Ausdruck bringt, statt Sorgen über die Legitimität des Systems.
Allerdings werden auch die Zweifel an der Legitimität wachsen, sollte die iranische Bevölkerung ihre Exekutive und das Parlament weiterhin als unfähig und unwillig wahrnehmen, die grundlegenden Wirtschaftsprobleme des Landes anzugehen. Aber die wahrscheinliche Rückkehr zum Atomabkommen und die vorsichtige wirtschaftliche Erholung Irans nach der Pandemie öffnen ein Fenster für eine technokratische Führung, das Vertrauen in die Verbindung zwischen politischer Partizipation und Regierungspolitik, das es für kurze Zeit in der ersten Amtsperiode Rohanis gab, wiederherzustellen. Diejenigen Iraner*innen, die sich an den anstehenden Wahlen beteiligen, tun es nicht als „Reformer“ oder „Hardliner“, und vermutlich entscheiden sie sich auch nicht für einen bestimmten Kandidaten, weil sie einer bestimmten Strömung nahestehen. Vielmehr werden sie ihren Stimmzettel in die Wahlurne werfen, weil sie hoffen, dass der Gewählte – gleichgültig welcher – die Wirtschaftskrise überwinden kann.
Esfandyar Batmanghelidj ist Gründer und CEO der Bourse & Bazaar Foundation, ein Thinktank zu den Themen Wirtschaftsdiplomatie, wirtschaftliche Entwicklung und Wirtschaftsgerechtigkeit im Nahen Osten und Zentralasien. Er ist ferner Visiting Fellow beim European Council on Foreign Relations.
Auf Twitter: @yarbatman
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David Jalilvand ist Analyst und leitet die Berliner Research Consultancy Orient Matters.
Achim Vogt verantwortet das FES-Projekt Frieden und Sicherheit in der MENA-Region.
info.nahost(at)fes.de
V.i.S.d.P.
Achim Vogt