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Welche Strukturen in Wissenschaft und Forschung braucht ein starkes Europa?

Kurzbericht über das Forum 2 in der Veranstaltungsreihe "Ein starkes Europa braucht eine starke Wissenschaft"

 

Wie müssen europäische Strukturen von Wissenschaft und Forschung ausgestaltet sein, um ein starkes Europa zu befördern und die gesellschaftlichen Herausforderungen in Gegenwart und Zukunft bearbeiten zu können? Diese Frage stand im Fokus des zweiten Forums der FES-Konferenz „Ein starkes Europa braucht eine starke Wissenschaft“
 

Europäischer Forschungsraum und „Horizont Europa“

Von zentraler Bedeutung ist die EU-Strategie des Europäischen Forschungsraums (European Research Area) mit dem Ziel, die wissenschaftlichen und technologischen Kapazitäten in Europa zu bündeln und einen Raum zu schaffen, in dem sich Forschende frei bewegen, Wissen und Technologien frei zirkulieren können. Ein wichtiges Instrument zur Umsetzung dieser Ziele ist das 9. EU-Rahmenprogramm für Forschung und Innovation „Horizont Europa“ (2021–2027). Hier werden mit  EU-Mitteln konkrete Forschungs- und Innovationsprojekte unterstützt, die in Zusammenarbeit von EU-Mitgliedstaaten und weiteren Partnern weltweit durchgeführt werden. Gefördert werden Wissenschaftsexzellenz, die Bearbeitung globaler Herausforderungen und die Sicherstellung der industriellen Wettbewerbsfähigkeit Europas sowie ein Innovatives Europa. Zudem sollen die Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger_innen (Bürgerwissenschaften) ausgeweitet werden. Ein neues Element ist der Europäische Innovationsrat (EIC), um Innovationen bei der Markteinführung zu unterstützen, sowie die Einführung von fünf Missionen, um europaweit Themenbereiche interdisziplinär zu bearbeiten. Unter der Überschrift der IPCEIs (Important Project of Common European Interest) werden europaweit strategische Vorhaben gefördert, die von besonderem europäischen Interesse sind. Bedingung ist, dass die Projekte Beiträge zu den strategischen Zielen der EU leisten und von mehreren Mitgliedsstaaten durchgeführt werden. Ein besonderer Stellenwert nehmen Forschung und Innovation ein. Beispiele sind die Erforschung und Anwendung von Wasserstofftechnologien oder die Batterieförderung, an denen Deutschland jeweils beteiligt ist.

Die EU-Kommission strebt Synergieeffekte zwischen EU-Programmen an, z.B. zwischen Horizont Europa und europäischen Struktur- und Innovationsfonds, mit denen strukturschwache Länder und Regionen gezielt gefördert werden.

Forschung und Innovation im Europäischen Forschungsraum sollen künftig verstärkt die grüne und digitale Transformation sowie die technologische Souveränität Europas befördern, sich am Prinzip des Multilateralismus orientieren sowie Solidarität innerhalb Europas in den Vordergrund stellen. Hinzu kommt die Ausweitung von Open Science, um mehr Effektivität und Exzellenz in der Forschung zu unterstützen.
 

Mehr Informationen über das Programm Horizont Europa erhalten Sie hier
 

Schlüsselrolle von Hochschulen und Forscher_innen

Stefaan Hermans, Direktor für Politische Strategie und Evaluierung in der Generaldirektion für Bildung, Jugend, Sport und Kultur bei der Europäischen Kommission, betonte die große Bedeutung einer starken Vernetzung von Bildung, Forschung und Innovation, um eine grüne, digitale, inklusive und resiliente Zukunft für Europa sicherzustellen. Die Hochschulen seien zentrale Akteure des Wandels, weil sie eine Schlüsselrolle bei der Bearbeitung der gesellschaftlichen Herausforderungen und bei der Ausbildung wissenschaftlicher Talente hätten. Das European Institute of Innovation and Technology (EIT) unterstütze Hochschulen dabei, ihr Innovationspotenzial zu heben, indem „Wissens- und Innovationsgemeinschaften“ integriert werden: Hochschulen würden dabei zu Zentren von erfolgreichen innovativen Ökosystemen, die auf einer starken Vernetzung und einem gemeinsamen Gestaltungsprozess von Akteuren aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft beruhen. Damit könnten Ergebnisse aus Wissenschaft und Forschung direkt in Innovationsideen überführt werden. Hermans betonte, dass die Kompetenzen von Forscher_innen nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Wirtschaft gebraucht werden. Nach zehn Jahren sei mit dem EIT eine der erfolgreichsten Innovations-Communities in der Welt geschaffen worden.

Mit den Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahmen (MSCA) als Teil von Horizont Europa fördert die EU auch die internationale und sektorübergreifende Karriere von Wissenschaftler_innen, u.a. durch Individual Fellowships, Mobilitäts- und Doktorand_innenprogramme). Dadurch sollen wissenschaftliche Laufbahnen am Forschungsstandort Europa attraktiver gestaltet und ein großer Pool von qualifizierten europäischen Forscher_innen geschaffen werden, die kollaborativ, interdisziplinär und intersektional zusammenarbeiten können – und somit über wichtige Kompetenzen verfügen, um die großen gesellschaftlichen Herausforderungen zu bearbeiten und Spitzenpositionen einzunehmen. Attraktive Forscherkarrieren schließen nach Hermans Karriereentwicklung, attraktive Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, aber auch Work-Life-Balance und Gender-Gleichstellung ein. Die Plattform EURAXESS-Researchers bietet dafür einen wichtigen Baustein, u.a. durch eine Forscher_innendatenbank, Informationen über Karrierechancen und weitere Unterstützungsangebote.
 

Solidarität und Exzellenz in Europa

Dr. Ernst Dieter Rossmann, Mitglied des Bundestags und dort Vorsitzender des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, wies darauf hin, dass das mit der Lissabon-Strategie gesetzte Ziel im Jahr 2000, die Ausgaben für Forschung und Entwicklung europaweit auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu steigern, immer noch nicht erreicht worden ist. Hier zeige sich ein Problem der mangelnden Kohäsion in Europa: Nur wenige Länder erreichten mehr als drei Prozent, acht Länder noch nicht einmal ein Prozent. Nach Rossmann braucht es dringend Maßnahmen, um allen Ländern in Europa einen schrittweisen Aufbau in Forschung und Innovation zu ermöglichen und dafür zu sorgen, dass Europa in der Forschungs- und Innovationskraft nicht immer weiter auseinanderfällt. Von den Mitteln für Forschung und Innovation in Europa würden nur etwa 10 Prozent auf europäischer Ebene und etwa 90 Prozent auf nationaler Ebene aufgebracht.

Hermans merkte dazu an, dass die EU die Kluft der Innovations- und Forschungstätigkeit zwischen den EU-Mitgliedstaaten mit verschiedenen Maßnahmen zu schließen versucht, z.B. mit einem zusätzlichen Budget in Horizont Europa. Aber auch die Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahmen könnten dazu beitragen, indem die Karriereentwicklung von exzellenten Forscher_innen unabhängig von der regionalen Zugehörigkeit unterstützt wird, was Brain Circulation befördere. Da Forschung und Innovation in Europa aber überwiegend auf nationaler Ebene finanziert werde, so Hermans, könne die EU nur als Unterstützer und Ermöglicher agieren und durch gezielte Förderung Anreize setzen.

Auch für Prof. Dr. Jan Palmowski, Generalsekretär von „The Guild of European Research-intensive Universities“ ist eine Balance von Solidarität und Exzellenz im Europäischen Forschungsraum von großer Bedeutung. Bisher profitierten die EU-Mitgliedsländer sehr unterschiedlich von den Fördermaßnahmen. So zeige sich z.B. ein Gefälle zwischen West- und Osteuropa bei der Beteiligung an Horizont 2020 oder bei der Einwerbung von ERC-Grants für Spitzenforscher_innen. Im Nachfolgeprogramm Horizont Europa sei zwar eine gezielte Förderung von Ländern vorgesehen, die im Bereich Forschung und Innovation zurückliegen, doch würden mögliche positive Effekte durch mangelnde Synergien mit anderen EU-Strukturprogrammen wieder aufgehoben: So könnten Universitäten ab 2021 die Regional- und Strukturförderung nicht mehr für Grundlagenforschung und für den Aufbau von damit verbundenen Infrastrukturen einsetzen, was für schlecht ausgestattete Universitäten große Probleme mit sich bringe. In den meisten EU-Ländern seien in den letzten Jahren die Universitätsbudgets gemessen an den Studierendenzahlen real gesunken, was sehr kritisch zu sehen sei, da an Universitäten die wichtige Forschung stattfinde, um gesellschaftliche Zukunftsaufgaben zu bearbeiten. Das hätten nicht zuletzt die Impfstoffe gegen Corona gezeigt, deren Grundlagen in der universitären Forschung entwickelt wurden.
 

Stärkere Vernetzung des Europäischen Forschungs- und Bildungsraums

In der Diskussion bestand Konsens, dass der Europäische Forschungsraum und der Europäische Bildungsraum in Zukunft enger vernetzt werden muss. Dazu soll auch die künftige „Europäische Strategie für Hochschulen“ beitragen, die die Europäische Kommission Ende 2021/22 vorlegen will. Die Europäischen Hochschulallianzen nehmen dabei einen wichtigen Stellenwert ein, da sie als „Vorreiter“ einer Transformation gesehen werden (-> Forum 1), indem Hochschulbildung, Forschung und Innovation durch eine intensive Kooperation eng verknüpft wird. 

Auch Laura Loew, Studentin und Mitglied im Bundesvorstand der Juso-Hochschulgruppen, betonte die wichtige Rolle der Hochschulallianzen, da sie als Laboratorien wirken könnten, um einem gemeinsamen, vollkommen integrierten Europäischen Hochschulraum näherzukommen. Loew stellte Forderungen zur dauerhaften Ausgestaltung der Allianzen vor, die in einem Arbeitskreises der Juso-Hochschulgruppen mit dem Verband sozialistischer Student_innen Österreichs (VSStÖ) entwickelt wurden: In ihrer Vision eines Europäischen Hochschulraums sollte die uneingeschränkte Mobilität zwischen allen Standorten, die Belegung von Kursen an jeder Hochschule, die unkomplizierte Anerkennung von Studienleistungen und der internationale Austausch auf allen Ebenen der akademischen Laufbahn möglich sein. Für die Allianzen sollten künftig einheitliche Standards für einen gemeinsamen Rahmen gesetzt werden.

Eine zentrale Forderung der Studierenden lautet, in allen Europäischen Hochschulallianzen einen demokratischen Prozess der studentischen Beteiligung zu institutionalisieren, um Studierenden eine verbindliche Mitsprache zu gewährleisten. Eine weitere Forderung ist die Vereinheitlichung von Lehrveranstaltungen, sodass an jeder beteiligten Hochschule Kurse belegt werden können, die an der Stammuniversität als Studienleistungen angerechnet werden können. Vorlesungen in Grundlagenfächern könnten digital an wenigen Hochschulen angeboten werden, um dadurch freigewordene Kapazitäten in einer intensiven Betreuung in Präsenzseminaren einsetzen zu können. Gefordert wird auch eine Angleichung der Studien- und Hochschulfinanzierung, die Studiengebührenfreiheit und eine auskömmliche Studienfinanzierung einschließt. Für mehr Inklusivität und Diversität müssten Barrieren abgebaut werden, z.B. durch spezifische digitale Angebote für Personen mit Einschränkungen. Den Studierenden sollte so viel Mobilität wie möglich innerhalb der Allianzen ermöglicht werden – sowohl virtuell als auch vor Ort. Zunächst könnten die Schritte auf der Ebene der Allianzen organisiert werden, später auf gesamteuropäischer Ebene. In die Allianzen sollten unbedingt auch Hochschulen für Angewandte Wissenschaften und Hochschulen aus strukturschwächeren Ländern aufgenommen werden. Es müsse darauf geachtet werden, dass keine Elitenetzwerke entstehen, meinte Loew.
 

Zukunftsfähige Strukturen

In einem zukunftsfähigen Europäischen Forschungs- und Bildungsraum ist nach Ansicht von Palmowski eine finanzielle Stärkung der Universitäten unverzichtbar, damit sie ihre zunehmenden Aufgaben angemessen erfüllen können. Auch sollten mehr Forschungsnetzwerke/-zentren in Themenbereichen eingerichtet werden, in denen Europa führend ist, um europäische Stärken zu bündeln und eine bessere strategische Position im globalen Wettbewerb zu erreichen. Wichtig wäre auch eine bessere Vereinbarkeit zwischen nationalen und europäischen Strukturen sowie eine strukturelle Neuausrichtung in globalem Rahmen, z.B. bei Kooperationen außerhalb Europas.

Rossmann merkte an, dass die große Zahl und differenzierte Vielfalt der Instrumente im Europäischen Forschungsraum kaum noch zu durchdringen ist. Notwendig sei deshalb eine Bündelung derverschiedenen Instrumente, um mehr Übersicht zu erreichen und Platz für neue notwendige Instrumente zu schaffen, z.B. eine stärkere Förderung von Forschungsuniversitäten oder der Forschung an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften. Um das wichtige Ziel einer Stärkung der Bürgerwissenschaften in Europa umzusetzen, müssten die Fördermaßnahmen der Europäischen Union mit klaren Botschaften versehen und mit eingängigen Namen belegt werden. Das könnte entscheidend dazu beitragen, den Bürger_innen jenseits von Technokratie eine Identifikation mit Europa zu ermöglichen und sie dafür zu begeistern, sich an der Gestaltung von Forschung und Innovation auf europäischer Ebene zu beteiligen.

 

 

Autorin

Angela Borgwardt

Ansprechpartner

Martin Pfafferott
martin.pfafferott@fes.de
030-26935-7056

Friedrich-Ebert-Stiftung

Hiroshimastraße 17
10785 Berlin – Tiergarten
Haus 1

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