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Thomas Lux und Linus Westheuser loten aus, inwiefern Klassenbewusstsein heute mit spezifischen Wahlpräferenzen einhergeht. Sie unterscheiden dabei drei Dimensionen des Klassenbewusstseins: Klasseninteresse, Klassenidentität und das „Unten-Bewusstsein“, eine Form der subjektiven Positionierung in sozialen Statushierarchien.
Die Studie ist Teil des ProjektsKartographie der Arbeiter:innenklasse, mit dem wir eine Vermessung der (erwerbs-)arbeitenden Gesellschaft vornehmen.
Welche Partei ist der „natürliche“ Anlaufpunkt für Arbeiter:innen? Wem wird zugetraut, die Interessen von Lohnabhängigen politisch zu vertreten? Diese Fragen gehören zum klassischen Kanon der politischen Soziologie, sind aber auch für die Selbstverständigung sozialdemokratischer Parteien zentral. In unseren Tagen erlangen sie eine neue politische Virulenz. Denn was wir in jüngsten Wahlen und Umfragen beobachten, ist eine Legitimationskrise des Parteiensystems, die ihr soziales Epizentrum in der Arbeiterklasse hat. Noch deutlich mehr als im Rest der Gesellschaft erodiert hier der Rückhalt der etablierten Parteien, inklusive der Parteien links der Mitte.
Die politischen Lager der linken Mitte, der rechten Mitte und der radikalen Rechten haben ihre sozialen Hochburgen in je anderen Klassen. Arbeitgeber:innen, Kleinunternehmer:innen und Angehörige der freien Berufe, wie Anwälte oder Privatärztinnen, machen ihr Kreuz am häufigsten bei den Mitte-rechts-Parteien. Auch Managementangestellte weisen hier einen vergleichsweise hohen Wert auf. Dagegen wählen Lehrer:innen, Journalist:innen und Sozialarbeiter:innen – also Angehörige der Berufsklasse der soziokulturellen Expert:innen – mit deutlicher Mehrheit Mitte-links-Parteien. Auch unter technischen Expert:innen, wie Architektinnen und Ingenieuren, sind diese Parteien sehr beliebt.
Ebenso entsprechen die Befunde für Arbeitende in Produktion und Dienstleistung der von Daniel Oesch und Line Rennwald[1] beschriebenen Position „zwischen den Stühlen“ von Mitte-links und rechts außen. Hier zeigt sich im Vergleich eine besonders starke Neigung zur radikal rechten Wahl. AfD und Mitte-links-Parteien liegen fast gleichauf. Die Daten des FES-Projektes „Kartographie der Arbeiter:innenklasse“ bestätigen im Wesentlichen die Befunde der bisherigen Forschung. Die gegenwärtige klassenpolitische Konstellation spannt sich zwischen drei sozialen und politischen Polen auf. Wähler:innen von Mitte-links-, Mitte-rechts- und Rechtsaußen-Parteien sind in allen Klassen vertreten, die politischen Lager haben aber jeweils klar bestimmbare soziale Hochburgen: Kulturbürgertum (Mitte-links), Wirtschaftsbürgertum (Mitte-rechts) und Arbeiterklasse (rechts außen). Dabei ist die neue Arbeiter:innenklasse, bestehend aus Produktions- und Dienstleistungsarbeitenden besonders umkämpft zwischen den politischen Lagern.
Zunächst fällt auf, dass alle Formen des Klassenbewusstseins mit einer verminderten Wahlabsicht für die Mitte-rechts-Parteien einhergehen. Der Tendenz nach gilt: Je stärker sich Menschen mit der Arbeiterklasse identifizieren, je weiter unten sie sich gesellschaftlich verorten und je ausgeprägter ihr Bewusstsein für antagonistische Klasseninteressen ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie Mitte-rechts-Parteien wie CDU oder FDP wählen. Hier zeigt sich, dass eine zentrale politische Spaltungslinie des 20. Jahrhunderts auf der Bewusstseinsebene durchaus fortdauert.
Bei zwei Formen des Klassenbewusstseins, nämlich Klassenidentität und Unten-Bewusstsein, zeigt sich –, dass die verminderte Mitte-rechts-Wahl unter den Klassenbewussten nicht durch Linkswahl substituiert wird, sondern durch eine deutlich verstärkte Tendenz, radikal rechte Parteien zu wählen. Ein ähnliches Bild zeigt sich für die Selbstverortung im sozialen Raum: Hier ist der Anteil der radikal rechts Wählenden umso größer, je weiter unten sich Befragte verorten. Der Anteil für Mitte-rechts-Parteien sinkt spiegelbildlich dazu, während der Mitte-links-Anteil unverändert bleibt. Anders gesagt: Menschen mit und ohne Unten-Bewusstsein und Arbeiteridentität machen mit etwa gleicher Wahrscheinlichkeit ihr Kreuz bei Mitte-links-Parteien (angesichts der Geschichte der politischen Linken ist auch das kein trivialer Befund). Auf der rechten Seite des politischen Spektrums dagegen zeigen sich bedeutsame Unterschiede zwischen Menschen mit und ohne Klassenbewusstsein: Wer sich in der oberen Mitte verortet und rechts wählt, wählt mehrheitlich Mitte-rechts. Wer aber im gefühlten Unten und in der selbstidentifizierten Arbeiterklasse rechts wählt, landet oft auch bei der radikalen Rechten. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass die moderate Rechte dort tonangebend bleibt, wo die Legitimität des Parteiensystems intakt ist, während die radikale Rechte sich anschickt, dort zur hegemonialen rechten Kraft zu werden, wo die etablierte Politik an Legitimität verloren hat.
Interessant ist allerdings auch, dass bei Menschen mit Unten-Bewusstsein nicht nur die Rechtsaußen-Tendenzen in die Höhe schnellen, sondern auch die erklärte Absicht zur Nichtwahl. Dies deckt sich mit Studien, die einen engen Zusammenhang zwischen niedrigem Status und politischem Ausschluss dokumentieren (Elsässer/Schäfer 2023)[2]. Die Abkehr von demokratischer Einflussnahme ist unter jenen, die das Gefühl haben, am unteren Ende der Hackordnung zu stehen, besonders stark verbreitet. Diese Gruppe könnte für linke Parteien ein bisher vergleichsweise wenig beachtetes politisches Reservoir darstellen. In jedem Fall müssen sich linke Parteien die Frage stellen, warum Arbeiteridentität und Unten-Bewusstsein nicht mehr – wie seit Beginn des modernen Parteiensystems – klar links verortete Bewusstseinsformen darstellen und warum es Rechtsradikalen gelingt, diese Bewusstseinsformen zumindest in Teilen zu repräsentieren.
Sind diese Befunde für Linke eher ernüchternd, verweisen die Werte für das Arbeiterklasseninteresse auf einen Aspekt des Klassenbewusstseins, der sehr klar mit der politischen Linken verbunden bleibt. Hier sehen wir, dass mit einem Bewusstsein für antagonistische Klasseninteressen auch die Neigung zur Mitte-links-Wahl stark ansteigt. Befragte, die sich in Oben-Unten-Konflikten zwischen Arbeitgeber:innen und Arbeiternehmer:innen, Gewerkschaften und Konzernen klar mit der Seite der Beschäftigten solidarisieren, wählen deutlich häufiger linke Parteien. Weder die rechte Mitte noch die Rechtsradikalen können bei dieser Frage punkten.
[1] Oesch, Daniel; Rennwald, Line 2018: Electoral Competition in Europe’s New Tripolar Political Space: Class Voting for the Left, Centre-Right and Radical Right, in: European Journal of Political Research 57 (4), S. 783–807.
[2] Elsässer, Lea; Schäfer, Armin 2023: Political Inequality in Rich Democracies, in: Annual Review of Political Science 26, S. 469-487, doi.orghttps://doi.org/10.1146/annurev-polisci-052521-094617 (26.8.2024).
Linus Westheuser ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin und forscht zu politischen Konfliktstrukturen, Klassen und Moral.
Thomas Lux lehrt am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschung zur politischen Soziologie der Ungleichheit wurde unter anderem mit dem Preis der Fritz Thyssen Stiftung ausgezeichnet.
Linus Westheuser und Thomas Lux veröffentlichten zusammen mit Steffen Mau im Jahr 2023 das viel diskutierte und mehrfach ausgezeichnete Buch „Triggerpunkte: Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“.
Jan.Engels(at)fes.de
Westheuser, Linus; Lux, Thomas
Klasse als politischer Kompass? / Linus Westheuser und Thomas Lux ; Herausgeberin: Abteilung Analyse, Planung und Beratung. - Bonn : Friedrich-Ebert-Stiftung, 2024. - 30 Seiten = 670 KB, PDF-File. - (FES diskurs)Electronic ed.: Berlin : FES, 2024ISBN 978-3-98628-593-7https://library.fes.de/pdf-files/a-p-b/21455.pdf
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Bildung: Florian Dähne030 - 269 35 7056Florian.Daehne(at)fes.de
Arbeit: Susan Javad030 26935-8313Susan.Javad(at)fes.de
Digitalisierung: Stefanie Moser030 26935-8308Stefanie.Moser(at)fes.de