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Ein Blick auf Utopien hilft, um Debatten anzuregen, warum wir in Zukunft nicht unbedingt weniger arbeiten, aber Arbeit neu verstehen müssen.
Vor 100 Jahren hat der britische Ökonom John Maynard Keynes die Utopie formuliert, dass Menschen in 100 Jahren nur 15 Stunden pro Woche arbeiten müssten. Dank des technischen Fortschritts bräuchten sie nicht mehr Zeit, um ihren Lebensstandard zu halten. In der Tat: Technik hat Arbeit revolutioniert. Aber sie hat Arbeitszeit nicht so verkürzt, wie Keynes es sich dachte: Aktuell gilt für die meisten Vollzeiterwerbstätigkeiten die 40-Stundenwoche als Richtwert. Im Vergleich zum 19. Jahrhundert hat sich die Zahl zwar halbiert. Doch seit Jahrzehnten stagniert sie mehr oder minder. Und aktuelle Forderungen nach einer 35- oder 32-Stunden-Woche zeigt, dass es noch ein weiter Weg bis zu einer 15-Stunden-Woche ist. Wenn sie denn überhaupt jemals kommt.
Keynes Utopie ist nicht aufgegangen. Viele Faktoren hat er nicht einkalkuliert, die sich damals für ihn noch nicht abgezeichnet haben, etwa die Globalisierung und den internationalen Wettbewerb. Oder die soziale Ungleichheit, durch die es sich viele nicht leisten können, weniger zu arbeiten und ihre vermeintliche Freizeit zu genießen, wohingegen andere nach immer mehr Reichtum streben. Außerdem hat Technik nicht nur Jobs ersetzt, sondern auch neue geschaffen. Arbeitswelten verändern sich. Dazu gehört, dass heute mehr Frauen als früher Berufe ausüben und Tätigkeiten zu Arbeitsplätzen geworden sind, die Frauen lange unentgeltlich geleistet haben. Noch immer gibt es Arbeit, die ökonomisch nahezu unsichtbar ist, etwa die Pflege des Haushalts. Und die Debatten fangen gerade erst an, wie sich künstliche Intelligenz auf die Arbeitswelt auswirken wird. Die Kraft der Utopie ist es, Möglichkeiten auszuloten. Sie soll ein Denkanstoß sein. Die folgenden fünf Denkanstöße zeigen, wie sich Arbeit in Zukunft verändern kann:
Statistiken ermitteln die durchschnittliche Wochenarbeitszeit. Gesetze definieren, wie lang ein Arbeitstag sein darf. Das bezieht sich nur auf den Beruf. Viele Menschen arbeiten aber auch, um den Haushalt zu führen, die Familie zu pflegen oder den Garten. Das bringt ihnen keinen Lohn. Und genau darum wird es oft nicht als Arbeit definiert. Zumindest bisher. In Debatten über Gleichberechtigung mischt sich die Forderung nach einem Modell, das Arbeit neu definiert und alle Tätigkeiten miteinbezieht, die zur Produktion und Existenzsicherung der Gesellschaft beitragen. So ein Modell ist das bedingungslose Grundeinkommen, ein Gehalt unabhängig vom Beruf. Barbara Prainsack gehört zu den Verfechterinnen: Es würde Ungleichheiten bekämpfen und die Situation vieler Menschen verbessern, die aktuell hart arbeiten, aber nur wenig verdienen, sagt die Autorin und Politikprofessorin aus Wien.
Ob für Vereine oder Parteien: Demokratien sind darauf angewiesen, dass sich Bürger:innen engagieren. Über 16 Millionen Ehrenamtliche gab es im Jahr 2023 laut Allensbacher Markt- und Werbeträgeranalyse in Deutschland. Auch diese Arbeit wird in der Regel nicht entlohnt. Sie kann aber stärker gefördert und anerkannt werden, indem Ehrenamtliche Punkte für ihr Rentenkonto sammeln. Auch das ist eine Utopie: Politische Arbeit wie das Engagement in einer Partei, für Bildung oder Veranstaltungen könnte dann ebenfalls mit Demokratiepunkten entlohnt und für die staatliche Rente anerkannt werden.
Laut Duden ist Wohlstand die Wohlhabenheit, die einer Person „wirtschaftliche Sicherheit“ gibt. Wohlstand definiert sich also über Geld. Der neue Luxus ist Zeit: Umfragen zeigen, dass Vollzeitbeschäftigte kürzer arbeiten wollen. Die Belastung im Job ist hoch, der Stress nimmt zu. Arbeit hat sich verdichtet. Dazu kommen familiäre, freundschaftliche und ehrenamtliche Verpflichtungen, die ebenfalls Zeit erfordern. Neue Arbeitszeitmodelle sollen Menschen entlasten, etwa die Vier-Tage-Woche, bei der Mitarbeitende ihre Arbeitszeit umverteilen oder reduzieren, ohne auf Gehalt zu verzichten. Studien zeigen, dass das Produktivität steigern kann. Und für viele, insbesondere jüngere Beschäftigte ist dieses Modell mittlerweile ein Kriterium, um sich für einen Arbeitgeber und damit eine Stelle zu entscheiden. Schon Keynes träumte von der Freizeitgesellschaft, sagte aber „Nervenzusammenbrüche“ voraus, weil die Gesellschaft sich darauf erst einstellen müsse. Ob die Zeit am Ende frei ist oder für andere Aufgaben genutzt wird: In Zukunft muss es mehr jenseits der Lohnarbeit geben.
Im Jahr 2021 haben viele Arbeitskräfte gekündigt, weil sie sich nicht in ihrem Job wohlfühlen. Allein in den USA waren das 48 Millionen Menschen. Die Ansprüche an Arbeitgeber steigen. Nach der „Great Resignation“ (große Kündigung und Resignation) zeigen Studien, dass viele Menschen in die „innere Kündigung“ gehen und nur noch Dienst nach Vorschrift machen. Das muss nicht sein: Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass neue Modelle der Erwerbsarbeit funktionieren. Die Interessen der Arbeitnehmenden haben eine größere Rolle gespielt. Dank Technik und Digitalisierung ist mehr Flexibilität möglich. Was sich in der Pandemie gezeigt hat, wird in Zukunft zunehmen: Gerade da sich der Wert von Erwerbsarbeit relativiert, müssen Arbeitgeber sie so organisieren, dass sie die Interessen der Arbeitskräfte berücksichtig. Dafür kann Technik und Digitalisierung eine entscheidende Rolle spielen, wie sich gerade an der Daseinsvorsorge zeigt.
Keynes dachte vor 100 Jahren, dass Technik Berufe verändert und ersetzt. Der Bedarf an Arbeit hat durch die Automatisierung aber nicht abgenommen. Im Gegenteil: Es herrscht ein Fachkräftemangel, der in den nächsten Jahren sogar noch steigen wird. Neue Hoffnung ruht auf künstlicher Intelligenz (KI): Sie soll Aufgaben übernehmen. Nach der Automatisierung, die sich auf Produktion bezog, trifft es jetzt verstärkt Wissensarbeit: bei der Bankberatung zum Beispiel, in der Logistik oder Kommunikation. Sie kann und muss aber auch genutzt werden, um wichtige Berufe attraktiver zu machen, indem sie Menschen entlastet. Das gilt vor allem für die Daseinsvorsorge, etwa in der Verwaltung, Pflege, Bildung oder Stadtreinigung. Automatisierung, ob mit KI oder ohne, muss diese Berufe und die Beschäftigten, die sie ausführen, stützten. Und die Gesellschaft muss sie aufwerten – auch finanziell – , weil sie sich nicht vollständig automatisieren lassen und wirklich systemrelevant sind.
Der Text basiert auf einer Veranstaltung der DenkArt-Reihe in Berlin. Sie ist ein öffentlichkeitswirksames Kulturdebatten-Format der Friedrich-Ebert-Stiftung. Am 29. November 2023 diskutierten die Politikwissenschaftlerin und Autorin Barbara Prainsack, der Bundestagsabgeordnete Mathias Papendieck (SPD) sowie der Sozialwissenschaftler und Autor Christian Kellermann zusammen mit Mirjam Stegherr (Moderatorin) über Utopien einer neuen Arbeitskultur (zum Rückblick). Die Veranstaltung war eine Kooperation mit dem Projekt Zeitenwende – Kongress der Utopien.
Mirjam Stegherr
Mirjam Stegherr ist Journalistin, Moderatorin und Beraterin für Kommunikation. Sie war Sprecherin für Verbraucherschutz und Mitglied im Aufsichtsrat von Wikimedia. Seit vielen Jahren beschäftigt sie sich intensiv mit der Frage, was gute Arbeit ist, unter anderem in Beiträgen für das Magazin Human Resources Manager.
Beitrag der Reihe "Wirtschaft weiter denken aus junger Perspektive" von Sören Hellmonds, Rosanna Düring und Paul Roßmüller
Beitrag der Reihe "Wirtschaft weiter denken aus junger Perspektive" von Steffen Verheyen und Carl J. Niederste Frielinghaus
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Jochen Dahm
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