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Die freiberufliche Performancekünstlerin, Theatermacherin, Autorin und Moderatorin Fatima Çalışkan reflektiert in diesem Diskursbeitrag im Nachgang zur DenkArt „Schöne Kunst! Gute Arbeit?“ über die speziellen Arbeitsbedingungen der künstlerischen Berufe.
Ich erinnere mich an die Sommertage 2008 während der Oberstufenzeit am Gymnasium, als wir alle nur noch die Tage bis zu den Sommerferien zählten. Um rauszufinden was wir denn mit dem Rest unseres Lebens nach dem Abitur machen wollen, wurden wir kurzerhand alle zur Berufsberatung in irgendeinen fensterlosen Veranstaltungsraum gezerrt und ein Mann erklärte uns, was eine Ausbildung und ein Betrieb sei und dass es ein "Azubi-Ticket" für Bus und Bahn gäbe. Und, so sprach er weiter, wenn man wirklich gute Noten hat könne man Medizin studieren, aber da müsse man wirklich nur Einsen auf dem Zeugnis haben. Er blickte uns bei diesen Worten vielsagend an und erzählte dann noch andere Dinge darüber, wie hart der Konkurrenzkampf am Arbeitsmarkt sei, eigentlich sei für uns alles chancenlos. Er fütterte uns an diesem Tag mit Ängsten und leeren Versprechen, für die ich heute als Millennial ausgelacht werde: Man schaffe „es“ nur mit harter Arbeit, also Überstunden, man solle möglichst viele unbezahlte Praktika machen, sonst bräuchte man sich im Betrieb gar nicht erst zu bewerben, ohne unbezahlte Praktika brächte einem auch der Uni-Abschluss überhaupt nichts. Überhaupt sollten wir schonmal nach Nebenjobs, Au-Pair-Tätigkeiten oder dem Freiwilligen Sozialen Jahr Ausschau halten, es bewerben sich ja „alle“ gerade, da habe man eh keine Chance irgendwo „unterzukommen“. In der Pause erzählte eine Klassenkameradin, ihr Vater hätte gesagt, sie solle am besten jetzt schon Chinesisch lernen, denn in China sei der Markt der Zukunft. Mein Vater riet mir bereits 1997, ich solle lernen wie man einen Computer bedient, denn da sei der Arbeitsplatz der Zukunft. Am Ende schenkte uns der Mann von der Berufsberatung noch das „Lexikon der Ausbildungsberufe“, ein sehr dickes Buch mit sehr dünnen Seiten. Dort waren alle erdenklichen Berufe aufgelistet und wie die Ausbildung dafür erfolgt: „Podologe“, „Milchtechnologe“, „Förster“ zum Beispiel. Meinen heutigen Beruf habe ich darin nicht gefunden: freiberufliche Künstlerin. Also Performancekünstlerin. Und Theatermacherin. Und Autorin. Und Moderatorin.
Ich erzähle diese Anekdote, um zu verdeutlichen, dass die Annahmen und Informationen, mit denen ich ins Ausbildungs- und Berufsleben gestartet bin, sich sehr von dem unterscheiden von dem, was mir wirklich passierte. Das liegt einerseits daran, dass sich in den letzten 15 Jahren der Arbeitsmarkt sehr stark verändert hat. Es liegt aber auch daran, dass künstlerische Berufe Voraussetzungen und Arbeitsrealitäten haben, die sich von „klassischen“ Ausbildungs- und Akademiker*innenberufen unterscheiden, besonders in den Freien Darstellenden Künsten. Es gibt drei Punkte, anhand derer ich die Unterscheidung im Folgenden verdeutlichen will:
Es gibt darüber hinaus weitere Problemfelder, wie mangelnde Diversität oder Inklusion, geringe Unterstützung bei Care-Arbeit, Gender-Pay-Gap, die aber für so ziemlich alle anderen Branchen auch gelten.
Zu den Zahlen: Im Jahr 2023 kamen die Ergebnisse des Forschungsprojekts „Systemcheck“ heraus, durchgeführt vom Bundesverband Freie Darstellende Künste in Kooperation mit dem ensemble-netzwerk, dem Institut für interdisziplinäre Arbeitswissenschaft und dem Institute for Cultural Governance. Ziel war die Erforschung sozialer Sicherung von Solo-Selbstständigen und hybrid Arbeitenden in den darstellenden Künsten.[1]
Wesentliche Ergebnisse unterstreichen das, was seit Jahren bekannt und nun endlich mit Zahlen belegt ist. Um es ganz einfach zu sagen: Die Gagen in den Freien Darstellenden Künsten sind dermaßen gering, dass die Beiträge für Versicherungen ebenso gering oder diese gar nicht vorhanden sind. So lag beispielsweise das durchschnittliche Nettoeinkommen laut der in der Studie befragten Personen im Jahr 2021 bei rund 20.500 Euro, was auch nicht durch Partner*innen kompensiert wird, denn das Haushaltsnettoeinkommen im gleichen Jahr lag durchschnittlich bei rund 31.500 Euro. Zum Vergleich: Im Bundesdurchschnitt beträgt das monatliche Nettoeinkommen pro Haushalt 3.813 Euro, also auf das Jahr gerechnet 45.756 Euro für 2021.[2] Ein weiterer wichtiger Baustein ist das Versicherungssystem: So liegen die monatlichen Rentenbeiträge weit unter dem Regelbeitrag für versicherungspflichtige Selbstständige, damit kommt die Rente nicht über das Grundsicherungsniveau hinaus. Andere Versicherungen, wie Unfallversicherung, werden zwar teilweise abgeschlossen, allerdings sind die monatlich geleisteten Beträge viel zu gering, als das eine ausreichende Entgeltfortzahlung im Notfall stattfindet. Zudem zeigt die Studie auf, dass ein Drittel der Solo-Selbstständigen in den Freien Darstellenden Künsten mehrere Tätigkeiten ausführen um ihren Lebensunterhalt zu sichern.[3] Das Papier bietet auch konkrete Handlungsempfehlungen: Es gibt konkrete Vorschläge zur Erweiterung des Versicherungssystems mit Ausweitung der Künstlersozialkasse, Einführung eines Versorgungswerks, Absicherung von Erwerbslosigkeit, Absicherung für Gebärende und Erziehungsberechtigte, Unfallversicherung, Härtefallfonds gegen Altersarmut, Forderungen nach Erhöhung der Mittel und konkreten Schritten gegen Diskriminierung.
Gerade beim Wechsel von Arbeitsverhältnissen (beispielsweise von Selbstständig zu abhängig Beschäftigt und zurück) oder bei Gleichzeitigkeit verschiedener Arbeitsverhältnisse (hybrid Arbeitende) ist die Frage nach Absicherungen im Sozialversicherungssystem groß. In weiteren Dossiers wird eine Verpflichtung zur Rentenbeitragszahlung diskutiert, auch wird gefragt, wer Trägerin sein sollte – die Deutsche Rentenversicherung Bund oder die Künstlersozialkasse – oder ob man die Rentenbeitragszahlung möglicherweise auf der Rechnung ausweisen sollte, ähnlich wie die Umsatzsteuer[4]. Auch ein Blick auf andere europäische Staaten ist lohnenswert. So gibt es in Frankreich das Modell des "Intermittence du Spectacle", einer Art Grundeinkommen für Beschäftige im Kulturbereich, um bei phasenweisen Schwankungen bei bezahlten Tätigkeiten finanzielle Sicherheit zu gewährleisten.[5]
Und nun? Immerhin hat die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) seit dem 1. Juli 2024 ihre Förderaktivitäten an eine einheitliche Regelung zur Honoraruntergrenze geknüpft.[6] Heißt: Es muss sich seit dem 1. Juli 2024 bei der Bezahlung von Künstler*innen an Honoraruntergrenzen gehalten werden, wenn mindestens die Hälfte der Gelder aus Bundesmitteln kommt. Da wir im Föderalismus leben und Kunst und Kultur Ländersache ist, muss immer im jeweiligen Bundesland geschaut werden, welche Empfehlungen die entsprechenden Fach-, Berufs- oder Interessenverbände geben.[7]
Auch wenn damit Honorare transparenter kommuniziert und höher ausfallen können, ist fraglich wie hoch das Fördervolumen zukünftig insgesamt sein wird und wie viele Projekte überhaupt umgesetzt werden können. Denn es gibt Befürchtungen um eine 50 %ige Kürzung der Mittel für die Bundesfonds im Bundeshaushalt für das Jahr 2025. Die Bundesfonds wie Fonds Darstellende Künste oder der Deutsche Literaturfonds sind eine wichtige Fördersäule für professionell arbeitende freiberufliche Künstler*innen.[8] Und bei den Freien Darstellenden Künsten beispielsweise droht eine Streichung der Förderung für das Bündnis Internationaler Produktionshäuser in 2025, einer weiteren wichtigen Säule für professionelle selbstständige Produktion.[9] Man könnte hier noch lapidar sagen, schauen wir mal, was die Haushaltsbereinigung im November bringt. Prognose: Sieht schlecht aus. Die Situation wird aber auch nicht einfach hingenommen, sondern Kulturakteur*innen schließen sich zusammen sprechen sich gegen diese Entwicklungen aus.[10]
Eine ganz andere Frage bei all der Geldnot – beziehungsweise der unausgewogenen Geldverteilung – wäre, weitere Geldströme in Betracht zu ziehen. Auch im Sinne einer Stärkung der Kunst gegenüber drohenden Szenarien rechter (Landes-)Regierungen gibt es Vorschläge zur Vorsorge vor Eingriffen oder kompletter Kappung der Mittel: Beispielsweise die Etablierung weiterer Stiftungen, die mit Kapitalerträgen operieren, um nicht nur auf öffentliche Zuwendungen angewiesen zu sein.[11]
Was mir von meinem Ausflug zur Berufsberatung in Erinnerung geblieben ist, ist, dass sich sowohl unsere Lehrer*innen als auch der Berufsberater immens für unsere zukünftigen Arbeitsbedingungen interessiert haben. Sie haben zwar alles schlecht geredet und in mir einen Pessimismus gesät, den ich nur dank Berufscoaching überwinden konnte. Trotzdem: Wer sorgt sich in unserer Gesellschaft um den Berufszweig der selbstständigen Künstler*innen? Oder wie bei der DenkArt „Schöne Kunst! Gute Arbeit?“ im Oktober 2023 Lisa Basten, Carsten Brosda und ich gemeinsam mit besprochen haben: Wer ist verantwortlich? Ist es die Legislative, also unsere Parlamente, weil der Großteil an Gagen über öffentliche Förderung läuft? Sind es die Künstler*innen selbst, die für ihre Rechte einstehen müssen? Ist es die Gesellschaft, weil am Ende jede kulturpolitische Entscheidung eine gesellschaftspolitische Entscheidung ist? Ist der Wert künstlerischer Arbeit für unsere Gesellschaft noch zu diskutieren?[12]
Manchmal frage ich mich, was unsere Lehrer*innen oder der Berufsberater zu meiner Berufswahl gesagt hätten. Hätten sie mir davon abgeraten, weil der Job zu unsicher ist? Können sie einschätzen, wie viel Sicherheit ich brauche? Welche Alternativen hätten sie mir vorgeschlagen?
Können die flexiblen und dynamischen Arbeitsweisen der Freien Künste nicht auch Inspiration für die Arbeit von morgen sein? Junge Menschen beklagen heute die mangelnde Flexibilität am Arbeitsplatz. Damit ist zwar vor allem die Option zur Remote-Arbeit gemeint.[13] Sie kann aber auch zukünftig immer stärker das Bedürfnis nach individueller Ausgestaltung der Arbeitsweise bedeuten. Die Nutzung von Social-Media ist ein klarer Indikator dafür, dass individueller Ausdruck fester Bestandteil des Alltags von Vielen ist. Damit verschwimmt auch die Grenze zur Kunst: Im Grunde ist fast jedes TikTok-Video ein verdichteter Miniatur-Monolog über Bande, spricht also direkt das Publikum, beziehungsweise User*innen an. Die Ziele: freier kreativer Ausdruck, Reichweite und Monetarisierung, also Geld erwirtschaften. Das Prinzip der l'art pour l'art, also Kunst um der Kunst willen, auch ohne Moneten, gegen Marktregeln, ist längst passé. Immerhin, denke ich bei meinen Abschlussworten zu diesem Artikel in den grellen Sommertagen 2024.
Fatima Çalışkan ist Moderatorin, Künstlerin und Autorin. Ihr Schwerpunkt liegt auf kunst- und kulturpolitischen Themen zu denen sie Analysen und Essays, u.a. für die Kulturpolitische Gesellschaft, schreibt oder satirische Texte für freie Produktionen entwickelt. Sie ist Mitgründerin und Mitherausgeberin der biennal erscheinenden Zeitschrift YallahSalon. Als Moderatorin bespielt sie die gesamte Klaviatur an Gesprächs- und Präsentationsformaten für Bühne, Audio und Video. Als Performerin und Dramaturgin kollaboriert sie mit verschiedenen Projekten der freien Szene. Weitere Stationen sind u.a. Beratung und Begleitung von Projekten für den Förderfonds Interkultur Ruhr, Ko-Leitung der Beratungsstelle des Performing Arts Programms des LAFT Berlin, Ko-Leitung des Modellprojekts FAIRSTAGE sowie Jurytätigkeiten auf Bundes- und Landesebene, darunter als Kuratoriumsmitglied des Fonds Darstellende Künste.
Dieser Artikel entstand im Zusammenhang mit der DenkArt-Veranstaltung „Schöne Kunst! Gute Arbeit?“ am 5. Oktober 2023. Einen Rückblick finden Sie hier.
[1] darstellende-kuenste.de/sites/default/files/2023-10/BFDK_Systemcheck_Abschlusspublikation.pdf
[2] de.statista.com/statistik/daten/studie/261850/umfrage/brutto-und-nettoeinkommen-je-privatem-haushalt-in-deutschland/
[3] vgl: "System-FAIR-änderung. Handlungsempfehlungen des Forschungprojekts „Systemcheck“; Hrgs.: Bundesverband Freie Darstellende Künste e. V., S. 8f, 2023. darstellende-kuenste.de/sites/default/files/2023-10/BFDK_Systemcheck_Handlungsempfehlungen.pdf
[4] vgl.: Uwe Fachinger: "Hybrid Arbeitende in den darstellenden Künsten. Anmerkungen zur Altersvorsorge" in: "Wer kümmert sich? Soziale Absicherungsoptionen und -hürden für hybrid arbeitende Künstler*innen; Basten", Fachinger, Fenner, Happich, Kiehne, Kuner. S. 36f, 2023. darstellende-kuenste.de/sites/default/files/2023-02/230216_TD5_Wer_kuemmert_sich_Systemcheck_final.pdf
[5] vgl.: Diskussionspapier aus Österreich, dass die Implementierung des Systems dort diskutiert: oemr.at/wp-content/uploads/Intermittence-du-Spectacle_Dossier-ÖMR_Dez2020.pdf
[6] www.kulturstaatsministerin.de/SharedDocs/Downloads/DE/2024/2024-07-01-merkblatt-honoraruntergrenzen.pdf
[7] www.kulturrat.de/honoraruntergrenzen/
[8] www.fonds-daku.de/stellungnahme-der-bundeskulturfonds-zum-haushaltsentwurf-2025/
[9] produktionshaeuser.de/aktuelles/
[10] beispielsweise diese Online-Petition www.change.org/p/an-der-freien-kunst-zu-sparen-kostet-zu-viel
[11] vgl.: Justus Duhnkrack: verfassungsblog.de/das-ist-kunst-das-kommt-weg/
[12] Die Autorin und Theatermacherin Simone Dede Ayivi diskutiert in ihrer Kolumne die Bedeutung Freier Darstellender Kunst für die Gesellschaft und die These, dass diese, im Gegensatz zu Stadt- und Staatstheatern, tatsächlich Menschen verschiedenen Alters und Biografien gewinnen: taz.de/Weniger-Geld-fuer-freies-Theater/!6025578/
[13] www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/generation-z-berufswelt-101.html
Bildung: Florian Dähne030 - 269 35 7056Florian.Daehne(at)fes.de
Arbeit: Susan Javad030 26935-8313Susan.Javad(at)fes.de
Digitalisierung: Stefanie Moser030 26935-8308Stefanie.Moser(at)fes.de